Erlebnisgesellschaft
Der Begriff E. geht zurück auf das gleichnamige Werk Gerhard Schulzes „Die E.: Kultursoziologie der Gegenwart“ (erstmals ersch. 1992) und beschreibt den Typus einer Gesellschaft, in der Subjektzentriertheit und Innenorientierung den Aufbau und die Struktur der Sozialwelt präformieren. Als Momentaufnahme der BRD Ende der 1980er Jahre bildet der Begriff E. „einen historischen Spezialfall der Großgruppengliederung“ (Schulze 2005: 21) in sogenannte soziale Milieus – Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen (Gruppe) und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abgrenzen.
Ausgangspunkt der Analyse G. Schulzes bildet die Annahme, dass allen Individualisierungstendenzen (Individualisierung) zum Trotz intersubjektive Muster des Erlebens, sogenannte alltagsästhetische Schemata (Hochkultur-, Trivial-, Spannungsschema), die bundesdeutsche Wohlstandsgesellschaft sowohl auf der Ebene der unzähligen ästhetischen Zeichen als auch auf der Ebene subjektiver Deutungen strukturieren. Im Sinne einer kollektiven „Kodierung des Erlebens“ (Schulze 2005: 128) reduzieren jene Schemata die unendliche Fülle der Möglichkeiten, die Welt zum Objekt des Erlebens zu machen, auf eine überschaubare Anzahl von Regelmäßigkeiten und Routinen, und formieren folglich „Deutungsgemeinschaften“ (Schulze 2005: 129), Typen distinkter Erlebnisrationalität.
Gemeinsam ist diesen Rationalitätstypen die Ausrichtung auf den psychophysischen Akt des Erlebens selbst; das „Projekt des schönen Lebens“ (Schulze 2005: 35) wird zum existenziellen Kernproblem. In einer Hermeneutik persönlicher Stile expliziert der Autor drei Bedeutungsebenen, mit deren Hilfe das Subjekt eine individuelle „Erlebnisgestalt“ (Schulze 2005: 107) vor dem Hintergrund kollektiver Wahrnehmungs- und Deutungsroutinen konstruiert: Genuss als individueller Erlebnisanreiz, Lebensphilosophie als Ausdruck grundlegender Handlungsorientierung und Distinktion als Ausdruck sozialer Unterscheidung.
„Sein“ heißt unter spätmodernen Bedingungen „anders sein“, und im Anderssein wird die eigene Position im gesellschaftlichen Sozialgefüge definiert; jedoch nicht im Sinne des Klassenparadigmas als Verhältnis von Herrscher und Beherrschtem, sondern in der Feststellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Nähe und Distanz. Distinktion ist Differenz, ist „anti-“, ist implizite und explizite Darstellung jener Andersartigkeit.
„Geschmack als bevorzugtes Merkmal von ‚Klasse‘“ (Bourdieu 2014: 18) wird abgelöst von Genuss als Merkmal freier Erlebnis-Wahl. Weder Qualität noch Nutzen noch Reichtum gelten als valide Kriterien für die Konsumentscheidung; die psychophysische Wirkung ist primäres Entscheidungskriterium. So konstatiert Ute Volkmann (2007) eine Verlagerung der „Handlungsziele der Akteure [in der E.] von der Situation in das Subjekt“ (Volkmann 2007: 79), sowie einen dieser Veränderung auf kognitiver Ebene entsprechenden Wandel auf der Handlungsebene. Im Zentrum steht das Subjekt als „innenorientierte[r] Situationsmanager“ (Volkmann 2007: 87), das sich angesichts eines scheinbar unendlichen Möglichkeitsraums, Welt zu erleben, sozusagen freiwillig selbst beschränkt. Es sucht Ordnung und Orientierung, und findet beides in den alltäglichen Erlebnisroutinen, in Stil, Alter und Bildung der anderen. Das „moderne Individuum“ in der E. vergemeinschaftet sich selbst in relativ stabilen gesellschaftlichen Großgruppen, sogenannten sozialen Milieus.
Soziale Milieus werden definiert „als Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben“ (Schulze 2005: 174). Das Element der Binnenkommunikation bewirkt milieuintern eine ähnliche Verarbeitung äußerer Bedingungen und Geschehnisse durch eine gruppenspezifische Verdichtung von Sozialkontakten und in Folge dessen intersubjektive Angleichung sowie die „Entstehung von Gruppenbewußtsein“ (Schulze 2005: 174).
