Modernisierung
M. bezeichnet in den Sozialwissenschaften einen geschichtlichen Prozess, in dem Gesellschaften, die durch agrarische Subsistenzwirtschaft, handwerkliche Produktion und einfachen Handel gekennzeichnet sind, sich in Industrie–, Konsum- und Dienstleistungsgesellschaften entwickeln. Er geht einher mit komplexen Veränderungen in den sozialen Strukturen, Institutionen und Mentalitäten, die mit Begriffen wie Rationalisierung, Bürokratisierung, Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung, soziale Mobilisierung etc. zusammengefasst werden. M. ist ein unabschließbarer Prozess. Auch moderne Gesellschaften stehen vor der Anforderung, sich weiter zu modernisieren. Er steht damit für einen Zustand, in dem Gesellschaften sich nicht mehr über Statik (kosmologische, soziale, politische Ordnungsmodelle), sondern über ihre Dynamik (Entwicklung, Fortschritt, Differenzierung) verstehen.
1. Begriffsgeschichte
Die Bedeutungsgeschichte des Begriffs entwickelt sich vom disqualifizierenden Attribut „modern“ über den ambivalenten Epochenbegriff „die Moderne“ bis zu säkular-eschatologischen Hoffnungen auf „M.“ als Ziel und Ende der Geschichte (Geschichte, Geschichtsphilosophie). Mit dem Gegensatzpaar antik/modern war seit der Renaissance die Frage verbunden, ob Kunstwerke der Gegenwart einen gleichen Rang erreichen könnten wie die bewunderte Kunst der Antike. Erst in der Querelle des anciens et des modernes wurde das Moderne im 17. Jh. aufgewertet, indem nicht mehr die einzelnen Kunstwerke verglichen, sondern als Ausdruck der Größe des Zeitalters Ludwigs XIV. summarisch mit der Fortschrittsidee (Fortschritt) verbunden wurden. Die Fortschrittsidee entstand im Mittelalter aus der Möglichkeit zur Kumulation von Wissen über Generationen hinweg (Francis Bacon) und wurde nach und nach auf andere Bereiche übertragen. Bei Voltaire ist die humanistische Vorstellung, dass der Antike prinzipiell ein Vorrang gebühre, aufgebrochen. Die Kulturerscheinungen werden nun kollektiv als Ausdrucksformen eines Zeitalters angesehen, das sich, durch Aufklärung befördert, als Ganzes über die vergangenen erheben könne. Von Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet auf die Geschichte des Menschen generalisiert, übertrug sich dieser Fortschrittsgedanke im 19. Jh. auch auf soziale Ordnungen, die im neuen Begriff „Gesellschaft“ substantialisiert werden konnten. Weil die Wissenschaft voranschreitet, wird es auch zunehmend gelingen, die Gesellschaft nach ihren Erkenntnissen rational einzurichten (Auguste Comte). Im Vorwort zum „Kapital“ formulierte Karl Marx den universellen Grundsatz aller M.s-Theorien: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft“ (MEW 23: 12). Diese Vorstellung verband sich mit dem Epochenbegriff (Epoche) Moderne, der ab 1900 aus der Reflexion auf sich ablösende Stilformen in der Kunst entstanden war und in der kolonial entfalteten Dominanz Europas seine Bestätigung sah.
