Verwaltungswissenschaft

Version vom 14. November 2022, 06:01 Uhr von Staatslexikon (Diskussion | Beiträge) (Verwaltungswissenschaft)

1. Verwaltungswissenschaft als Forschungsfeld

V. ist keine eigenständige akademische Disziplin, sondern vielmehr ein Forschungsfeld (field of study), in dem Verwaltung als gemeinsamer Untersuchungsgegenstand aus Perspektive verschiedener Disziplinen beleuchtet wird. Die öffentliche Verwaltung wird in der Soziologie, dem Verwaltungsrecht und der öffentlichen BWL (Public Management) untersucht. Die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung bezeichnet die hier vorgestellte Perspektive auf Verwaltung, die in der Politikwissenschaft beheimatet ist und der bisweilen eine „Leitfunktion“ (Bauer/Grande 2018: 10) zugeschrieben wird. Wenngleich die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung durch eine erhebliche Vielfalt in Forschungsfragen, Theorien und Methoden gekennzeichnet ist, verbindet sie ein gemeinsames zentrales Erkenntnisinteresse an der politischen Rolle der Verwaltung, die auf verschiedenen staatlichen Ebenen sowie unter einer Vielzahl von Fragestellungen untersucht wird. Schnittmengen weist die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung insb. mit dem Public Management auf. In Deutschland ist die Etablierung der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung seit den 1960/70er Jahren eng mit den Arbeiten zunächst von Thomas Ellwein und Fritz Morstein Marx sowie dann v. a. von Renate Mayntz und Fritz Wilhelm Scharpf verbunden.

2. Entwicklung und Themenkonjunkturen

Die akademische Beschäftigung mit der Verwaltung hat indes auch in Deutschland eine längere Tradition und wurzelt in der Policeywissenschaft des 16. Jh., die sich später in die Kameralistik, die Ökonomie und die Policey- und Staatswissenschaft differenzierte. Die historische Entwicklung der V. als akademisches Feld ist immer auch eng mit der jeweiligen politischen, staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung verwoben. Die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung heutiger Prägung ist erst seit Ende der 1960er Jahre an den deutschen Universitäten verankert. In der Nachkriegszeit wurde die Politikwissenschaft zuvorderst als Demokratiewissenschaft und zur Lehrerbildung etabliert und befasste sich v. a. mit den Voraussetzungen, Funktionsmustern und normativen Grundlagen der Demokratie als Staatsform. Die V. spielte hier zunächst keine Rolle. Dies änderte sich mit der Diskussion um politische Planung, die das Interesse auf die Grundlagen der Regierungsorganisation und insb. der Ministerialverwaltung lenkte. Inspiriert durch die US-amerikanische Policy-Forschung (Policy) und eng verknüpft mit der von der damaligen Bundesregierung eingesetzten Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform ging es darum, die Handlungsfähigkeit der Regierung durch organisationale Reformen zu verbessern und so die Regierung in die Lage zu versetzen, „aktive Politik“ zu machen (z. B. Mayntz/Scharpf 1975). Wie auch in anderen westlichen Staaten endete die Planungsdebatte mit erheblicher Enttäuschung und ohne das Gros der diskutierten Reformen durchzuführen.

Mit dem Ende der Planungsära wandte sich die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung von den internen Strukturen und Prozessen der Ministerialverwaltung ab und entdeckte die Implementation von Politiken als zentrales Untersuchungsthema. Inspiriert durch das von Jeffrey Pressman und Aaron Wildavsky verfasste Buch „Implementation. How great expectations in Washington are dashed in Oakland“ (1973) wandte sich auch die V. in Deutschland den Fragen zu, wie, durch wen und in welchen Strukturen Gesetze angewendet werden. Das war auch deshalb eine neue Forschungsperspektive, weil zuvor die juristisch geprägte Sichtweise galt, dass Gesetze nach Verabschiedung und Inkrafttreten schlicht vollzogen würden – ein Prozess ohne politische Relevanz. Die Forschung zeigte nun aber, dass Implementation sehr wohl eine politische Dimension hat: Im Vollzug werden Ermessensspielräume (Ermessen) genutzt, wird mit Adressaten verhandelt und werden professionelle Normen der Bürokratie in die Gesetzesanwendung eingewoben. Mithin können Gesetze und ihre Wirksamkeit im Vollzug verändert werden.

