Ökonomische Analyse des Rechts

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Die ö. A. d. R., auch „Law and Economics“, verwendet wirtschaftswissenschaftliche Methoden für das Verständnis der Entstehungsbedingungen, Entwicklung und Wirkungen von Rechtsnormen. Ihre Grundlagen wurden in den 60er und 70er Jahren in den USA von Rechtswissenschaftlern und Wirtschaftswissenschaftlern gelegt, insb. von Ronald Harry Coase, Richard Allen Posner, Guido Calabresi, Gary Stanley Becker und Oliver Eaton Williamson. Die Forschungsergebnisse enthalten sowohl analytische Aussagen über die Funktionsbedingungen und Wirkungen des Rechts als auch normative Aussagen über dessen erwünschte und unerwünschte Effekte. Seit den 1990er Jahren hat die empirische Forschung unter Verwendung statistischer Methoden erheblich zugenommen. Hinzu kommen Einflüsse der verhaltensökonomischen Laborforschung(Verhaltensökonomik), welche die zumeist verwendeten Modelle ökonomischen Rationalverhaltens (Rational Choice Theory) in Frage stellen.

1. Transaktionskosten

R. H. Coase wies auf die wichtige Tatsache hin, dass Verträge nicht kostenlos sind. Vielmehr fallen bei deren Anbahnung, Abschluss und Durchsetzung, z. B. für Vertragsjuristen, Transaktionskosten an. R. H. Coase bezeichnete diese als den „Stolperstein“ für das Verständnis von Rechtsnormen, die dem Güter- und Leistungsaustausch dienen und die Kompetenzen bei der Nutzung von Ressourcen festlegen. Wollen Parteien einen Vertrag schließen, dessen gemeinsamer Gewinn ohne Transaktionskosten eins ist, so kann dieser Vertrag für gewinnorientierte Akteure nur dann zustande kommen, wenn die Transaktionskosten kleiner als eins sind. Bei Transaktionskosten von null wird jede Transaktion, die zur Werterhöhung bzw. ökonomisch überlegenen Nutzung einer Ressource führt, auch tatsächlich realisiert. Nach Abschluss aller Transaktionen sind alle win-win Möglichkeiten realisiert und niemand kann sich mehr besser stellen, ohne dass ein anderer schlechter gestellt wird. Dieses Ergebnis wird unter den Bedingungen freien und kostenlosen Tauschs stets erreicht, unabhängig davon, wie die Rechtsordnung Handlungsrechte (property rights) festlegt (Coase Theorem). Bei hohen Transaktionskosten verlieren viele derartige Transaktionen dagegen ihre „Win-Win-Eigenschaft“, unterbleiben daher und Ressourcen gelangen nicht in die Hände derer, die sie am höchsten bewerten. Es entstehen Effizienzverluste. Es stellt sich dann die Frage, wie die Rechtsordnung auf hohe Transaktionskosten reagieren soll.

2. Der Calabresi/Posner Vorschlag

Rechtspolitisch führte diese Einsicht zur Forderung, Rechtsnormen klar zu spezifizieren und die Übertragbarkeit von Rechten kostengünstig zu gestalten. R. A. Posner, G. Calabresi/A. Douglas Melamed u. a. zogen die Schlussfolgerung, bei prohibitiv hohen Transaktionskosten solle die Rechtsordnung Handlungsrechte so zuordnen, dass sie die höherwertige Nutzung einer Ressource ohne privatautonome Vereinbarung direkt und unmittelbar ermöglicht. Bei hohen Transaktionskosten kann Eigentum aus dieser Sicht kein starres, aus philosophischen Prinzipien der Aufklärung allein ableitbares natürliches Recht sein, das alle Kompetenzen von Personen über Sachen originär festlegt und es den Marktteilnehmern allein überlässt, wie sie nach Abschluss von Verträgen die durch Eigentum gebundenen Ressourcen tatsächlich verwenden. Eigentum besteht dann vielmehr aus einem zeitlich variablen Bündel von Handlungsrechten. Dessen Zusammensetzung ändert sich unter der Einwirkung technischer oder ökonomischer Bedingungen. Andernfalls wird es dysfunktional und kann der ökonomischen Entwicklung im Wege stehen, wenn hohe Transaktionskosten die ökonomische Entwicklung behindern oder unmöglich machen. Dies ist ein Plädoyer für Rechtsregeln, die den Markt imitieren (market mimicking rules). Konzeptuell erfüllen damit Normen des Zivilrechts und des wirtschaftlichen Regulierungsrechts die gleiche Funktion.

