Politische Sozialisation
1. Abgrenzung
P. S. umfasst alle Prozesse, in denen Menschen politische Kenntnisse, Fähigkeiten und Orientierungen erwerben. Diese Prozesse können von unterschiedlichen Erfahrungen ausgehen und in verschiedenen Lebensphasen stattfinden. Sie können bewusst oder unbewusst erfolgen, absichtlich oder nicht intendiert auftreten. P. S. kann dem Individuum politische Handlungsmöglichkeiten eröffnen, aber auch im jeweiligen politischen System unerwünschte Orientierungen unterdrücken. Damit leistet die p. S. einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration und Stabilisierung politischer Systeme. Die Forschung auf diesem Gebiet hat sich in den 50er und 60er Jahren des 20. Jh. zuerst in den USA als eigenständiges, interdisziplinäres Feld in den Sozialwissenschaften etabliert, das u. a. Forscher aus Politikwissenschaft, Psychologie und Soziologie vereint.
2. Befunde
Anfangs galt die Kindheit als ausschlaggebende Phase in der S., in der wesentliche Bindungen an die politische Gemeinschaft und Haltungen zu politischem System und Akteuren geprägt würden. In Verbindung damit wurde der Herkunftsfamilie eine herausragende Bedeutung als S.s-Agentur zugeschrieben. Die Stärke ihres Einflusses wurde als abhängig von einerseits der Deutlichkeit und Konsonanz der vermittelten politischen Signale, andererseits dem Verhältnis zwischen Sozialisanden und Sozialisatoren angesehen. Allmählich wurde der Einfluss späterer Lebensphasen und anderer S.s-Agenturen wie Peers (also gleichgestellter Personen wie etwa Mitschüler, Freunde, Arbeitskollegen) und Medien erkannt, ohne dass jedoch die Bedeutung der Herkunftsfamilie sowie konditionierender Faktoren verkannt worden wäre. Obgleich grundsätzlich ein lebenslanges Potential für p. S. besteht, gilt die Adoleszenz als bes. wichtige Phase, in der politische Orientierungen, etwa Parteibindungen, auskristallisiert werden, die anschließend eine gewisse Änderungsresistenz aufweisen. Das schließt Umorientierungen in späteren Lebensphasen infolge einschneidender Ereignisse nicht aus. Diese können alle Personen gleichermaßen betreffen (Periodeneffekt) oder in Abhängigkeit von der Position im Lebensverlauf (Lebenszykluseffekt) auftreten. Die Kombination aus einer in die Adoleszenz reichenden formativen Phase und anschließender Persistenz bildet die Grundlage für die Entstehung von Generationen mit spezifischen politischen Profilen. Empirisch treten Generationen-, Lebenszyklus- und Periodeneffekte nicht selten in Kombination auf.
Im Zuge der Ausdehnung der anfangs weitgehend auf die USA beschränkten Forschung auf andere politische Systeme wurde die Kontextabhängigkeit von S.s-Effekten zunehmend deutlicher. Demnach beeinflusst der unmittelbare soziale Kontext S.s-Prozesse (Sozialisation) ebenso wie der größere gesellschaftliche, politische und institutionelle Kontext. Z. B. hängt die Persistenz (partei-)politischer Orientierungen von der Struktur und Stabilität des politischen Systems und des Parteiensystems ab. Ebenso scheint das gesellschaftliche Klima in den formativen Jahren dauerhafte Spuren in politischen Orientierungen und Verhaltensweisen zu hinterlassen. Die Transformation zahlreicher politischer Systeme (Systemtransformation) seit dem Ende des 20. Jh. eröffnete neue Forschungsmöglichkeiten und bot zugl. reiches Anschauungsmaterial für Potentiale und Schwierigkeiten bei der systemkonformen Umsozialisation nach der Adoleszenz. Ähnliche Forschungspotentiale und politische Herausforderungen resultieren aus grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen (Migration) und der Etablierung supranationaler Institutionen. Diese jüngeren Entwicklungen lenken den Blick stärker auf die Bedeutung der p.n S. für die Integration der politischen Gemeinschaft und auf diesbezügliche Forschungsfragen (etwa zur Herausbildung kollektiver Identitäten). Das zwischenzeitlich gesteigerte Interesse an genetischen Einflüssen auf politische Präferenzen und Verhaltensweisen stellte die Bedeutung der p.n S. weniger in Frage, als dass sie deren Charakter als Zusammenspiel der in einer Person angelegten Fähigkeiten und Neigungen mit Umweltfaktoren verdeutlichte.
3. Methoden
Die Forschung zu p.r S. greift primär auf Daten aus Befragungen zurück. Für die Untersuchung der Veränderung und Persistenz politischer Orientierungen sind Daten aus der wiederholten Befragung derselben Personen bes. gut geeignet. Für einige sehr einflussreiche Untersuchungen wurden dieselben Personen mehrmals über mehrere Jahrzehnte hinweg befragt. Um S.s-Wirkungen auf Individuen untersuchen zu können, sind zusätzlich möglichst feingliedrige Informationen über potentielle Einflussfaktoren erforderlich, also etwa über politische Präferenzen von Eltern oder über das politische Klima in der jeweiligen Gemeinde. Da Einflussfaktoren häufig eng verwoben sind, gelingt die Identifikation kausaler Effekte nicht immer, auch wenn zunehmend avancierte Analysemethoden eingesetzt werden. Experimentelle Designs können weiterhelfen, sind aber nur begrenzt anwendbar. Die Aussagekraft von Ergebnissen kann auch durch Probleme bei der Auswahl der Befragten, durch selektive Ausfälle bei Wiederholungsbefragungen, durch zufällige und systematische Messfehler sowie durch mangelnde Sensibilität für die Kontextabhängigkeit von Befunden beeinträchtigt werden. Die Untersuchung von Kindern und anderen speziellen Gruppen erfordert auf deren Fähigkeiten zugeschnittenes Untersuchungsmaterial.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
H. Schoen: Politische Sozialisation, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Politische_Sozialisation (abgerufen: 22.11.2024)