G. Schulze unterscheidet vor dem Hintergrund alltagsästhetischer Schemata sowie unter Einbezug der evidenten und signifikanten Zeichenkonfiguration Alter, Bildung und Lebensstil fünf soziale Milieus: Unterhaltungs-, Selbstverwirklichungs-, Integrations-, Harmonie- und Niveaumilieu. In abermals deutlicher Differenz zum Klassenparadigma lassen sich jene Großgruppen jedoch in keinerlei Rangordnung bringen. Statt hierarchisch und vertikal strukturiert, sind soziale Milieus auf horizontaler Ebene voneinander unterschieden ohne die Bedingung räumlicher Segregation. Arbeit und Beruf, Einkommen und Besitz haben ihre sozialstrukturelle Bedeutung weitestgehend verloren. Lebensweise und Sozialstruktur werden sozusagen entkoppelt, die materielle Grundsituation der Überversorgung löst die primäre Perspektive der Ressourcenverteilung auf, Gesellschaft wird entvertikalisiert.
Das heuristische Programm des Autors leitet sich von der Annahme ab, dass das Grundverhältnis von Subjekt und Welt ein subjektzentriertes ist; Individualisierung bedeutet folglich „nicht Auflösung, sondern Veränderung von Formen der Gemeinsamkeit“ (Schulze 2005: 24). Diesseits persönlicher Singularität wird das Vorhandensein eines Gegenstandsbereichs postuliert, den der Soziologe in der Rekonstruktion kollektiver Konstruktionen und intersubjektiver Strukturen der bundesdeutschen Überflussgesellschaft der 1980er Jahre skizziert. Damit setzt G. Schulze an der gesellschaftlichen Mikroebene an, um dann den Blick auf die großen sozialen Gruppen zu richten. Wie Harald Funke (2000) treffend formuliert, gelangt der Autor argumentativ „zu einer Theorie der Restrukturierung auf der Grundlage der vorhergegangenen Entstrukturierung“ (Funke 2000: 316). Kultur selbst generiere folglich Sozialstruktur (Funke 2000: 328).
Mit seinem Werk hat G. Schulze nicht lediglich fachinterne Diskussionen in der Lebensstil- und Milieuforschung, der Sozialstrukturanalyse und Kultursoziologie befördert, sondern darüber hinaus Anknüpfungspunkte für die Konsum- und Marketingforschung geliefert, welche als detaillierte Zielgruppenbestimmung insbesondere im Rahmen der SINUS Sozial- und Marktforschung eine Ausweitung u. a. auf die Bereiche Pädagogik, Kirche und Publizistik sowie Politik und Wirtschaft erfahren hat. Vor dem Hintergrund von Struktur- und Wertewandel dient v. a. der persönliche Lebensstil als Kompass für die gezielte Platzierung von (Erlebnis-)Produkten und Dienstleistungen, politischen Programmen und medialer Themensetzung. Darüber hinaus hat sich der Terminus E. selbst zu einem zentralen zeitdiagnostischen Deutungsschema entwickelt, das bis heute der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung dient.
Alltagsästhe-tische Schemata | Typische Zeichen (3 Beispiele) | Bedeutungen | ||
---|---|---|---|---|
Genuss | Distinktion | Lebens-philosophie | ||
Hochkulturschema | Klassische Musik, Museumsbesuch, Lektüre „guter Literatur“ | Kontemplation | anti-barbarisch | Perfektion |
Trivialschema | Deutscher Schlager, Fernsehquiz, Arztroman | Gemütlichkeit | anti-exzentrisch | Harmonie |
Spannungsschema | Rockmusik, Thriller, Ausgehen (Kneipen, Discos, Kinos usw.) | Action | anti-konventionell | Narzissmus |
Tab. 1: Alltagsästhetische Schemata im Überblick
Quelle: Schulze 2005: 163
Literatur
P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, 242014 • U. Volkmann: Das Projekt des schönen Lebens – Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“, in: U. Schimank/U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, 22007, 75–89 • G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart, 22005 • H. Funke: Erlebnisgesellschaft, in: G. Kneer/A. Nassehi/M. Schroer (Hg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe: Konzepte moderner Zeitdiagnosen, 22000, 305–331 • F. Zerger: Klassen, Milieus und Individualisierung, 2000.
Empfohlene Zitierweise
L. Friedrich: Erlebnisgesellschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Erlebnisgesellschaft (abgerufen: 23.11.2024)