Sozialphilosophie
Das Nachdenken über den Menschen im Kontext anderer Menschen und als Teil von Gemeinschaften ist so alt wie das Nachdenken über den Menschen im Allgemeinen. Deshalb gilt für den westlichen Kontext, dass es Elemente von S. schon seit der frühen griechischen Philosophie gibt. Allerdings ist die Idee eines klar demarkierbaren Bereichs des Sozialen oder der Gesellschaft gegenüber dem Politischen oder der Natur jüngeren Datums und erst ab der Mitte des 18. Jh. einschlägig. In diesem Sinne fällt der Beginn der S. im engeren Sinne in die Entwicklungsgeschichte der modernen Philosophie, die die Herausbildung der modernen westlichen Gesellschaften mit ihren spezifischen Strukturen und Dynamiken begleitet.
1. Ideengeschichtliche Perspektiven: Die Natur der Gesellschaft
Schon für das antike polis-Denken ist eine Reflexion auf die soziale Natur des Menschen entscheidend. Aristoteles’ berühmte Formel vom Menschen als zoon politikon hat die Vorstellung auf nachhaltige Weise tradiert, dass der Mensch seinem Wesen nach in gemeinschaftlichen Strukturen, in Stadt oder Staat, lebt und diese Gemeinschaft zur Ausbildung einer wahrhaft menschlichen Lebensform braucht. Gleichzeitig ist schon bei Aristoteles diese Frage mit der Überlegung verbunden, dass bestimmte soziale Unterschiede und Hierarchien, zwischen den Geschlechtern oder zwischen Herren und Sklaven, notwendig und naturbedingt sind, als gäbe es das „von Natur Regierende und das von Natur Regierte“ (Aristot. pol. 1252a26–31). Soziale Ungleichheit ist hier somit von Beginn an mitgedacht, allerdings noch weitgehend naturalisiert bzw. mit der Vorstellung einer in sich gegliederten natürlichen oder kosmischen Ordnung verknüpft. Auch für die spätantiken und dann christlichen Anthropologien stellt sich das Problem der zunächst selbstverständlichen und allmählich fragwürdigen faktischen Ungleichheit der Menschen, während sie doch zumindest normativ gesehen als Gleiche (Gleichheit) verstanden werden sollten.
In den politischen Philosophien der frühen Neuzeit wird diese fragwürdige Ungleichheit zum zentralen Problem: Niccolò Machiavelli zieht aus der Brüchigkeit der älteren theologischen oder naturphilosophischen Begründungen von Herrschaft den nüchternen Schluss, dass sich jeder Anspruch auf Vorrang erst praktisch beweisen und gegen Konkurrenten durchsetzen muss. Paradigmatisch bei Thomas Hobbes erscheint nun der Mensch als von Natur aus seinen Mitmenschen gleich, nämlich in seiner existenziellen Gefährdetheit und in der Bedrohung, die er potenziell für andere darstellt. Welche Differenzen und Hierarchien mit menschlichen Mitteln gerechtfertigt werden könnten, wird so zum entscheidenden philosophisch-politischen Problem, auf das die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die für Jahrhunderte gültige Antwort gibt (Vertragstheorien): Nur menschengemachte und zustimmungsfähige Unterordnungen sind legitim; nur gesellschaftliche Ordnungen, die auf bewusster Autorisierung oder Legitimierung beruhen, verdienen Befolgung und Bestand, nur einer auf Konsens begründeten Schaffung einer zentralen Macht gelingt es dauerhaft, „die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen“ (Hobbes 1984: 134).
Um diesen Problemkreis aus natürlichen und künstlichen Unterschieden, legitimer und illegitimer Herrschaft und Macht drehen sich auch die einflussreichen sozialtheoretischen Entwürfe der frühen Moderne. Der Aufklärer Jean-Jacques Rousseau erfindet mit seinen epochemachenden kulturkritischen Schriften (Kulturkritik) in einem gewissen Sinne das Genre des sozialphilosophischen Traktats und prägt zwei entscheidende Denkfiguren: Zum einen artikuliert er eine gewisse Skepsis, ob nicht schon das Leben in Gesellschaft als solches einen Abfall und eine Entfremdung von der „wahren“ menschlichen Natur bedeutet, der Vergesellschaftungsprozess somit als ganzer als Verfallsgeschichte zu betrachten sei. Zum anderen entwickelt er als erster systematisch eine republikanische Vorstellung (Republikanismus) einer weitgehend horizontalen Gesellschaft mit von freien Bürgern selbstgestalteten Institutionen, in denen sich eine kollektive Lebensform finden lässt, die den Einzelnen und seine Freiheit so wenig entfremdet wie möglich existieren lässt.
