Sekte

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  1. I. Historisch-gesellschaftlicher Kontext
  2. II. Juristische Spannweite

I. Historisch-gesellschaftlicher Kontext

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1. Begriffsgeschichte

Der Begriff S. geht etymologisch wohl auf lateinisch sequi (folgen) zurück. Als secta (griechisch: hairesis) wurden in der Antike philosophische, religiöse oder politische Gefolgschaften und Lehrmeinungen bezeichnet. Im NT wird der eigentlich neutrale Begriff etwa für Sadduzäer und Pharisäer (Apg 5,17; 26,5), aber auch die ersten Christen (Apg 24,5) verwendet; dort zeigt sich bereits auch ein pejorativer Gebrauch (z. B. 2 Petr 2,1).

In der alten Kirche und im Mittelalter dienten „S.“ bzw. „Häresie“ als Fremdbezeichnung verschiedenster „Irrlehren“, die von der „rechtgläubigen“ Kirche abwichen: etwa Markioniten, Arianer, Katharer und Waldenser, teilweise auch Muslime. Im Gefolge der Reformation verlagerte sich in Deutschland die Bedeutung von „S.“ auf nicht reichsrechtlich anerkannte christliche Bekenntnisse (z. B. Täufer). Da in der religiösen Abweichung auch ein Verstoß gegen die staatliche Ordnung gesehen wurde, bedeutete die Kennzeichnung als „S.“ nicht nur kirchliche Verurteilung, sondern bis in die Neuzeit häufig auch obrigkeitliche Verfolgung.

Obwohl in Deutschland spätestens mit der WRV von 1919 Religionsfreiheit bestand, hielt sich die Negativität des S.n-Begriffs. Allerdings verschob sich mit der ökumenischen Bewegung der Fokus abermals, jetzt auf Gemeinschaften, die sich der Ökumene verweigerten.

Diese Entwicklung wurde aber überlagert durch das Auftauchen neuer, nur teilweise christlich geprägter Religionen und „Psychokulte“ ab den 1960er Jahren auch in der BRD („Jugend-S.n“). Neben Betroffeneninitiativen entstand eine kirchliche und staatliche S.n- und Weltanschauungsarbeit. Die religionswissenschaftliche Erforschung dieses Feldes etablierte sich in Deutschland erst relativ spät.

Nach der medial aufgeheizten „S.n-Hysterie“ ab den 1970er Jahren trug die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (1996–98 [BT-Drs. 13/10950]) viel zu einer realistischeren Betrachtung bei: Weder waren „S.n“ ein Massenphänomen und generell konfliktträchtig, noch hielt der geläufige Vorwurf der „Gehirnwäsche“ einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Es zeigte sich, dass „S.“ als pauschalisierender Dachbegriff der Unterschiedlichkeit der religiösen Phänomene nicht gerecht wird.

Mittlerweile wurde nicht nur in der Religionswissenschaft, sondern auch in der Weltanschauungsarbeit „S.n“ zugunsten anderer Begrifflichkeiten (z. B. „neue religiöse Bewegungen“) weitgehend zurückgedrängt.

2. Begriffsdimensionen

Begrifflich ist „S.“ nicht auf einen Nenner zu bringen. Als grundlegende Elemente haben sich gezeigt:

a) „S.“ ist fast immer ein Relationsbegriff, der auf eine Gruppe in Abweichung zu einer Muttergemeinschaft und/oder einer religiösen bzw. sozialen Norm abhebt.

b) „S.“ ist eine Fremd-, keine Selbstbeschreibung.

c) „S.“ ist seit der christlichen Antike ganz überwiegend pejorativ geprägt.

Trotzdem begegnet man auch immer wieder einem (eher) neutralen S.n-Begriff i. S. verschiedener Schulen, Lehrrichtungen etc. (etwa im Hinduismus und Buddhismus).

In der Religionssoziologie haben Max Weber und Ernst Troeltsch den S.n-Begriff für die Typisierung religiöser Gruppenbildung in Anspruch genommen: Im Gegensatz zur „Gnadenanstalt“ (Weber 1986: 210) Kirche, in die man hineingeboren wird, ist eine „S.“ der freiwillige, exklusive Zusammenschluss religiös Engagierter. Dieser und andere religionssoziologische Typisierungsentwürfe können aber wegen der realen Vielfalt religiöser Organisationen nur idealtypisch sein.

Historisch ist „S.“ ein Begriff aus innerchristlichen Auseinandersetzungen. Mit dem Auftauchen nichtchristlicher Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wurde aber die Abweichung nicht von einer christlichen Orthodoxie, sondern von gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen maßgeblich für die Anwendung des S.n-Begriffs.

Daran knüpft der umgangssprachliche S.n-Begriff an, der auf die Andersartigkeit abhebt. Mit „S.“ werden – mit stark negativem Grundton – u. a. verbunden: exklusivistische Abgrenzung nach außen, Abhängigkeit von einer Führungsfigur, Kontrolle durch „Gehirnwäsche“, Ausbeutung der Mitglieder. Hier wird „S.“ schnell zu einem undifferenzierten und unterschiedslos angewandten Ausgrenzungs- und Kampfbegriff.

