Kameralismus

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Der K. wird in der älteren Forschung bisweilen als „deutsche Variante des Merkantilismus“ bezeichnet. Kameralistisches Denken hat es nach neuerem Kenntnisstand aber in fast allen europäischen Wissenschaftskulturen der Frühen Neuzeit gegeben, neben dem Heiligen Römischen Reich v. a. in Schweden, Dänemark, Finnland, Russland, Italien, Spanien und Portugal, zeitweise sogar in Brasilien; der Merkantilismus kann somit als regionale Sonderform eines kameralistischen europäischen Mainstream-Denkens gelten, nicht umgekehrt. Im Gegensatz zum Merkantilismus ist K. ein zeitgenössischer (wenngleich problematischer) Begriff. Seit dem 18. Jh. sprach man von Cameralwissenschaften, die seit 1727 auch als universitäre Lehrfächer angeboten wurden, während Merkantilismus keine akademische Disziplin war. Damit dürfen die Kameralisten auch als erste professionelle Ökonomen (Ökonomie) gelten; erst im späteren 19. Jh. wurden volkswirtschaftliche Lehrstühle im eigentlichen Sinne an englischen und amerikanischen Universitäten geschaffen.

Der K. war, entgegen seines Namens, nicht primär auf die fürstliche Schatzkammer oder die staatliche Verwaltung zentriert. Vielmehr ging es den Kameralisten wie Veit Ludwig von Seckendorff oder Johann Heinrich Gottlob von Justi um die Schaffung eines produktiven, florierenden und maximale „Glückseligkeit“ erreichenden Gemeinwesens. Darüber hinaus entwickelten sie eine dynamische Theorie, die Wirtschaftswachstum als theoretische Proposition kannte. Kameralistisches Denken beinhaltete überdies Elemente dessen, was heute als Finanzwissenschaft, Finanzsoziologie und Verwaltungswissenschaften (public administration) bekannt ist, schloss darüber hinaus aber auch Elemente von Haushaltslehre (Betriebswirtschaftslehre), Agrarökonomie, makroökonomischer Analyse, Volkswirtschafts- und Entwicklungspolitik mit ein. Viele Kameralisten waren von ihrer Fachausbildung her Juristen. Die neuere Forschung (bes. Neuere Ideengeschichte/New Intellectual History oder Umweltgeschichte) betont zudem die naturwissenschaftliche Dimension des K.: Vertreter wie Johann Joachim Becher in Deutschland oder der vorrangig als Biologe berühmte Carl Linné in Schweden betonten die in der Kameralwissenschaft begründete Vision einer Decodierung der biologischen, chemischen und physikalischen Gesetze von Mutter Natur (natural improvement). Damit ordnet sich der K. in das als europäische Aufklärung bekannte Paradigma ein, weist allerdings auch Spezifika auf, die der Elfenbeinturm- oder Hoch-Aufklärung eher fremd sind. Zuletzt wurde der K. als Illusion einer Idealwelt bezeichnet („well-ordered police state“ [Wakefield 2009: 138]), zu schön, um wahr zu sein, entwickelt in den gelehrten, aber weltfremden Büchern der Kameralisten, deren eigentliches Ziel es war, bei einem der Reichsfürsten in Lohn und Brot zu kommen.

Als universitäres Fach etablierte sich kameralistisches Denken zuerst 1727 in Frankfurt/Oder und Halle/Saale. 1741 erfolgte die erste Lehrstuhlgründung in Kameralistik in Uppsala/Schweden unter dem bekannten Ökonomen Anders Berch. Gegen Ende des Jh. bestanden kameralistische Lehrstühle an vielen anderen Universitäten, von Lautern in der Pfalz über Kiel in Holstein bis ins schwedische Lund oder finnische Turku.

Wie beim Merkantilismus ist eine exakte Definition von K. schwierig. Seine Bedeutung erschließt sich aus der Kombination von kameralistischem Denken (Theorie), kameralistischer Praxis (Wirtschafts- und Fiskalpolitik) sowie seiner Rezeption unter Historikern. Die kameralistischen Schriftsteller waren (entgegen landläufiger Ansicht) nicht auf den Ordnungsgedanken fixiert, postulierten keine umfassende Normierung des ökonomischen oder gesellschaftlichen Lebens. Vielmehr sprachen sie sich für faire Gleichgewichtsmärkte und eine weitgehend sich selbst überlassene und – in gewissen Grenzen – frei entfaltende Wirtschaft aus, die man durchaus mit dem Stichwort laissez-faire umschreiben könnte, allerdings unter den ihrer Zeit typischen Rahmenbedingungen und menschlichen Imperfektionen. Joseph Schumpeter bezeichnete den K. des 18. Jh. als „Laissez-faire with the nonsense taken out“ (Schumpeter 1954: 172); mit „nonsense“ war hier die Ansicht gemeint, Märkte strebten ganz natürlich zum Gleichgewicht, wenn man sie nur lasse.

Kameralistische Schriften befassten sich mit diversen Fragen, von Enten- und Schafzucht bis zu Bergwerkswesen, Münzpolitik, Geld- und Währungspolitik, Straßenbau, Postwesen und der Einhaltung einer guten Ordnung. Der produktive christliche Staat war für sie gleichermaßen ein holistisches Gesamtkunstwerk, das die „Glückseligkeit“ der Menschen insgesamt fördern und als Strategie der Wohlfahrtsmaximierung in einem sehr umfassenden Sinne dienen sollte. Wohlfahrt und Wirtschaftsleistung schlossen dabei neben einem auskömmlichen Einkommen auch Elemente von Glück, Zufriedenheit und ethisch-moralischer Grundversorgung ein, etwa ein geordnetes Pfarr-, Kirchen- und Seelsorgewesen. Der kameralistische Denkrahmen war dynamisch und integrierte auch die Idee ökonomischen Wachstums; Denker wie J. H. G. von Justi legten den Fokus auf die gezielte Förderung exportorientierter Gewerbe mit der Möglichkeit eines komparativen Handelsvorteils. Solche konventionellen Methoden der Exportförderung sind bis heute ein Begriff und fungieren u. a. unter dem Label Importsubstitution. In der simultanen Betonung freier Wettbewerbsmärkte mit dem Staat als oberster Regulierungsinstanz ist kameralistisches Gedankengut auch in moderne neo- und ordoliberale Konzeptionen von Marktwirtschaft und Kapitalismus mit eingeflossen.