Aus der Implementationsforschung entwickelte sich dann vor allem am 1985 unter der Leitung von R. Mayntz gegründeten MPIfG Interesse an der politischen Steuerung staatsnaher Sektoren und der mittlerweile liberalisierten ehemaligen staatlichen Infrastrukturmonopole wie etwa in der Telekommunikation (Liberalisierung). Die am MPIfG entwickelte Steuerungstheorie unterscheidet gesellschaftliche Teilsysteme als Steuerungsobjekte vom Staat als zentralem Steuerungssubjekt. Diese Vorstellung von der Dominanz hierarchischer Steuerung wurde dann durch die Forschung zu Policy-Netzwerken und v. a. durch die Forschung unter dem Oberbegriff „Governance“ erheblich in Frage gestellt. Die Governance-Forschung rückte mit Markt und Netzwerken Alternativen zur Hierarchie als Steuerungsinstrumente in den Mittelpunkt, was sich nicht auf die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung beschränkte, sondern in verschiedenen Teilbereichen der Politikwissenschaft aufgegriffen wurde. Kollektive Handlungskoordination – so die Beobachtung – würde nicht mehr nur durch staatliche hierarchische Steuerung erbracht, sondern finde vielmehr in einer Vielzahl von Formen statt, in denen unterschiedliche Akteure miteinander kooperieren – etwa durch Verhandlungen in Netzwerken ohne hierarchisches Zentrum. In der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung ging der Governance-Trend mit einer Besinnung auf institutionalistische Untersuchungsperspektiven einher, die sich für die formalen, normativen und kulturellen Rahmenbedingungen des Verwaltungshandelns und inneradministrativer Prozesse interessieren. In jüngerer Zeit werden diese institutionalistischen Perspektiven – wie auch in anderen Bereichen der Politikwissenschaft – durch ein Interesse an behavioralistischen Perspektiven (Behaviorismus, Behavioralismus) und Fragestellungen abgelöst, die analytisch auf der Ebene individueller Akteure ansetzen.

Die Untersuchung des Verhältnisses von Politik und Verwaltung bildet einen roten Faden, der sich durch alle Themenkonjunkturen zieht: Seit den 1970er Jahren wurde und wird die politische und bürokratische Rollenteilung ebenso analysiert wie regierungsinterne horizontale wie vertikale Koordination und Kommunikation in und zwischen Ministerien. In der Implementationsforschung und der Steuerungsperspektive ging es auch um die Frage, ob und wie sichergestellt werden kann, dass politische Entscheidungen durch die Verwaltung umgesetzt werden. Diese Frage ist auch in der lokalen Politikforschung zentral, also jenem Bereich der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung, der sich vornehmlich mit der kommunalen Ebene befasst.

Insgesamt zeichnet sich V.s-Forschung dadurch aus, dass sie nicht über einen eigenen Korpus an Theorien verfügt oder gar eine große „Theorie der Verwaltung“, sondern sich am theoretischen Repertoire der Politikwissenschaft, insb. der Policyforschung, aber z. B. auch der Organisationstheorie (Organisation) bedient. Methodisch dominierten lange Zeit qualitative Fallstudiendesigns, die in den letzten Jahren zunehmend durch quantitative Designs (z. B. Survey-Untersuchungen) sowie jüngst auch experimentelle Methoden ergänzt werden.

