Bioethik
I. Philosophisch
Abschnitt druckenAls B. bezeichnet man jenen Bereich der speziellen Ethik, der sich vor dem Hintergrund der biologischen Forschung und der vermehrten Medizintechnik und aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen aus der ärztlichen und medizinischen Ethik entwickelt hat und auch Anwendungsfragen der Biowissenschaften außerhalb des Humanbereichs umfassen kann. Es hat sich weitgehend durchgesetzt, die B. als Bereichsethik anzusehen. Strittig ist aber die Extension des Bereichs. Während der Bereich einerseits mehr oder weniger deckungsgleich mit dem der traditionellen Medizinethik gefasst wird als Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in der Anwendung der Humanmedizin (Medizin) und der zugrundeliegenden Forschung, orientieren sich andere am biologischen Begriff des Lebens oder greifen sogar darüber hinaus auf das Konzept der Umwelt, das der Natur, teilweise sogar auf Fragen der Wirtschaftsethik aus. Der Unsicherheit über die adäquate Begrenzung entspr. der zumindest doppelte terminologische Ursprung: Während André Hellegher das Wort benutzte, um die Lösungsbemühungen zu den aktuellen Problemen der Humanmedizin zu bezeichnen, war für den an karzinogenen Umweltfaktoren interessierten Onkologen Van Rensselaer Potter das Wort bioethics Ausdruck für die Verbindung der neuen biologischen Erkenntnisse mit der Erkenntnis des menschlichen Wertsystems und für das Bemühen der Menschheit, wissenschaftliches Wissen für ihr eigenes Überleben zu nutzen.
1. Entstehungshintergrund
Fragen wie die nach der Verteilung der 1962 neuen und knappen Dialyseplätze in der Klinik in Seattle, nach dem Behandlungsabbruch im Gebrauch der neuen Intensivmedizin wie in dem dramatischen Fall von Karen Ann Quinlan und nach den Kriterien der immer wichtiger werdenden medizinischen Forschung am Menschen wurden durch Skandale deutlich und traten ins öffentliche Bewusstsein. In den 60er Jahren und zu Beginn der 70er wuchs die Überzeugung, dass Lösungen im Rahmen des ärztlichen Standesethos allein nicht zu erwarten waren. Vielmehr entstand eine dreifache Forderung: Die Antwort auf die Problemfälle sollte im Kollektiv gegeben werden (Ethikkommissionen), sie erfordert zumindest in Teilen eine gesellschaftliche Partizipation (Bürgerbewegungen und Patientenverbände) und sie bedarf auch einer akademisch fundierten Expertise (Institute, Zeitschriften, Handbücher).
2. Ansätze
Die Einordnung als Bereichsethik schließt es aus – unabhängig von der Bereichsbestimmung – die B. als bestimmte Ethikschule oder als bestimmte normativ-moralische Position zu verstehen. Die B. umfasst weder vornehmlich utilitaristische Ansätze, noch ist sie, wie in der deutschen Diskussion um die „B.-Konvention“ genannte Entwurfsfassung der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarats (Oviedo-Konvention) unterstellt wurde, vornehmlich durch eine Pro-Einstellung zur medizinischen Forschung gekennzeichnet, noch ist sie, wie von kommunitaristischen Autorinnen gelegentlich suggeriert (Kommunitarismus), überwiegend liberal, liberalistisch oder libertaristisch ausgerichtet. Tatsächlich dauert die Debatte um einen angemessenen philosophischen Ansatz der B. schon mehr als zwei Jahrzehnte. War die B. zunächst damit befasst, Antworten für konkrete Handlungsentscheidungen zur Forschung und ihrer Anwendung zu geben oder vorzubereiten, so hat sich eine Methodenreflexion zunehmend als notwendig erwiesen. In dieser Reflexion haben sich mehrere konkurrierende Ansätze der B. herauskristallisiert. Diese Ansätze greifen allgemeine Theorien der Ethik auf, schreiben sie fort