Soziale Mobilität
1. Definitionen
Mobilität nennt man Positionswechsel von Menschen innerhalb räumlicher oder sozialer Strukturen. S. M. werden Positionswechsel in sozialen Gefügen (z. B. in beruflichen Strukturen) genannt.
S. M. lässt sich nur vor dem Hintergrund eines Bezugssystems verstehen und erfassen, das die zugrundeliegenden Strukturen abbildet (z. B. Berufsgruppen, soziale Schichten, Einkommensklassen). Art und Ausmaß der ermittelten Mobilität hängen von Art und Differenzierungsgrad der jeweils verwendeten Bezugskategorien ab.
S. M. kann horizontale oder vertikale Mobilität sein. Wer horizontal mobil ist, verändert die Art, nicht aber den Rang seiner sozialen Position. Es kann sich hierbei u. a. um den Wechsel von Arbeitsplätzen, Berufen, Betrieben, Unternehmen, Branchen, Wirtschaftssektoren, aber auch um die Veränderung von Religion, Konfession, Staatsangehörigkeit, Nationalität, sozialem Milieu, Lebensstil, Lebensform (Familie, Single etc.) handeln.
Wer vertikal mobil ist, verändert den Rang seiner sozialen Position und steigt auf oder ab. Das ist u. a. möglich im Hinblick auf den Erwerbsstatus (vollzeiterwerbstätig, teilzeiterwerbstätig, prekäre Erwerbstätigkeit, erwerbslos), den formalen Bildungsgrad, den Berufs(prestige)status, das Einkommen, die Klasse oder Schicht.
Man unterscheidet u. a. intergenerationale Mobilität (Auf- und Abstiege im Vergleich zur Stellung der Eltern) und intragenerationelle Mobilität (Auf- und Abstiege im Verlauf der eigenen Karriere) sowie individuelle Mobilität (ein begabtes Arbeiterkind wird Lehrer) und strukturelle Mobilität (die Lehrerschaft wird akademisch gebildet und steigt auf).
Die dargestellten Mobilitätsarten schließen sich nicht aus: So ist mit einer Berufsveränderung häufig ein Auf- oder Abstieg verknüpft.
2. Historischer Rückblick
Häufig besteht die Auffassung, dass traditionale Gesellschaften sozial immobil (gewesen) seien. Erst mit der politischen und gesellschaftlichen Modernisierung (Deutschlands im Laufe des 19. Jh.) hätte die S. M. dramatisch zugenommen. Diese Meinung ist hauptsächlich dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften geschuldet. Historisch trifft sie nur teilweise zu.
Trotz Stände- und Zunftschranken war nicht nur die räumliche, sondern auch die S. M. in mittelalterlichen Gesellschaften häufiger als heute weithin vermutet: Bauern stiegen in den Stand unfreier Bauern ab, Händler und Finanziers, Soldaten oder fürstliche Beamten gelangten in den Adelsstand.
Im 17. und 18. Jh. wurde S. M. infolge der Maßnahmen absolutistischer Fürsten systematisch herbeigeführt: So erhielten „Freimeister“ Privilegien zur Gründung von „Verlagen“ (organisierte Heimarbeit) und Manufakturen; Adelstitel wurden z. T. käuflich.
Im 19. Jh. machten Industrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution), Gewerbefreiheit und das Ende der Leibeigenschaft S. M. zum Massenphänomen: So wurden Landarbeiter, Handwerker, Fuhrleute, Kleinhändler, die der industriellen Konkurrenz unterlagen, zu Fabrikarbeitern. Manche Handwerker stiegen zu Fabrikherren auf. Mobilität war in jeder Hinsicht zum Anspruch einer modernen Gesellschaft geworden.
3. Neuere empirische Befunde
Unter den Prozessen horizontaler Mobilität wurden v. a. Wechsel der Erwerbsarbeit untersucht. Häufig wird unterstellt, die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte habe die Erwerbs- und Berufsverläufe weniger beständig gemacht. Die Daten zeigen jedoch, dass die Beschäftigungsstabilität insgesamt kaum abgenommen hat, obwohl viele Erwerbsbiografien jüngerer Arbeitender durch Arbeitslosigkeit und Zeitverträge in den letzten Jahrzehnten unsteter geworden sind.
Prozesse vertikaler Mobilität werden regelmäßig erforscht, bes. oft Auf- und Abstiege zwischen beruflichen Schichten oder Klassen, die Einkommensmobilität sowie die Wechsel zwischen Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit.