2. Modernisierungstheorien
Die sozialwissenschaftlichen M.s-Theorien als Verbindung von europäischer Fortschrittsidee und amerikanischem Pragmatismus entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg als Alternative zu den marxistischen Entwicklungsmodellen (Marxismus). Während man im 19. Jh. davon ausging, die Kolonie durch den Einfluss des kolonialen Mutterlandes an dessen Zivilisation anzupassen, ging die klassische M.s-Theorie von der Überzeugung aus, dass der Westen insgesamt ein Modell wirtschaftlichen Wachstums, politischer Demokratisierung und sozialer Mobilität realisiert habe, das als universelles Vorbild der Entwicklung aller Gesellschaften vorangehe. Talcott Parsons identifizierte Bürokratie, Marktordnung, Rechtssystem und Demokratie als evolutionäre Universalien jeder Gesellschaftsentwicklung und prognostizierte auf dieser Grundlage den Untergang des sowjetischen Systems. Im Zentrum der M.s-Theorien steht die Idee, dass Wirtschaftswachstum notwendig zu einer Transformation der sozialen Ordnung, zu Marktwirtschaft, Rechtsstaat und liberaler Demokratie führen müsse. Walt Whitman Rostow entwickelte eine Stufentheorie, nach der ab einem gewissen Grad der Kapitalakkumulation die Phase des „Take-Off“ eintrete, durch die traditionelle Gesellschaften in moderne umgewandelt würden. Daniel Lerner ging dagegen von einem gleichmäßigen Wachstum der Sektoren aus:
a) ein selbständiges Wachstum von Produktion und Konsum,
b) zunehmende Partizipation an demokratischen Entscheidungsprozessen,
c) Verbreitung säkular-rationaler Werte,
d) Mobilität als persönliche Freiheit zur physischen, sozialen und psychischen Bewegung und
e) ein sozialpsychologisch neuer Persönlichkeitstypus, der durch Empathie und Flexibilität gekennzeichnet ist und einen neuen Lebensstil schafft.
Die klassischen M.s-Theorien gingen von der Vorstellung aus, dass gesellschaftliche Entwicklung ein weitgehend endogener Prozess sei, der allerdings von außen durch das Vorbild entwickelter Gesellschaften, durch zwischengesellschaftliche Kommunikation und durch Entwicklungspolitik aktiv und passiv gefördert werden könne (Sogtheorie). Im irreversiblen Prozess der M. würden Gesellschaften mit unterschiedlichen traditionalen Ordnungen (Sklavenhalter, Stände- oder Kastensysteme) immer ähnlicher werden (Konvergenzthese).
Die M.s-Theorie entwickelte ihre politische Wirkung in der Transformation Westdeutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg in demokratische Marktwirtschaften. Sie lieferte eine theoretische Grundlage für den Aufbau einer globalen Entwicklungspolitik nach der Entkolonialisierung. Sie war insofern immer Analyse eines eigengesetzlichen Prozesses und gleichzeitig politischer Auftrag. Sie war verbunden mit der Hoffnung, über umfassende, sozialwissenschaftlich angeleitete Planungsprozesse eine „participant society with self-sustaining growth capability“ (Lerner 1968: 394) anstoßen und global verwirklichen zu können. Dann werde es der Menschheit gelingen, fundamentale Gegensätze zu überwinden und ein Bewusstsein für die menschliche Würde als zentralen gemeinsamen Wert zu entwickeln. Da Freiheit und Gleichheit naturrechtliche Eigenschaften (Naturrecht) des Menschen seien, argumentierte Dolf Sternberger, sei die moderne Gesellschaft zugl. die spezifisch menschliche Gesellschaft. Aus dieser geschichtsphilosophischen Endzeithaltung speiste sich Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte nach der Durchsetzung des westlichen Entwicklungsmodells gegen die sozialistischen Alternativen. Insofern stecken im Begriff der M. auch Elemente einer säkularen Heilsgeschichte, der Glaubensgeschichte der Moderne.
Aus der Perspektive der M.s-Theorie wurden nun auch die soziologischen Klassiker nach Aussagen durchsucht, die sich als universelle Entwicklungsgesetze interpretieren lassen, obgleich diese den Terminus „M.“ noch nicht gebraucht hatten. A. Comtes Grundgesetz des Fortschritts ins positive Zeitalter, die Krise des Übergangs und die Rolle der Soziologie als Krisenbewältigungswissenschaft, Herbert Spencers Theorie der Evolution von homogenen zu heterogenen Gesellschaften, Émile Durkheims Unterscheidung zwischen Gesellschaften mechanischer und organischer Solidarität, Georg Simmels Theorie der Individualisierung durch Kreuzung sozialer Kreise, Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft und Max Webers Idealtypus des okzidentalen Rationalisierungsprozesses wurden in den Bestand der M.s-Theorie inkorporiert.