3. Variable Architektur von Rechten nach Calabresi

Wie G. Calabresi und A. D. Melamed darlegten, sollten absolute Rechte idealerweise zwar durch Abwehrrechte geschützt sein. Denn dies allein garantiert, dass das absolute Recht oder ein an ihm hängendes Nutzungsrecht freiwillig übertragen werden kann. Es gelangt dann über eine „win-win Transaktion“ oder Pareto-Verbesserung (wenn der Vertrag keine negativen Drittwirkungen aufweist) in die Hände desjenigen, der es am höchsten bewertet. Wenn aber die Transaktionskosten für Verträge zur Nutzung fremden Eigentums prohibitiv hoch werden, kann es geboten sein, die freiwillige Transaktion durch eine Zwangstransaktion zu ersetzen, d. h. das Abwehrrecht durch einen reinen Schadensersatzanspruch. Dies gewährleistet bei vollem Schadensersatz immer noch, dass die Beeinträchtigung eines Rechts durch Dritte nur dann stattfindet, wenn die wirtschaftliche Aktivität des Störers genügend Gewinn abwirft um daraus alle Schäden zu ersetzen und noch ein Nettogewinn übrig bleibt.

4. Rechtshistorisches Beispiel, Industrialisierung und die Weiterentwicklung der actio negatoria

Dass hohe Transaktionskosten eine Rechtfertigung von Regulierungsrecht und von Inhaltsänderungen absoluter und relativer Rechte sein sollten, ist ein umstrittener Vorschlag. Dessen überragende Relevanz sei anhand einer Entwicklung illustriert, an welcher Rudolf von Jhering sich mit Argumenten beteiligte, welche die Einsichten von R. H. Coase, R. A. Posner und G. Calabresi weitgehend vorweg nahmen. Seit der frühen Industrialisierung stiegen Emissionen mit schädlichen Auswirkungen auf landwirtschaftliche oder bewohnte Gebiete sprunghaft an. Die Rechtsordnung wies damals dem Grundstückseigentümer ein umfassendes Abwehrrecht zu. Immissionen galten als „Zwangsservitut“, die der Grundstückseigentümer nicht ohne vertragliche Vereinbarung hinnehmen musste. Er konnte sie abwehren, notfalls durch Stilllegung der Industrieanlage. Bei Transaktionskosten von null hätte diese Norm gleichwohl keine Behinderung der industriellen Entwicklung zur Folge haben können. Denn die Fabrikanten hätten dann aus ihren Erträgen sämtliche Grundstückseigentümer voll entschädigen und gleichwohl einen Gewinn übrig behalten können. Unterbleibt dagegen der Ankauf von Servituten, ist dies nur eine vom Markt erteilte Bestätigung, dass die alte, unbeeinträchtigte Nutzung der Nachbargrundstücke gegenüber der neuen industriellen Nutzung die ökonomisch überlegene ist. R. von Jhering argumentierte damals zur Verteidigung der umfassenden Geltung des Abwehrrechts: „Dann mögen [die Fabrikanten] […] von den benachbarten Grundeigenthümern die erforderlichen Servituten aquiriren und dieselben für die Nachtheile, die sie ihnen zufügen, entschädigen“ (von Jhering 1862: 127). Das entspricht genau dem, was bei Transaktionskosten von Null und wirtschaftlicher Überlegenheit der industriellen Nutzung auch geschehen würde. Tatsächlich erwies sich wegen der Transaktionskosten mit unübersehbar vielen Veto-Spielern um jede industrielle Anlage herum der Markt als zu schwach, um dieses Ergebnis zu generieren. Das Abwehrrecht wurde in seiner damaligen Form zum Hindernis nicht nur der industriellen, sondern auch der ökonomischen Entwicklung überhaupt. Nachdem diese Einsicht gereift war, reagierte die Rechtsordnung mit Regulierungsrecht und Änderungen des überkommenden Sachenrechts an Grundstücken ganz entspr. den heutigen Erwägungen von R. A. Posner und G. Calabresi. Nach der GewO des Norddeutschen Bundes von 1866 konnte das Abwehrrecht nicht mehr ausgeübt werden, wenn die Anlage behördlich genehmigt war. Im Kaiserreich hat das Reichsgericht das Abwehrrecht weiter eingegrenzt und durch differenzierte Duldungspflichten, Rücksichtnahmegebote und reine Schadensersatzansprüche ersetzt. Es ist bemerkenswert, dass R. von Jhering an dieser Entwicklung Anteil nahm und eine explizite direkte Zweckorientierung des Rechts einforderte. Später sprach er sich für einen Interessenausgleich mit der Industrie und für die Anwendung haftungsrechtlicher Lösungen (Haftung) aus.

