Etatismus

Der aus dem Französischen (étatisme von état = Staat) übernommene Begriff des E. (Englisch auch statism), der sich am ehesten als Staatsethik, Staatsgesinnung oder Staatsbewusstsein übersetzen lässt, bezeichnet eine Reihe von im Einzelnen höchst unterschiedlichen Auffassungen, denen eine bes. Betonung der Rolle des Staates gemeinsam ist. Etatistische Positionen unterscheiden sich nicht nur notwendig nach dem jeweils implizierten Begriff des Staates und seinen Gegenbegriffen (Gesellschaft, Verwaltung, Kirche, Wirtschaft, Internationale Organisationen usw.), sondern auch je nach Fragestellung und Vorverständnis. Es gibt einen theologischen ebenso wie einen soziologischen, ökonomischen, historischen oder staatsrechtlichen E. Ein gemeinsames Merkmal der verschiedenen Begriffe des E. besteht allenfalls darin, dass es sich i. d. R. weniger um eine Selbst- als um eine abschätzige Fremdbezeichnung für unterschiedliche Varianten des Ordnungsdenkens handelt, die jedenfalls in Deutschland seit den 1960er Jahren häufig gleichbedeutend mit „autoritär“ oder „konservativ“ gebraucht wird.

1. Ursprünge

Seit der frühen Neuzeit lassen sich eine Vielzahl von politischen Theoremen benennen, die in irgendeiner positiven Weise auf dem Eigenrecht und der Selbstständigkeit der Institution des Staates gegenüber anderen Trägern politischer Herrschaft bestehen, unter denen im deutschen Raum v. a. die politische Ideenwelt des Luthertums zu nennen ist. Zu den beiden klassischen Vertretern des neuzeitlichen E. wurden aber Niccolò Machiavelli und Thomas Hobbes. Nach der Durchsetzung des Absolutismus in Europa verlor diese Theorie aber ihre spezifische Stoßrichtung.

Der moderne E. konnte demgegenüber der Sache und dem Begriff nach erst aus der kritischen Reflexion auf die bürgerliche Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft (Staat und Gesellschaft) und ihrer Folgen entstehen, für die seit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Rechtsphilosophie eine theoretische Begrifflichkeit existiert. Der E. richtet sich gegen die Autonomie der gesellschaftlichen Organisationsformen (Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften usw.), gegen gesellschaftliche, d. h. zumeist privatkapitalistische Machtentfaltung und ihren Nebenfolgen. Gemeinsam ist allen Spielarten des E. bis heute geblieben, dass sie die staatliche Handlungsfähigkeit als gefährdet oder zumindest krisenhaft beschreiben.

Der Begriff entstand in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. In der Schweiz bezeichnete er lange noch v. a. jene politische Auffassung, die für die Stärkung der Bundesebene gegenüber den Kantonen eintrat. Theoretisch bedeutend wurden etatistische Positionen aber erst, als die Stellung des Staates als Träger des Politischen zu Beginn des 20. Jh. grundsätzlich problematisch wurde, als ihm in „Gesellschaft“ und „Klasse“, aber auch „Volk“, „Bewegung“ und „Rasse“ konkurrierende Repräsentationsideen politischer Einheit gegenübergestellt wurden, die Idee politischer Einheit andererseits aber auch durch den Pluralismus (Harold Laski) überhaupt in Frage gestellt wurde. Während Rudolf Smend und Hermann Heller in Deutschland die klassischen Formulierungen der Frage nach dem Staat als Form der politischen Einheit lieferten, bestritt Carl Schmitt im „Begriff des Politischen“ (1927/1932) erstmals radikal die Möglichkeit einer etatistischen Position in der Moderne.

2. Spielarten

Der E. ist keiner bestimmten Ideologie zuzurechnen. So lassen sich ökonomische Theorien, die gegenüber der Selbststeuerung des Marktes auf der Notwendigkeit von Staatsintervention bestehen (Keynesianismus), ebenso als etatistisch bezeichnen wie eine theologische Ethik, die auf den innerweltlichen Gehorsam gegenüber bestehender staatlicher Ordnung abzielt (z. B. bei Friedrich Gogarten) oder eine Soziologie der Institutionen, der das innerhalb des staatlichen Gefüges ausgebildete Ethos prinzipiell als höherwertig gilt gegenüber den Ethiken der Gegenseitigkeit und des Universalismus. Etatistisch im weiteren Sinne ist auch die Programmatik der reformistischen Sozialdemokratie seit Ferdinand Lassalle und Karl Kautsky, die statt auf das Absterben des Staates im Sozialismus auf seine Macht als Agent der Umgestaltung des Sozialen setzt.

Bes. Bedeutung hat der E. aber in der Staatsrechtslehre der BRD erlangt, für die die Vorstellung von Staatlichkeit aufgrund der deutschen Teilung und der Katastrophenerfahrung des Nationalsozialismus ohnehin stets problematisch war. Auch gerieten etatistische Deutungsmuster in der BRD in Konkurrenz zu einer stärker vom gesellschaftlichen Pluralismus her denkenden Verfassungstheorie. So hat namentlich Ernst Forsthoff die grundsätzliche Auflösung etatistischer, d. h. auf den konkreten Staat als Träger der Rechtsordnung bezogener Begriffe und Argumentationsmuster im öffentlichen Recht diagnostiziert. Die folgende ideologisch aufgeladene Debatte über das Rangverhältnis der Begriffe Staat und Verfassung wurde zwar mit großem Aufwand, letztlich aber ohne greifbaren Ertrag geführt. Sie zeigte allenfalls die Umkehrung der traditionellen konfessionellen Differenz: Während bis 1933 der E. vornehmlich eine protestantische Haltung (Protestantismus) war, während der politische Katholizismus seit der Reichseinigung im Gegensatz zur staatlichen Macht stand, waren es in der BRD überwiegend katholische Autoren (neben Josef Isensee v. a. Ernst-Wolfgang Böckenförde), die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil für mehr Staatsbewusstsein eintraten. Jene Debatten kamen zum Abschluss mit der 2000 erschienen Studie des liberalen Katholiken Christoph Möllers, der die Unmöglichkeit eines arglosen Rückgriffs auf Vorstellungen von staatlicher Ordnung bei der Auslegung namentlich des Verfassungsrechts demokratietheoretisch unter Rückgriff auf Hans Kelsen und Max Weber aufzeigte.

Ohnehin ist inzwischen geklärt, dass es kein invariables Modell von Staatlichkeit gibt, auf das der E. verweisen könnte. So verfinge sich auch heute jede Erneuerung des traditionellen E. unvermeidlich in den Aporien des Ordnungsdenkens, dessen vermeintlicher Rekurs auf das der Legalität Vorgegebene oft als bloß schlecht verhüllte normative Behauptung auftritt. Mit anderen Mitteln haben deswegen die Sozialwissenschaften seit den 1980er Jahren die Rehabilitierung des auf den Staat gerichteten politischen Denkens betrieben und dabei den Staat als eine dynamische, nur durch die Verklammerung einer Vielzahl von Perspektiven fassbare Größe von vornherein in Rechnung gestellt.

So ist der E. zwar als Position des modernen Ordnungsdenkens theoretisch unhaltbar geworden, seine Motive bleiben aber, zumindest in Ländern mit einer absolutistischen Vergangenheit, unentbehrlich als Quelle der Skepsis gegenüber dem Glauben an die „Gesellschaft“ und ihre Selbstorganisation.