Dagegen nimmt ein verantwortungsvoller ethischer S.n-Begriff die Religionsfreiheit ernst, die auch für „unmoderne“ religiöse Lebensweisen gilt, und fokussiert auf Verstöße gegen ethisch-humanistische Werte (Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstentfaltung, Toleranz etc. [ Humanismus ]). Eine solche Betrachtungsweise legt nahe, insb. einen statischen S.n-Begriff aufzugeben, jede Gruppe einzeln, unvoreingenommen und differenziert zu untersuchen und allenfalls von „sektenhaften“ Zügen (Exklusivismus, Dualismus, Autoritarismus etc.) zu sprechen, die in allen Religionen auftreten können.

II. Juristische Spannweite

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Einen feststehenden juristischen Begriff S. gibt es nach aktuellem Recht nicht. Vielmehr handelt es sich um eine unsichere, schwankende Kategorie, die eine erhebliche Spannweite sehr unterschiedlicher Phänomene umfasst. Häufig wird der Topos S. durch andere Terminologien ersetzt, wie z. B. Neue (Jugend-)Religionen, neue religiöse Bewegung, Psychokulte, destruktive Kulte. Im religionsverfassungsrechtlichen Kontext des Alten Reichs waren S.n im Gegensatz zu den öffentlich aufgenommenen und privilegierten Kirchen und den konzessionierten, aber nicht privilegierten Religionsgesellschaften bloß geduldet. Zu den christlichen S.n zählten in der Zeit des PrALR 1794 etwa die Herrnhuter und die Mennoniten. Das alte Begriffsverständnis war mit der Vorstellung verbunden, dass es sich bei S.n um Abspaltungen von einer Mutter-Religionsgesellschaft handelte. In der kirchlichen Rechtssprache des CIC/1917 wurde der Topos in zweierlei Richtung verwendet: entweder als die Einheit der Kirche sprengende christliche Sondergemeinschaft (secta acatholica bzw. secta haeretica seu schismatica) oder auch als bloße Kennzeichnung einer nichtchristlichen religiösen Gruppierung. Der CIC/1983 verzichtet auf die Kategorie S. Ungeachtet der Begriffsunschärfe sind S.n grundsätzlich von sogenannten geistlichen Bewegungen (movimenti) als konsoziatives Phänomen innerhalb der katholischen Kirche zu unterscheiden. Mit den Verfassungen des 19. Jh. verschwand die Bezeichnung S. zunehmend aus expliziten Normtexten und wird bis heute durch „säkulare Mantelbegriffe“ (Heckel 1999: 745) wie Religionsgesellschaft, Glaubensgemeinschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft ersetzt.

Das Fehlen einer juristischen Definition verhindert nicht die rechtspraktische Verwendung der Kategorie S.n, die sich zu einer „negativ konnotierten Sammelbezeichnung“ (Abel 2006: 2120) gewandelt hat. Mitunter wird eine „Sektenjagd“ (Kriele 1998) beklagt. Die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ postulierte in ihrem Endbericht 1998 wegen des „nebulösen“ (BT-Drs. 13/10950: 30) Charakters des Begriffs einen Verzicht auf diesen. Er würde der Vielfalt der Erscheinungsformen nicht gerecht und besitze darüber hinaus wegen seiner negativen Konnotationen stigmatisierende Wirkung. Gleichwohl findet der Begriff S. – verbunden mit zusätzlichen Attributen wie destruktiv oder pseudoreligiös – Verwendung im Kontext der juristischen Bearbeitung von Ambivalenzen und Gefahren des religiös-weltanschaulichen Feldes. Dies führt schon seit längerem dazu, dass im Rahmen der religiös-weltanschaulichen Neutralität staatliche Behörden und Gerichte ein religiöses Gefahrenabwehrrecht praktizieren, um die vorgeschobene Inanspruchnahme der Religionsfreiheit und anderer religionsverfassungsrechtlicher Gewährleistungen für ökonomisch-finanzielle Aktivitäten und Ähnliches zu unterbinden bzw. auch vor gefahrenträchtigen Tatsachen zu warnen, die sich bei S.n oder sektenähnlichen Vereinigungen beobachten lassen. Kritische Würdigungen des Staates oder anderer religiöser Akteure sind im Rahmen der Verfassung und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durchaus zulässig, wenngleich wegen der Unschärfen die Grenze zwischen Information und unzulässigen Bewertungen eine schwierige Gratwanderung ist. Die Bezeichnung als S. oder Ähnliches wird im Zusammenhang mit staatlicher Informationstätigkeit juristisch nicht beanstandet (Osho-Entscheidung BVerfG aus dem Jahr 2002, BVerfGE 105,279), obwohl dem umgangssprachlich eine negative Bedeutung beigelegt wird.