5. Klassisch liberale Kritik

Die Charakterisierung von Normen des Zivilrechts und großer Teile des Regulierungsrechts als verlängerten Arm des Marktes, die nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten und ihrem Gemeinwohlbeitrag (Gemeinwohl) spezifiziert und abgeändert werden, ist unter Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern umstritten. Insb. Autoren, die sich auf die klassische liberale Tradition von John Locke über Immanuel Kant bis Friedrich August von Hayek berufen, lehnen die Vorstellung ab, das Recht könne durch explizite Zweckorientierung, durch Kosten-Nutzen Erwägungen und Feinjustierungen von Handlungsrechten Marktergebnisse simulieren, anstatt sie tatsächlich geschehen zu lassen. Dies setze ein Wissen voraus, das nicht gegeben oder herstellbar sei, insb. nicht bei Gerichten. Die Effizienz der Ressourcennutzung sei zwar ein wichtiges rechtspolitisches Ziel. Sie könne aber nur als Ergebnis tatsächlich stattfindender Markttransaktionen ex-post in einer freiheitsverbürgenden Eigentums- und Vertragsordnung erreicht werden. Sie könne nicht ex-ante geplant werden. Schon gar nicht könne das Effizienzkriterium zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit eingesetzt werden. In Deutschland ist insb. Ernst-Joachim Mestmäcker als Kritiker des von R. A. Posner und G. Calabresi initiierten Ansatzes hervorgetreten. Man kann ohne weiteres zugestehen, dass die Zurückweisung einer explizit am ökonomischen Zweck des Rechts orientierten Rechtsauffassung ohne die Möglichkeit zuverlässiger Prognosen zwingend wird. Dann ist auch eine Rechtsdogmatik (Dogmatik), die sich stärker von der Teleologie des Normbestands leiten lässt, unmöglich. Das rechtliche Argument bleibt dann zwingend formalistisch, begriffsjuristisch und systematisch. Begriff und System enthalten dann implizit alles akkumulierte Wissen über Zwecke und Wirkungen des Rechts und ein explizites teleologisches Argument ist nicht möglich oder beruht nur auf einer Wissensanmaßung. Beide Richtungen, die Mestmäckersche Position vom Recht als liberalem Ordnungsrahmen und die von R. A. Posner und G. Calabresi von der Rolle des Rechts als verlängertem Arm des Marktes mit variabler Architektur unterscheiden sich daher im Kern nicht durch unterschiedliche Vorstellungen von den Intentionen des Normgebers. Der Unterschied besteht im Grad an Zuversicht in die Möglichkeit zuverlässiger Prognosen über die Wirkungen von Normen und Normänderungen, die bei hohen Transaktionskosten Marktergebnisse simulieren sollen. Diese Möglichkeiten sollten heute allerdings höher eingeschätzt werden als zu Zeiten, in denen es weder leistungsfähige sozialwissenschaftliche und ökonomische Theorien noch umfangreiche Datensätze noch Computer noch statistische und ökonometrische Methoden (Ökonometrie) gab.

