Machiavellismus
Namensgeber des M. ist der Sekretär der Republik von Florenz und politische Denker Niccolò Machiavelli. Neben der „Geschichte von Florenz“ und der „Kunst des Krieges“ sind es v. a. seine Werke „Discorsi“ (Machiavelli 2000) und „Il Principe/Der Fürst“ (Machiavelli 2001), aus welchen der M. seine politischen Lehren und Maximen gewinnt. Sie bedeuten einen radikalen Bruch mit der klassischen antiken politischen Philosophie, mit dem christlichen Denken politischer Ordnungsformen und der mittelalterlichen Naturrechtslehre (Naturrecht) sowie mit der Tugendlehre der antiken und mittelalterlichen Fürstenspiegelliteratur. N. Machiavelli gilt daher als Begründer des politischen Denkens der Neuzeit.
Zu unterscheiden ist zwischen M.
a) als pejorativ gemeintem politischem Kampfbegriff,
b) als systematischer Bezeichnung für eine (ebenfalls zumeist abwertend gemeinte) Form von Politik, die durch ein Ensemble von Elementen und politischen Handlungsanweisungen charakterisiert wird, sowie
c) als Bezeichnung für die vielfältige Wirkungsgeschichte der Werke und Lehren N. Machiavellis seit dem 16. Jh.
Vom M. lässt sich daher eine Parallelgeschichte erzählen: eine Geschichte der Missverständnisse, Einseitigkeiten und Übertreibungen sowie eine andere der Wirkung der Ideen N. Machiavellis, welche nahezu gleichbedeutend ist mit der Geschichte des politischen Denkens der Neuzeit.
Als polemischer Reizbegriff wird M. zur Bezeichnung politischer Gegner verwendet, denen vorgeworfen wird, rücksichtslose Machtpolitik zu verfolgen, um ihre Interessen durchzusetzen. Dabei schreckten sie weder vor List und Betrug noch vor Gewalt und Grausamkeit zurück und missachteten die Gebote von Recht und Moral, denn am Ende zähle allein der Erfolg und nicht die Art, wie er errungen wurde. M. ist der Inbegriff skrupelloser Machtpolitik; der Machiavellist der reine und zynische Machtmensch – und den gab es auch schon vor N. Machiavelli. William Shakespeare hat sein buckliges Urbild auf die Theaterbühne gebracht in Gestalt seines Richard III. Viele der im Kampfbegriff in übersteigerter Form attackierten Motive konsequent unmoralischer Machtpolitik lassen sich auf Charakteristika des politischen Denkens N. Machiavellis und auf die Vereinseitigung politischer Maximen zurückführen, die in seinem Werk, v. a. im „Il Principe“, begegnen.
Bestimmungselemente des M. als politischer Doktrin sind: die Trennung von Politik und Moral, genauer: die Freisetzung einer Machtpolitik von moralischen und rechtlichen Schranken. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Politik allein nach dem Erfolg beurteilt wird; Effektivität daher letztlich das Maß ist, worauf es ankommt; eingesetzte Mittel werden durch den Zweck/Erfolg geheiligt. Moralische Normen und die Regeln politischen Erfolges sind inkommensurabel. Erfolge stellen sich durch beherztes tatkräftiges Handeln eher ein als durch zögerndes Zuwarten. M. ist daher – als Kunst der ergriffenen Gelegenheit – durch politischen Aktivismus geprägt. Machiavellistische Politik ist ferner Machtpolitik. Es geht um die Kunst der Machteroberung, -behauptung und -ausdehnung. Darüber hinaus gehört zum M. eine Politik des Scheins. M. ist politische Illusionskunst, der machiavellistische Politiker ein Meister der Heuchelei, List und Verstellung. Die traditionellen Tugenden eines (christlichen) Herrschers (Gerechtigkeit, Milde, usw.) braucht er nicht wirklich zu besitzen, aber er muss den Anschein erwecken können, tugendhaft zu sein. Er versteht also, was anderen wertvoll und heilig ist für seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Religion wird allein unter den funktionalen Aspekten gesellschaftlichen Zusammenhalts, militärischer Motivationskraft nach außen und sozialer Befriedung nach innen verstanden. Zugl. ist M. auch eine Form radikaler politischer Desillusionierung. Denn er beansprucht, die Wirklichkeit nüchtern und illusionslos für das zu nehmen, was sie tatsächlich sei: ein Schauplatz eigennützigen und ambitionierten Ringens der Menschen um Macht und Vorteile unter Bedingungen von Neid, Missgunst und Undankbarkeit. M. lässt sich also nicht durch idealistische Verbrämungen täuschen. N. Machiavelli beanspruchte, der „Wirklichkeit der Dinge (verità effettuale della cosa) nachzugehen und nicht den bloßen Vorstellungen über sie“ (Machiavelli 2001: 119), denn: „Zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält“ (Machiavelli 2001: 119). Der M. ist in diesem Sinne eine realistische Doktrin (Realismus). Das Menschenbild des M. ist pessimistisch. Wer einem Staat Verfassungen und Gesetze geben und Politik machen wolle, müsse davon ausgehen, „daß alle Menschen böse sind und stets ihrer bösen Gemütsart folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben“ (Machiavelli 2000: 26). Zum M. gehört daher eine Abgrenzung zwischen Esoterik und Exoterik. Unterschieden wird zwischen der Menge der steuerungsbedürftigen, da leidenschaftsgetriebenen Menschen einerseits und den wenigen virtuosen politischen Technikern andererseits, die jene Menge manipulativ zu beherrschen verstehen. Ein machiavellistischer Nachhall ist noch das Misstrauen gegen ihre Bürger und der Hang zur Überwachung in modernen Staaten. Über eine Politik des Scheins und der List hinaus ist M. schließlich auch – da freigesetzt von den Begrenzungen traditioneller und christlicher Moral sowie von der Ordnungskraft des Rechts – eine Politik der Gewalt und Grausamkeit. Gewalt wird offen als politisches Mittel akzeptiert. Gerechtfertigte Grausamkeit will Machiavelli von ihrem politischen Effekt her bestimmen und begrenzen: „Cesare Borgia wurde für grausam gehalten; doch hatte seine Grausamkeit die Romagna gesäubert, geeint und zu Frieden und Eintracht gezwungen“ (Machiavelli 2001: 127). In der widerstrebigen Wirklichkeit der politischen Welt gilt dem M. Grausamkeit als milder denn falsch verstandene Humanität und Milde. Der machiavellistische Machtstaat wird zum Ordnungsfaktor in einer dem Verfall ausgesetzten sozialen Welt. Eine ordnungsschaffende und aufbauende Gewalt wird von einer zerstörenden unterschieden. So gesehen meint M. dann nicht einfach die Trennung von Politik und Moral, sondern die Unterordnung aller sittlichen Motive unter den politischen Höchstwert der staatlichen Selbsterhaltung, oder die Anerkennung einer Eigengesetzlichkeit des Politischen bzw. die Entdeckung einer politischen Sondermoral, wie sie dann im politischen Denken der Neuzeit in der Lehre von der Staatsräson ausformuliert wurde.
Die Entstehung und Entwicklung der Lehre von der Staatsräson seit dem 16. Jh. ist eine wesentliche Wirkungsgeschichte der Lehren N. Machiavellis. Sie wird zuweilen sogar mit dem wirkungsgeschichtlichen Sinn des M. gleichgesetzt. Auch realistische Theorien der Politik stehen mit ihrer Betonung des Faktors Macht, ihrer kritischen Einstellung gegenüber idealistischen Zielsetzungen politischen Handelns und gegenüber einem wirklichkeitsvergessenen Normativismus politischer Theoriebildung sowie einer oftmals pessimistischen Anthropologie in einer machiavellistischen Tradition. Eine republikanische wirkungsgeschichtliche Traditionslinie, die das Bild N. Machiavellis als eines amoralischen Machttheoretikers korrigieren will und u. a. in England im 17. Jh. bei James Harrington eine ihrer Wurzeln hat, wird nicht als M. bezeichnet, um die vorwiegend negativen Konnotationen des Ausdrucks zu vermeiden. Der Ideenhistoriker John Greville Agard Pocock spricht stattdessen vom „Machiavellian Moment“ (Pocock 1975). Im 19. Jh. verband sich der M. v. a. in Deutschland und Italien – basierend auf dem Schlusskapitel des Principe – mit Ideen des Nationalismus. Im 20. Jh. wurden Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus als moderner Massen-M. bzw. als „absolute Machiavellism“ (Maritain 1942: 11) gedeutet.
Literatur
H. Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3, Teilbd. 1, 2006 • N. Machiavelli: Il Principe/Der Fürst, übers. und hg. v. P. Rippel, 2001 • N. Machiavelli: Discorsi. Staat und Politik, übers. von F. von Oppeln-Bronikowksi, hg. v. H. Günther, 2000 • A. Buck: Machiavelli, 1985 • H. Münkler: War Machiavelli ein Machiavellist? Die Ursprünge des Machiavellismus und der Staatsräson, in: PVS 24/3 (1983), 329–340 • J. G. A. Pocock: The Machiavellian Moment, 1975 • F. Gilbert: Machiavellism, in: P. P. Wiener (Hg.): Dictionary of the History of Ideas, Bd. III, 1973, 116–126 • E. Faul: Der moderne Machiavellismus, 1961 • J. Maritain: The End of Machiavellism, in: The Review of Politics 4/1 (1942), 1–33 • F. Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte, 1924.
Empfohlene Zitierweise
D. Lüddecke: Machiavellismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Machiavellismus (abgerufen: 25.11.2024)