Beide Motive in ihrer Spannung – ein eher pessimistischer Blick auf Vergesellschaftung als solche und ihm gegenüber eine optimistische politische Philosophie der gelingenden, bald explizit als demokratisch verstandenen Ordnung – haben auch die folgenden sozialphilosophischen Debatten des späten 18. und des 19. Jh. tief geprägt. Bei Alexis de Tocqueville, den Romantikern (Politische Romantik), im Anarchismus (Anarchie, Anarchismus) und später bei Friedrich Nietzsche finden sich skeptische und drastische Beschreibungen, wieviel an individueller Kraft, Kreativität und Integrität das Leben in Gesellschaft abschleift und abschwächt. Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den Frühsozialisten (Sozialismus) und im Liberalismus finden sich dagegen Ordnungsvorstellungen, die die Ansprüche des modernen Individuums mit den Zumutungen moderner Sozialformen zu versöhnen suchen. Bei Karl Marx und in der nun neu entstehenden wissenschaftlichen Konkurrenzdisziplin für die S., der Soziologie, finden sich vermittelnde Formen eines gesellschaftstheoretischen Denkens, das eine beißende Kritik an den vergangenen und gegenwärtigen Herrschaftsformen übt und zugleich realistische oder utopische Alternativen (Utopie) zu ihnen theoretisch ausarbeitet.
2. Macht im Sozialen: Sozialphilosophie im 20. Jh.
In der Philosophie des 20. Jh. verdichten und transformieren sich zahlreiche dieser traditionellen Motive und in einem gewissen Sinne wird die S. erst jetzt zu einem profilierten Reflexionsmedium, das den klassischeren philosophischen Bereichsdisziplinen in nichts mehr nachsteht. Zwei große Linien lassen sich hier zumindest idealtypisch methodisch unterscheiden. Auf der einen Seite finden sich fundamentalphilosophische Entwürfe, die das In-Gesellschaft-Sein des Menschen nun ganz grundsätzlich ausdeuten und ins Zentrum ihrer Philosophien stellen. Viele Entwürfe in dieser Richtung sind inspiriert von Martin Heideggers Analyse des „Mitseins“ als notwendigem existenziellen Modus (Existenzphilosophie), da „Dasein als In-der-Welt-sein je schon mit Anderen ist“ (Heidegger 1986: 125), auch wenn diese in einem ganz anders motivierten theoretischen Rahmen stand. Hannah Arendts originelle Philosophie der Natalität und des „Bezugsgewebe[s] menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 1983: 173) hat eine solche Reflexion energisch weitergetrieben, zahlreiche phänomenologisch orientierte Intersubjektivitätslehren nach Jean-Paul Sartre haben diesen Punkt aufgenommen und weitergeführt. Auch die ganz unterschiedlichen Theorien von Cornelius Castoriadis und von Jean-Luc Nancy lassen sich als solche fundamentale Philosophien menschlicher Relationalität und Bezogenheit verstehen, ebenso die zahlreichen an die Sprachphilosophien des 19. und 20. Jh. anknüpfenden Reflexionen auf die sprachliche und damit wesentlich intersubjektive Vermitteltheit individueller Existenz, etwa bei Charles Taylor.
Auf der anderen Seite stehen Versuche, sich einen eher zeitdiagnostischen und kritischen Reim auf die Sozialverhältnisse der Gegenwart zu machen und hierfür sowohl philosophische als auch soziologische, historische u. a. empirische Perspektiven fruchtbar zu machen. Die Gesellschaftstheorie der frühen Frankfurter Schule (Kritische Theorie) etwa ist als ein solches interdisziplinäres Unternehmen konzipiert, das es erlaubt, die „aufs Große zielenden philosophischen Fragen anhand der feinsten wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen“ (Horkheimer 1988: 30). S. ist hier gewissermaßen der grundbegriffliche Beitrag einer dezidiert nicht-idealistischen, Empirie-offenen Philosophie, die sich kritisch auf die Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Zeit bezieht. Ist hier anfänglich noch die Orientierung am Marxismus und der Psychoanalyse leitend, hat sich diese Programmatik, etwa in der Fortführung durch Jürgen Habermas, auch anderer sozialwissenschaftlicher Ressourcen kritisch bedient; v. a. seit den 1970er Jahren findet sich generell eine fruchtbare, oft polemische Auseinandersetzung der S. mit den soziologischen Entwürfen der Zeit.