6. Neuere Entwicklungen und „behavioral law and economics“

Die ö. A. d. R. war von Beginn an nicht auf das Zivilrecht beschränkt, hatte aber dort und im Bereich der öffentlich rechtlichen Wirtschaftsregulierung ihren Schwerpunkt. Später entstanden wichtige Beiträge zum Verfassungsrecht und Völkerrecht. Dabei wird üblicherweise die Orientierung am marktimitierenden Effizienzkonzept aufgegeben. Denn offensichtlich ist im Staatsrecht eine größere Vielfalt rechtspolitischer Maximen als im Wirtschaftsrecht anzutreffen und geboten. Ökonomietheoretische und empirische Analysemethoden werden aber auch hier verwendet. Die Unabhängigkeit der Richter, die faktischen Bestimmungsgründe und Grenzen der Macht oberster Gerichte, das Mehrheitswahlrecht gegenüber dem Verhältniswahlrecht, die parlamentarische im Vergleich zur präsidentiellen und die direkte gegenüber der parlamentarischen Demokratie, internationale Konventionen gegenüber bilateralen völkerrechtlichen Verträgen sind Gebiete, auf denen wichtige, neue und nicht intuitive Forschungsergebnisse entstanden.

Großen Einfluss hat die Verhaltensforschung, die mit Befunden aus Laborexperimenten die für die Wirtschaftswissenschaft zentrale Annahme des Rationalverhaltens (rational choice) und des homo oeconomicus in Frage stellt. Die verhaltensökonomische Forschung wies nach, dass Versuchspersonen in Entscheidungssituationen nicht zufällig nach allen Richtungen vom Rationalverhalten abweichen. Vielmehr sind die Abweichungen typisch und gehen in bestimmte, vorhersagbare Richtungen. Menschen sind nach diesen Forschungsergebnissen in ihren Entscheidungen irrationaler und manipulierbarer als weithin angenommen. Was dies für die weitere Entwicklung des Forschungsgebiets „Law and Economics“ bedeutet, kann heute noch nicht eindeutig beurteilt werden. Einerseits sind die verhaltensökonomischen Forschungsergebnisse unerwartet und herausfordernd. Andererseits handelt es sich bisher weitgehend noch um eine Kollektion von empirisch im Labor generierten Ergebnissen, nicht bereits um ein neues Verhaltensmodell, das die Wirtschaftswissenschaft oder gar die Rechtswissenschaft an die Stelle überkommender Modelle und Menschenbilder setzen könnte. Es entstand aber eine umfangreiche Literatur, die statt mit dem homo oeconomicus mit verschiedenen Varianten eingeschränkter Rationalität und/oder eingeschränktem Egoismus arbeiten.

Eine Richtung innerhalb der ö.n A. d. R. setzt unter dem Einfluss der Verhaltensökonomie auf mehr Paternalismus im Recht. Cass Robert Sunstein und Richard H. Thaler haben das Konzept des nudging (anstupsen) vorgeschlagen, das Menschen vor sich selbst und ihrer Irrationalität stärker schützen soll, ohne in ihre Autonomie einzugreifen und ohne materielle Anreize zu vermitteln. Andere, so wie u. a. Gerd Gigerenzer, halten dies für problematisch, für einen Bruch mit den Ideen der Aufklärung und setzen auf bessere Bildung und Training.

Dass die verhaltensökonomische Forschung das rational choice und homo oeconomicus Modell schnell ganz ablösen könnte, scheint eher unwahrscheinlich. Daniel Kahneman selbst warnte davor, diese Annahme für die Wirtschaftswissenschaft aufzugeben, da sie in vielen Fällen zu guten Approximationen bei der Erklärung ökonomischer Prozesse führe.