und stellen sie zugleich auf den Prüfstand. Große Wirksamkeit hat der Rekurs auf vier Prinzipien durch Tom Beauchamp und James Childress entfaltet: Die Autoren nennen in ihren „Principles of biomedical Ethics“ als Prinzipien: Autonomie, Wohltätigkeit, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit. Jedes der vier Prinzipien kann prima facie Geltung beanspruchen, d. h. es gilt, solange ihm kein anderes Prinzip widerstreitet. Die Bedeutung der Prinzipien muss in konkreten Handlungsfeldern spezifiziert werden und die Bedeutsamkeit der einzelnen Prinzipien muss in den Entscheidungssituationen jeweils geprüft und abgewogen werden. Die Autoren selbst sehen den Vorteil ihres Ansatzes darin, dass er mit vielen Begründungsfiguren der Moral vereinbar ist. Der Ansatz erfuhr als principlism indes Kritik von ganz unterschiedlicher Seite. K. Danner Clouser und Bernard Gerd machten geltend, der Ansatz sei durch die Gleichrangigkeit der vier Prinzipien und die je neue Rangordnung, die sie in einer Entscheidung einnehmen können, zu beliebig. Man könne an eine inhaltlich gefülltere gemeinsame Moral anknüpfen, die dann auf Einzelentscheidungen applikabel sei. Dies wäre ein Typ der Urteilsbildung, der den Titel „Angewandte Ethik“ in einem eigentlichen Sinne verdienen würde. Ganz anderer Art war die Kritik von Stephan Toulmin und Albert R. Jonsen. Beide deuten den Erfolg der National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavior Research bei der Konsensfindung für eine normative Regulierung der medizinischen Forschung am Menschen in den 70er Jahren wie folgt: Gerade bei der Beurteilung konkreter Situationen und Handlungsentscheidungen finde sich eine weitreichende Übereinstimmung, eine Gemeinsamkeit moralischer Intuitionen als Ausdruck einer handlungsorientierten praktischen Vernunft. Da sich diese Gemeinsamkeit bei der Formulierung von Prinzipien nicht in gleicher Weise fortsetze, rufen sie die durch Blaise Pascal und andere verschmähte Tradition der Kasuistik in Erinnerung und wollen dieses Modell fortentwickeln durch Aufweis von Analogien und Typologien. Auch die feministische Kritik (Feminismus) hat den principlism attackiert. Er folge als formal argumentativer Ansatz spezifisch männlichen Kategorien. Moralität sei demgegenüber vielfach durch rollenspezifische und personale Bindungen verwirklicht. V. a. gegen die stark individualistisch ausgerichtete Ethik der Autonomie stellt sich deshalb die Ethik der Sorge (ethics of care), die im europäischen Rahmen außer auf die feministischen Wurzeln auf die Philosophie von Emmanuel Lévinas rekurriert. Im Diskurs über die Ansätze zeigte sich eine große Einigkeit, dass die Grundlage der ethischen Urteilsbildung in gesellschaftlich akzeptierten moralischen Grundüberzeugungen gesucht werden könne. Wie aber, so die kontrovers angegangene Frage, war auf diese Grundüberzeugungen Bezug zu nehmen – über den Weg der internalisierten Handlungsdispositionen, also durch eine Thematisierung von Tugenden (Tugend), über die Entscheidung im Einzelfall, also durch Kasuistik, über die Anwendung einer ethischen Theorie als angewandter Ethik im strengen Sinne oder über den Rekurs auf personale bzw. rollenspezifische Bindungen wie in der ethics of care? Ohne dass diese Kontroverse aufgelöst wäre, haben drei Ansätze nebeneinander eine gewisse bereichsspezifische Dominanz entfalten können, nämlich der Vier-Prinzipien-Ansatz in der Medizinischen Forschungsethik, die Kasuistik A. R. Jonsens in der an Fallbesprechungen ausgerichteten klinischen Ethik und die ethics of care in der ethischen Ausbildung für die Pflegeberufe.