Im Kontext der Entwicklungspolitik stand ihr in den 1960er und 70er Jahren die postmarxistische Dependenztheorie als konkurrierendes Modell gegenüber, die das Verhältnis zwischen Industriegesellschaften und den Ländern der Dritten Welt primär als durch Ausbeutungsverhältnisse (Ausbeutung) bestimmt und die Entwicklungsunterschiede in Machtbeziehungen begründet sah. Abgelöst wurde diese Kritik durch postkoloniale Theorien (Postkolonialismus), die der M.s-Theorie vorwarfen, koloniale Herrschaftsverhältnisse eurozentrisch über ein Entwicklungsmodell zu verlängern. Die Unterschiede zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern seien in erster Linie als Folge des Kolonialismus zu verstehen. Zugl. wurde das normative Ideal des westlichen Entwicklungspfades durch die Entdeckung der Widersprüche und Ambivalenzen der Moderne erschüttert, das sich aus der geschichtlichen Aufarbeitung moderner Katastrophen, v. a. des Holocaust (Shoa), speiste und zu einer Analyse der dunklen Seiten der M. (jakobinische Bewegungen, Fundamentalismus) führte. Eine generelle Kritik des Wachstums (Club of Rome) verstärkte die Zweifel im richtigen Entwicklungsmodell der westlichen Moderne, das sich durch den Begriff der Nachhaltigkeit zu sanieren versucht, der als ökologische Komponente die M.-Vorstellungen gegenwärtiger Entwicklungspolitik begleitet.
In dieser Lage formalisierte sich die empirische Forschung zur M., indem sie sich auf quantitativ überprüfbare Indikatoren wie BSP, Lebenserwartung und Bildungsbeteiligung zurückzog, die vergleichend erhoben werden können und mathematisch exakte, „kulturunabhängige“ Kriterien der Unterscheidung versprechen, um den universalen Anspruch der Theorie aufrechtzuerhalten. Hier läuft der weltanschauliche Überschuss der M.s-Theorien in den ländervergleichenden Datenreihen der UNESCO aus. Einen anderen Weg zur Reformulierung der M.s-Theorie geht Shmuel Noah Eisenstadt mit seiner Theorie der multiplen Moderne. Im Rückgriff auf M. Webers universalgeschichtliche Analysen konstatiert er, dass die Konvergenzthese nicht bestätigt sei und sich eine Vielfalt moderner Gesellschaften entwickelt habe, in der die verschiedenen institutionellen Sphären wie Wirtschaft, Politik, Religion und Familie unterschiedliche Formen angenommen hätten. S. N. Eisenstadt überführt die M.s-Theorie in eine vergleichende Zivilisationsanalyse, die Verwandlungen der europäischen Moderne durch die USA in den Blick nimmt, um dann die Umbildungen in Asien zu analysieren. Konstitutiv sind dabei die Spannungen zwischen den universalistischen Elementen der Moderne und den partikularistischen Traditionen, wie sie sich in Gemeinschaftsformen oder Religionen institutionalisiert haben. Diese Spannungen lassen sich in unterschiedlicher Weise auflösen oder selbst institutionalisieren, woraus sich die Varianz modernisierter kultureller Ordnungen erklären lasse, die von Säkularisierung und Laizismus bis hin zu einer neuen konstitutiven Bedeutung von Religion reicht. Gerade die Dynamik der M.s-Prozesse könne zu Retraditionalisierungen führen, indem soziale Gruppen neue Identitätsformen (Identität) ausbilden und als Gegenuniversalismen generalisieren, die dann wiederum in Konkurrenz zum westlichen Modell stehen und es durch Kritik zum Partikularismus erklären. Insofern wird bei S. N. Eisenstadt das rationalistische Konsensmodell der klassischen M.s-Theorie durch ein dialektisches Konfliktmodell heterogener, aber verwobener M.s-Prozesse abgelöst.