3. Praxisorientierung und Politikberatung

Die V. war und ist immer auch eng mit der Praxis verknüpft, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass die Beschäftigung mit Verwaltungsreformen ein Dauerthema ist, welches insb. die 1990er Jahre mit dem Reformtrend des NPM und der deutschen Version des Neuen Steuerungsmodells prägte. Mit dem Begriff „NPM“ wird ein Reformtrend bezeichnet, der im Kern darauf abstellt, Konzepte und Methoden des privatwirtschaftlichen Managements in den öffentlichen Sektor zu übertragen, um ihn effizienter und effektiver werden zu lassen. NPM dominierte die Reformdiskussion in vielen OECD-Ländern und es wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Reforminstrumente unter diesem Schlagwort diskutiert: So sollte etwa input-orientierte Steuerung von Verwaltungshandeln durch zielorientierte Steuerung abgelöst werden und Personal- und Haushaltsmanagement auf Performanceorientierung oder Doppik ausgerichtet werden. Vergleichende Untersuchungen zeigen, dass diese Reformideen in den OECD-Ländern sehr unterschiedlich umgesetzt wurden und dass die deutsche Verwaltung sehr zögerlich reformiert wurde. Mit dem Neuen Steuerungsmodell hatte die KGSt 1993 ein Verwaltungsreformmodell erarbeitet, welches sich an NPM-Ideen orientierte und fortan Reformbemühungen insb. in den Kommunen prägte. Obgleich diese Zeit als Hochphase der Verwaltungsreformforschung gesehen werden kann, sind mit der Erforschung von „Besserer Rechtsetzung“, Bürokratieabbau oder in jüngerer Zeit public sector innovation internationale Reformtrends dauerhafter Untersuchungsgegenstand der V. Verwaltungswissenschaftlerinnen und Verwaltungswissenschaftler sind seit jeher auch in der Beratung von Politik und Verwaltung (Politikberatung) aktiv – nicht nur, aber v. a. in Fragen der Verwaltungsreform. So entstammen zahlreiche Gutachten zur Verwaltungsreform in verschiedenen Bundesländern Federn von Verwaltungswissenschaftlerinnen und Verwaltungswissenschaftlern, die auch regelmäßig Mitglieder in Reformkommissionen sind.

4. Lehre

An der damals noch jungen Universität Konstanz wurde 1968 der erste grundständige V.s-Studiengang in Deutschland eingerichtet, in dem ein verwaltungswissenschaftliches Diplom erworben werden konnte. Mit der Neugründung der Universität nach der Wiedervereinigung wurde dann auch 1996 in Potsdam der Studiengang Diplom-V. eingerichtet. Mittlerweile bieten beide Universitäten einschlägige Bachelor- und Masterstudiengänge an – letztere z. T. auch in englischer Sprache. V. wird darüber hinaus traditionell auch an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer gelehrt, die neben dem Angebot an Rechtsreferendare, dort eine V.s-Station zu absolvieren, einen V.s-Masterstudiengang anbietet. Des Weiteren gibt es etwa mit dem Master of Public Policy an der Hertie School in Berlin und den Bachelor- und Masterstudiengängen „Politics, Administration & International Relations“ an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen Studiengänge mit einem V.s-Schwerpunkt. Daneben bieten eine Reihe politikwissenschaftlicher Institute etwa in Hannover, Bochum oder München V.s-Lehrangebote im Rahmen politikwissenschaftlicher Bachelor- und Masterstudiengänge an und z. B. die Universität Kassel einen Master-Studiengang mit einem Public Management-Schwerpunkt. An den zahlreichen verwaltungsorientierten Studiengängen der Fachhochschulen ist die Ausbildung sehr praxisnah und Inhalte der politikwissenschaftlichen Verwaltungsforschung haben i. d. R. nur einen geringen Anteil.

5. Internationale Ausrichtung

Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern sind die politikwissenschaftliche Verwaltungsforschung und die entspr.e wissenschaftliche Community in Deutschland klein. Während die V. in den skandinavischen Ländern zum Kernbestand der Politikwissenschaft gehört, war die Etablierung in Deutschland lange umstritten. Gleichwohl – oder vielleicht auch gerade deshalb – ist die V. mittlerweile international orientiert. Einschlägige Fachkonferenzen wie etwa die Jahrestagung der European Group of Public Administration oder einschlägige Workshops oder Panels im Rahmen der wichtigen politikwissenschaftlichen Konferenzen etwa des European Consortium for Political Research zeigen nicht nur, dass die V. insgesamt sehr international ausgerichtet ist, sondern dass auch die deutschen Verwaltungswissenschaftlerinnen und Verwaltungswissenschaftler dort regelmäßig anzutreffen sind. Darüber hinaus sind viele Forschungsprojekte und -interessen mittlerweile international vergleichend ausgerichtet und/oder werden in internationaler Kooperation bearbeitet. Während sich eine genuin vergleichende V. derzeit noch entwickelt, liegen aus vielen Ländern umfassende und vielfältige Einzelfallstudien zu zahlreichen Fragestellungen vor.