Neben diesen fortbestehenden verschiedenen bioethischen Ansätzen gibt es zahlreiche Versuche, klassische Ansätze aus der praktischen Philosophie für die B. fruchtbar zu machen. Diese Versuche reichen von tugendethischen Ansätzen unterschiedlicher Art über Rekurse auf Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel und auf verschiedene Gestalten des Utilitarismus bis zu Entwürfen der Philosophie des 20. Jh., darunter den Ansätzen von Hans Jonas und von Alan Gewirth. Zudem zeigte sich der Bezug der B. zur politischen Philosophie in der Bemühung, kommunitaristische Konzepte in der Auswahl bioethischer Themen und der Art ihrer Bearbeitung nutzbar zu machen. Für die neuere deutschsprachige Diskussion ist zudem auf die konkrete Ethik von Ludwig Siep zu verweisen, der ein weites thematisches Spektrum aus Humanmedizin, Tierschutz und Naturethik behandelt und dazu antik-stoische wie auch Hegel’sche Konzepte aufgreift, um sie in eine vom Begriff des Wertes ausgehende holistische Ethik zu integrieren. L. Siep geht von Werteigenschaften des Ganzen der Natur und der Kulturen (Kultur) aus und sieht das Ziel alles menschlichen Handelns in der Erhaltung bzw. Ermöglichung eines „Kosmos“, d. h. einer wohlgeordneten Welt mit den Grundwerten der Mannigfaltigkeit, der Gerechtigkeit, des Gedeihens und Wohlergehens je nach den Stufen der Natur. Daneben hat Ludger Honnefelder den Prozess der Konsensfindung des Europarates zur Anwendung von Biowissenschaften und Medizin einer Deutung unterzogen, in der der normative Ansatz bei den Menschenrechten neben die Ansätze der bioethischen Diskussion in den USA tritt. Die völkerrechtliche Konvention versuche auf der Basis der (für die Mitgliedsstaaten des Europarats rechtlich verbindlichen) EMRK von 1950 – und damit ausgehend vom Gedanken der Menschenwürde und der mit ihr verbundenen Rechte und Freiheiten – Prinzipien und Kriterien zu formulieren, nach denen sich die Anwendung von Biologie und Medizin auf den Menschen zu richten habe und die die grenzübergreifende Diskussion um angemessene Schutzvorkehrungen befördern sollten. Die Prinzipien und Kriterien des medizinischen Handlungsfeldes würden als Konsequenzen eines im Menschenrechtsgedanken strukturierten Prinzipienzusammenhangs betrachtet. Als dessen Kern lasse sich der Gedanke ansehen, dass im Menschen die Anlage zum sittlichen Subjektsein unlösbar mit einer leib-seelischen Natur verbunden sei. Deshalb müsse sich der Anspruch auf Achtung der Würde, die aus dem Subjektsein resultiere, auch auf das Dispositionsfeld dieser Natur beziehen und in entsprechenden Grundrechten niederschlagen, und zwar in dem Maß, in dem es um Potentiale gehe, die für den Vollzug und die Entfaltung des personalen Subjekts unabdingbar seien. Da dazu bspw. die Integrität von Leib und Leben gehöre, ergebe sich das für alle medizinischen Eingriffe relevante Prinzip, dass keine Intervention in die Integrität von Leib und Leben – von der individuellen oder kollektiven Notwehr abgesehen – als legitim betrachtet werden könne, die nicht die Zustimmung des Betroffenen nach entsprechender Aufklärung gefunden hat bzw. bei der diese Zustimmung in qualifizierter Weise nicht unterstellt werden kann. Bei der Gewinnung der für den Bereich der Biomedizin maßgeblichen Prinzipien und Kriterien wie bei der Konkretion dieser Prinzipien zu unmittelbar handlungsleitenden Sätzen spiele eine ethische Urteilsbildung in Form einer praktischen Überlegung eine Rolle, die weder eine Ableitung noch eine intuitive Einzelfallbeurteilung sei, sondern vielmehr zwischen Prinzip und Konkretion vermittle. L. Honnefelders Deutung zeigt, wie die akademische Reflexion auf gesellschaftliche und rechtspolitische Diskussionen Bezug nehmen kann.
3. Bioethik als gesellschaftlicher Diskurs
B. bezeichnet zugleich ein akademisches Themenfeld und eine gesellschaftliche Diskussion. Hier wie dort geht es um ethische Fragen, die mit dem Leben, seinem Wert und seiner Qualität zu tun haben. Während sich B. als akademisches Themenfeld in interdisziplinären Aktivitäten sowie in verschiedenen etablierten akademischen Disziplinen artikuliert und teilweise auch institutionell etabliert hat, erfolgt der öffentliche Diskurs in Schüben oder Wellen, z. T. in hitzigen kontroversen Debatten. Auch diese Debatten sind, wie die philosophische Ethik selbst, ein Symptom der Unsicherheit, die mit Veränderung einhergeht, ein Symptom der Krise moralischer Selbstverständlichkeiten. Zu den weltweiten kontroversen Themen der Debatte zählen die medizinische Forschung, das Klonen, die embryonale Stammzellenforschung, der Hirntod als Kriterium der Organentnahme zu Transplantationszwecken, die Tierforschung und die Nutzung genveränderter Organismen zur Nahrungsmittelgewinnung. Dass die rechtliche Regulierung in den verschiedenen Regionen der Welt in unterschiedlicher Weise erfolgt, erzeugt zusätzlichen Diskussionsbedarf und teilweise den Wunsch nach internationalen Regelungen oder zumindest Minimalstandards. Experten aus der akademischen B. werden immer wieder zu öffentlichen und politischen Beratungsaufgaben herangezogen (Politikberatung), auf regionaler, nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Neben der Einrichtung von Ethikkommissionen und Ethikräten, die v. a. solche Expertise geltend machen, sind auch Konferenzen von divergierenden Interessengruppen vorgeschlagen und durchgeführt worden sowie Laiengremien, die in sogenannten Konsensuskonferenzen zusammengerufen wurden.