3. Theorien der Moderne
Während sich der Glaube an die Universalität der westlichen Moderne auf der einen Seite zu einem selbstverständlichen Weltbild sedimentiert hat und als Grundlage der Globalisierungs- und Weltgesellschaftstheorien (Globalisierung) dient, die die Entwicklungsvisionen ablösten, wurde er auf der anderen Seite kritisch unterhöhlt, bis hin zur postmodernen Dekonstruktion aller Merkmale von Modernität. An der Schnittstelle entstand eine gegenwartsdiagnostische Dauerdebatte über die nach innen gewendete Frage, was die moderne Gesellschaft auszeichne. Sie schlägt sich in wechselnden Theorien der Moderne nieder, die in ihrem Grundkonsens das Weltbild einer globalisierten Deutungselite formulieren. Jürgen Habermas schließt insofern an die geschichtsphilosophische Dimension der M.s-Theorien an, als er das Projekt der Moderne für unabschließbar hält. Der fundamentale Pluralismus, der sich aus der Freiheit und Gleichheit der Einzelnen ergebe und über vernunftgeleitete Kommunikation durch Verfahren vermittelt werde, bedarf der institutionell abgesicherten Dauerreflexion, die Konflikte auch von Identitätsentwürfen diskursethisch (Diskursethik) entschärfen kann. Für Niklas Luhmann ist die moderne Gesellschaft durch funktionale Differenzierung bestimmt, was zu einer dynamischen Selbstbestimmung führe, da Modernitätsmerkmale von gestern nicht die von morgen seien, aber eben darin ihre Modernität liege. Der Begriff der Moderne sei die Kontingenzformel, mit der funktionale Differenzierung die Varianzbreite ihrer Evolution thematisiere. Wissenschaftsintern lösten die Differenzierungstheorien die M.s-Theorien ab, ohne jedoch im Politisch-Weltanschaulichen eine vergleichbare Wirkung erzielt zu haben.
Die geschichtsphilosophische Dimension der klassischen M.s-Theorien zeigt sich in der Alternativlosigkeit des Begriffs der Moderne, der in der Paradoxie steckt, auf permanente Dynamik angelegt zu sein, aber genau in diesem Merkmal seine Statik zu finden. So kommt es zu neuen Stufentheorien der Modernität, wie sie etwa Ulrich Beck in der Ablösung der klassischen Moderne der Industriegesellschaft durch die reflexive oder zweite Moderne der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft sieht. Auch die Theorien der Postmoderne dekonstruieren die Meta-Erzählungen der Moderne, indem sie eine neue installieren. Versuche, die M.s-Theorie rein diskurstheoretisch wiederzubeleben, verbleiben im kritischen Modus und entwickeln keine Relevanz für politische Programme. Insofern dominiert eine habituelle Vorstellung von Modernität als Lebensstil, der durch digitale Medien, globalen Lebensbezug, Gruppenidentitäten und gegenseitige Anerkennung gekennzeichnet ist, aber in seiner moralpolitischen Geltungszumutung den institionsbegründeten Universalismus der klassischen M.s-Theorien politisch beerbt. Bruno Latour argumentiert, dass die zentrale Rolle von Hybriden, von Dingen, die in der Moderne als menschliche Schöpfungen unlöschbarer Teil der Handlungswelt geworden sind, nie anerkannt wurde, indem die soziologischen Theorien sich stets auf den Menschen fokussierten und die Dinge durch eine große Reinigungsarbeit ausschlössen. In diesem Sinne seien wir nie modern gewesen.
Peter Ludwig Berger hatte in seiner wissenssoziologischen Analyse (Wissenssoziologie) gefordert, M. als ein historisches Phänomen unter anderen vom Begriff der Entwicklung abzukoppeln, also auch Prozesse der Entmythologisierung zu untersuchen, wie sie allenfalls in S. N. Eisenstadts Konzept der multiplen Moderne möglich sind. In diesem Sinne steht die Entmythologisierung der M. auch nach ihrer Dekonstruktion noch an, um das Konzept weiterhin produktiv in der sozialwissenschaftlichen Forschung anwenden zu können: als idealtypisches Prozessschema, das es erlaubt, Varianzen, Alternativen und Regressionen jenseits von normativen Geltungsfragen zu diskutieren.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
C. Albrecht: Modernisierung, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Modernisierung (abgerufen: 25.11.2024)