Das strukturell bedingte Ausmaß von Auf- und Abstiegen in bestimmten Gruppen der Gesellschaft wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch den sozialen Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft geprägt. Viele Arbeitsplätze für höher Qualifizierte entstanden neu. Geringer qualifizierte Arbeitsplätze gingen massenhaft verloren. Diese Prozesse äußerten sich in struktureller inter- und intragenerationaler Mobilität, bes. in Ostdeutschland seit 1990. Zwischen 1976 und 2008 sind im Vergleich zur Klassenposition der Väter durchgehend gut die Hälfte der ost- und westdeutschen Frauen und knapp die Hälfte der Männer auf- oder abgestiegen.
Bereinigt von Strukturveränderungen geben individuelle Auf- und Abstiege in andere Berufsklassen den Grad der Chancen(un)gleichheit wieder. Für westdeutsche Männer nimmt der Einfluss der sozialen Herkunft auf die eigene Berufsklassenzugehörigkeit seit den 1970er Jahren beständig ab, die Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) steigt. Für westdeutsche Frauen gilt das jedoch in geringerem Ausmaß. Im Osten Deutschlands nimmt dagegen der Einfluss der sozialen Herkunft deutlich zu.
Dennoch sind im internationalen Vergleich die individuellen Aufstiegschancen der westdeutschen Männer und Frauen immer noch gering. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist damit weniger offen als viele andere. Als Ursachen dafür gelten Bildungsungleichheiten nach der sozialen Herkunft und die eher starre berufliche Prägung von Ausbildung und Arbeitsmarkt. In Ostdeutschland zeigte sich seit den 1990er Jahren zunächst mehr individuelle Mobilität als in Westdeutschland. Zuletzt waren die relativen Aufstiegschancen in Ostdeutschland allerdings geringer als in Westdeutschland.
Die berufliche Karrieremobilität ist in Deutschland ähnlich eingeschränkt wie die intergenerationale Klassenmobilität: Berufliche Karrieren führen in Deutschland weniger weit als in den meisten anderen Ländern. Die Gründe hierfür liegen im hochdifferenzierten und -standardisierten deutschen Berufsausbildungswesen (Berufliche Bildung). Die meisten Berufe haben klare formale Qualifikationsvoraussetzungen. Dadurch ist die Koppelung zwischen Qualifikation und beruflicher Position in Deutschland bes. eng. Einerseits sind dadurch die Berufstätigen gut qualifiziert, andererseits ist die Karrierestruktur wenig durchlässig, auch wenn sich die Abhängigkeit der Karriere vom Ausbildungsnachweis seit den 1970er Jahren etwas gelockert hat.
Weil Erwerbstätigkeit für die weitaus meisten Deutschen die wichtigste Einkommensquelle darstellt, ist Arbeitslosigkeit die häufigste Ursache für Einkommensabstieg und Armut. Nach dem schubweisen Anstieg der Arbeitslosigkeit seit Mitte der 1970er Jahre sank die Zahl der Arbeitslosen seit 2005 deutlich. Arbeitslosigkeit ist unter qualifizierten und hochqualifizierten Erwerbspersonen bis zum Jahre 2018 selten geworden. Unqualifizierte Erwerbspersonen sind allerdings noch hohen Risiken der Arbeitslosigkeit und Armut ausgesetzt, die in den letzten Jahren kaum noch zurückgegangen sind.
Literatur
R. Pollak: Soziale Mobilität, in: StBA/WZB (Hg.): Datenreport 2016, 2016, 209–217 • S. Hradil: Soziale Ungleichheit. Eine Gesellschaft rückt auseinander, in: ders. (Hg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, 2013, 152–184 • K. U. Mayer/D. Grunow/N. Nitsche: Mythos Flexibilisierung? Wie instabil sind Berufsbiografien wirklich und als wie instabil werden sie wahrgenommen?, in: KZfSS 62/3 (2010), 369–402 • R. Pollak: Kaum Bewegung, viel Ungleichheit. Eine Studie zu sozialem Auf- und Abstieg in Deutschland, 2010 • J. Schiener: Bildungserträge in der Erwerbsgesellschaft. Analysen zur Karrieremobilität, 2006.
Empfohlene Zitierweise
S. Hradil: Soziale Mobilität, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Soziale_Mobilit%C3%A4t (abgerufen: 21.11.2024)