4. Themen
Auch in der akademischen B. bleibt ein solcher, am Einigungs- und Regulierungsbedarf ausgerichteter problemorientierter Ansatz der B. vorherrschend. Dennoch geht das akademische Bemühen um Systematisierung über das der öffentlichen Debatte hinaus. Dies gilt etwa für die Debatte um den moralischen Status des Embryos, die die öffentliche Auseinandersetzung um therapeutisches Klonen, PID und embryonale Stammzellenforschung umgreift. Auch mit dem Stichwort des Enhancements, also der nicht auf Therapie von Krankheiten ausgerichteten medizintechnischen Verbesserungsbemühung, hat sich in der akademischen Auseinandersetzung ein Cluster gebildet, welches die Gegenstände der öffentlichen Debatten um Lifestyle-Medikamente, kosmetische Chirurgie, verbessernde gentechnische Eingriffe oder auch Doping im Sport zusammenführt. Eine ähnliche Clusterbildung vollzieht sich für den Bereich der Reproduktionsmedizin, der Gesundheitsökonomie oder auch für ethische Fragen der Ernährung des Menschen. Die Aufgliederung der B. in klar abgegrenzte Bereiche oder Disziplinen hat sich indes nicht durchgesetzt.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
M. Fuchs: Bioethik, I. Philosophisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Bioethik (abgerufen: 21.11.2024)
II. Rechtlich
Abschnitt drucken1. Begriff
Für die rechtswissenschaftliche Befassung mit den Themen und Problemen der B. fand in den USA zunächst der Begriff Law and Bioethics Verwendung. Die zunehmende Fokussierung der Rechtswissenschaften (Rechtswissenschaft) auf Rechtsfragen der B. und die zunehmende Verrechtlichung der B. wurde dann zunächst auf den Begriff Bioethics Law gebracht, bevor der Terminus bio-law aufkam, der im deutschsprachigen Raum als Biorecht, Recht der Biomedizin oder Biomedizinrecht Verwendung findet. Er bezeichnet ein sich zunehmend etablierendes und ausdifferenzierendes Rechtsgebiet, das der rechtlichen Beurteilung zielgerichteter Interventionen im Hinblick auf Leben, Körper, Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Konstitution des Menschen gewidmet und stärker als andere Rechtsgebiete durch Interdisziplinarität und Intradisziplinarität geprägt ist. Biomedizinrecht ist Ergebnis, Faktor und Gegenstand bioethischer Reflexion, aber weder bloße Umsetzung des von der B. als richtig Erkannten noch schlichter Verfassungsvollzug. Biomedizinrecht ist vielmehr das stets vorläufige Resultat demokratisch verantworteter Dezision (Entscheidung) nach bioethischer Reflexion und damit nicht frei von irrationalen Elementen, Kompromissen, Brüchen und Wertungswidersprüchen, die nicht stets das Verdikt der Verfassungswidrigkeit nach sich ziehen. Es umfasst Themen wie das Klonen, Patente auf Leben, Humanexperimente, Fragen der In-Vitro-Fertilisation und der Gendiagnostik, den Schwangerschaftskonflikt (Schwangerschaftsabbruch), Enhancement und Neuro-Enhancement, die Selbstbestimmung am Lebensende und die Transplantationsmedizin.
2. Verfassungsrechtliche Koordinaten
Die verfassungsrechtlichen Koordinaten des Biomedizinrechts ergeben sich in erster Linie aus dem absolut geschützten Menschenwürdegrundrecht (Art. 1 Abs. 1 GG), dem (bio-)informationellen Selbstbestimmungsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), das durchaus auch zugunsten bestimmter Praktiken geltend gemacht werden kann, der vorbehaltlos gewährleisteten Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) der auf diesem Gebiet tätigen Wissenschaftler, der Familiengründungsfreiheit (Art. 6 Abs. 1 GG), die auch die Inanspruchnahme reproduktionsmedizinischer Möglichkeiten umfasst bzw. deren Vorenthaltung rechtfertigungsbedürftig macht, und der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), die auch die geschäftsmäßige Anwendung und Umsetzung von Forschungsergebnissen schützt, aber weitergehenden Einschränkungsmöglichkeiten als die Forschungsfreiheit unterliegt. Noch nicht verfassungsgerichtlich geklärt und in der Literatur seit jeher umstritten ist die Frage, ob auch frühe Embryonen als Träger der Menschenwürde und des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit anzusehen sind. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“, formuliert das BVerfG (BVerfGE 39, 41) in seiner Abtreibungsrechtsprechung „jedenfalls“ bezogen auf die Zeit nach der Nidation und sieht die „Würde des Menschseins […] auch für das ungeborene Leben im Dasein um seiner selbst willen“ liegen (BVerfGE 88, 252). Obwohl das Gericht die Zulässigkeit nidationshemmender Kontrazeptiva ohne weiteres akzeptiert und auch die Vorstellungen des Parlamentarischen Rates bzgl. des „keimenden Lebens“ undeutlich bleiben, geht die heute wohl herrschende Meinung in der Literatur im Ergebnis mit Recht davon aus, dass ab der „Verschmelzung von Samen- und Eizelle“, also dem Abschluss der Befruchtungskaskade auch für den Embryo in vitro voller Menschenwürde- und Grundrechtsschutz besteht. Das entspr. der ähnlich ungenauen Begriffsbestimmung des Embryos in § 8 Abs. 1 EschG, die zahlreiche Fragen aufwirft, etwa nach dem Status anderweitig hergestellter Entitäten, dem Umgang mit den auch in Deutschland in großer Zahl kryokonserviert gelagerten Vorkernstadien und der vorsorglichen „Aufbewahrung“ von Samen- und Eizellen (social freecing). Für die Verfassungsdogmatik besteht die Herausforderung der B. darin, die Leiblichkeit als Grunddimension der menschlichen Subjektivität (Subjekt), die sich nur in Resonanzbeziehungen zum Selbst entfaltet, bei der Bestimmung der Schutzgehalte des Würdegrundrechts und des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit hinreichend differenziert zur Geltung zu bringen und aufzuzeigen, wie weit die Gestaltungsspielräume des demokratisch legitimierten Gesetzgebers reichen und wo sie enden.
3. Gesetzliche Regelungen
Gesetzliche Regelungen, die Fragen der B. betreffen, finden sich u. a. im Strafgesetzbuch, das die Tötung auf Verlangen (§ 216) und seit 2015 auch die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (§ 217) unter Strafe stellt, in den §§ 218–219b StGB den Schwangerschaftsabbruch bei Strafandrohung verbietet, bei medizinischer oder kriminologischen Indikation rechtfertigt und als „nicht tatbestandsmäßig“ bzw. als „rechtswidrig, aber nicht strafbar“ ansieht, wenn er während der ersten zwölf Wochen nach ordnungsgemäßer Beratung von einem Arzt vorgenommen wurde („Beratungslösung“). Ergänzende Regelungen enthält u. a. das SchKG. Das BGB enthält seit 2009 Bestimmungen über die Beachtlichkeit von Patientenverfügungen (Patientenverfügung), die die Selbstbestimmung am Lebensende stärken sollen (§§ 1901a, 1901b, 1904 BGB). Das ESchG aus dem Jahr 1990 setzt der Inanspruchnahme medizinisch assistierender Fortpflanzungstechniken enge Grenzen. Obwohl es in vielerlei Hinsicht durch die Entwicklung der Medizintechnik überholt und reformbedürftig ist, wurde es 2011 lediglich um eine eng begrenzte Zulassung der PID ergänzt. Der Deutsche Ethikrat hat 2016 mit Recht angemahnt, die Rahmenbedingungen für die spätestens seit 2013 auch in Deutschland praktizierte Embryonenspende und -adoption gesetzlich festzulegen. Das StZG gestattet die Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen für Forschungszwecke (Stammzellenforschung) nur ausnahmsweise und nur unter bestimmten, sehr restriktiven Bedingungen, was den Schutz ausländischer Embryonen freilich kaum verbessert. Das 2009 beschlossene und 2010 in Kraft getretene GenDG regelt Zulässigkeit und Modalitäten genetischer Untersuchungen beim Menschen, das AMG (§§ 40–42b) und das MPG (§§ 19–24) Aspekte der Forschung am Menschen bei der klinischen Prüfung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Das 1997 verabschiedete und 2012 mit Einführung der „Entscheidungslösung“ (§ 2 TPG) leicht modifizierte TPG regelt die Rahmenbedingungen der Transplantationsmedizin, zu denen das umstrittene Hirntodkriterium des § 3 als Entnahmevoraussetzung gehört. Den Gesetzgeber stellen Fragen der B. vor die Herausforderung, auf einem hochkomplexen, dynamischen, hochumstrittenen, das Selbstverständnis der Rechtsgemeinschaft existenziell berührenden Gebiet tragfähige Kompromisse zu erarbeiten und zu Regelungen zu finden, die auf der Höhe des medizinischen Wissens sind, sich ohne Rückgriff auf Partikularethiken begründen lassen, hinreichend bestimmt und zugleich hinreichend entwicklungs-, aktualisierungs- und konkretisierungsoffen sind. In die dynamische Regulierung der Fragen der B. hat der Gesetzgeber daher in großem Umfang Ethikkommissionen eingebunden, die wie der Deutsche Ethikrat gesetzesberatend tätig sind, gesetzeskonkretisierend und -aktualisierend wirken wie bspw. die Gendiagnostik-Kommission, oder im Rahmen der Gesetzesanwendung rechtliche Entscheidungen treffen wie die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung und die Ethikkommissionen des Arzneimittel-, Medizinprodukt-, Transfusions-, Röntgen- und Strahlenschutzrechts.
4. Völker- und Europarecht
Da Forschergruppen häufig grenzüberschreitend arbeiten, sich nationale Restriktionen durch Verlagerung entsprechender Aktivitäten ins Ausland umgehen lassen und die Risiken der Bio- und Gentechnologie (Gentechnik) nicht an Landesgrenzen Halt machen, besteht ein Bedürfnis nach Schaffung international verbindlicher Mindeststandards, die aber mangels Konsenses und wegen der Befürchtung, dass nationale Schutzstandards durch sie unterlaufen werden könnten, kaum zu etablieren sind. Schon die 1999 in Kraft getretene Biomedizinkonvention des Europarates etwa, die in engen Grenzen auch die fremdnützige Forschung an Einwilligungsunfähigen zulässt, haben zahlreiche Mitgliedsstaaten des Europarates, darunter Deutschland, u. a. deshalb bisher ebenso weder unterzeichnet noch ratifiziert wie ihre vier Zusatzprotokolle (über das Verbot des Klonens menschlicher Lebewesen, die Transplantation von menschlichen Organen und Geweben, die biomedizinische Forschung und Gentests zu gesundheitlichen Zwecken). Ohne deutschen Protest trat demgegenüber die RL 2001/20/EG in Kraft, die ein der Biomedizinkonvention vergleichbares, auch für Deutschland verbindliches Regelwerk enthält. Aus der komplementären Zuständigkeit der EU für die Forschung resultieren bedeutsame Einflussmöglichkeiten der Union auch im biomedizinischen Bereich, etwa über die Forschungsförderung, die bspw. im Bereich der Stammzellenforschung auch solche Vorhaben umfasst, die einen Embryonenverbrauch voraussetzen oder zur Folge haben, nicht jedoch die Herstellung von Embryonen speziell zu Forschungszwecken oder zur Gewinnung von Stammzellen. Die für das Handeln der Union und die Durchführung ihres Rechts verbindliche EuGRC thematisiert als moderner Grundrechtskatalog in Art. 3 Abs. 2 auch biomedizinische Eingriffe, die sie an eine freiwillige und aufgeklärte Einwilligung bindet, verbietet eugenische Praktiken (Eugenik), die Nutzung von Körpern und Körperteilen zur Gewinnerzielung und das reproduktive Klonen. Regelungen im Bereich der B. finden sich auch in UN-Erklärungen, die allerdings keinen rechtlich bindenden Charakter haben, sondern als Softlaw zu qualifizieren sind, sowie in Übereinkommen der UNO und ihrer Sonderorganisation UNESCO.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
C. Goos: Bioethik, II. Rechtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Bioethik (abgerufen: 21.11.2024)