Diese multidisziplinäre Ausrichtung zeigt sich auch in den ab dieser Zeit enorm einflussreichen historischen Analysen Michel Foucaults, der sich, ähnlich wie die Frankfurter Schule, an einer kritischen Gegenerzählung zu den Fortschrittsnarrativen der Moderne versucht hat und dabei implizit eine agonale, machttheoretisch grundierte S. entwickelt hat. Auch die von diesem Projekt z. T. entscheidend geprägten, aber mit einer eigenen Entwicklungsgeschichte versehenen Diskursstränge der feministischen Theorie (Feminismus), der Queer Theory und der Postkolonialen Kritik (Postkolonialismus) haben immer eine solche Stoßrichtung gehabt und haben sich deshalb in den letzten Jahrzehnten als unverzichtbare Gesprächspartner für eine an der gesamten Komplexität der Gegenwart interessierten S. etabliert. Das Projekt all dieser eher „unreinen“ S.n und Theorien des Sozialen, deren philosophischer Kern von einer Unmenge auch nichtphilosophischer Elemente ummantelt ist, bleibt es zu versuchen, die gesellschaftliche Existenz in ihrer historischen Spezifik zu erfassen und zur konkreten Kritik und Transformation faktischer Machtverhältnisse beizutragen.
3. Die kommende Gesellschaft: Forschungsfelder und offene Fragen
Die S. der Gegenwart, d. h. der letzten beiden Jahrzehnte, ist weiterhin dem in vielfacher Weise realisierbaren Projekt einer Beschreibung, Analyse und Kritik der gegenwärtigen Sozialverhältnisse verpflichtet und bedient sich hierfür vielfältiger theoretischer und methodischer Instrumente. Vielleicht wird im Rückblick die Jahrtausendwende, oder noch symbolischer die Zäsur im Datum des 11.9.2001, eine neue Ära auch der theoretischen Entwicklungen eröffnet haben. Ein bemerkenswerter Umstand liegt in der Renaissance marxistischer Begriffe und Topoi in diesem Kontext: Entfremdungs- und Ideologietheorien sowie Kapitalismuskritik sind auf die Theorie-Agenda zurückgekehrt. Konflikttheoretische Ansätze haben sich als prominente Gegenpole zu eher versöhnungs- oder konsensorientierten Theorien etabliert. Schließlich ist sogar das altehrwürdige Problem des gesellschaftlichen Fortschritts als Streitthema zurückgekehrt und damit die Frage, ob sich moderne Gesellschaften selbst nur gut verstehen können, wenn sie zumindest die Möglichkeit von Lernprozessen und von normgeleiteter gesellschaftlicher Kooperation unterstellen. Man könnte spekulieren, dass die an der Schwelle zu den 2020er Jahren eingetretene globale Pandemie den schon einige Zeit vorher prominenten Themen kollektiver Verantwortung und Solidarität, Verletzlichkeit und Interdependenz eine anhaltende Resonanz verschaffen wird, denn selten war unabweisbarer, dass Gesellschaftlichkeit eine fragiles Gefüge ist, angewiesen auf institutionelle und soziomoralische Stabilisierungsressourcen.
Die S. der Gegenwart hat sich aber auch neue Themenfelder erschlossen und neuen Herausforderungen gestellt. Noch nie stand etwa so klar vor Augen, dass sich eine Konzeption des menschlichen Sozialen auch der Interaktion des Menschen mit seiner nicht-menschlichen Umwelt annehmen und dass sie in Richtung einer holistisch oder ökologischen aufgeklärten Philosophie aus falschen Dichotomien herauskommen muss. Auch war noch nie die Rolle der Technik als Potential und Verhängnis zugleich so deutlich im Fokus zeitdiagnostischer Theoriebildung, ob sich dies nun auf den rasanten Medien- und Öffentlichkeitswandel, die neuen technologischen Revolutionen oder die Herausbildung nichtmenschlicher Intelligenz bezieht. In einem gewissen Sinne zurückgekehrt ist das Thema (und das Problem) der Religion, die als Struktur- und Ordnungselement auch die menschlichen Gemeinschaften des 21. Jh. noch tiefgreifender prägt als es so mancher (westliche) säkularistische Traum (Säkularisierung) hätte zulassen wollen. Schließlich bleibt es eine der zentralen Herausforderungen, auf das historische und soziale Faktum der Globalisierung und das Sich-Öffnen des Welthorizonts auch epistemisch, und d. h. philosophisch, zu reagieren und die partikularen Gemeinschaft- und Gesellschaftsvorstellungen der westlichen Spätmoderne fruchtbar mit ihren globalen Alternativen zu konfrontieren. So schwierig dies auch im Einzelnen methodisch zu realisieren sein mag, S. im 21. Jh. kann sicherlich nicht mehr nur die Selbstreflexion eines (kleinen) Kontinents sein (s. a. Sozialontologie).
Literatur
M. Saar: Ordnung – Praxis – Subjekt. Oder: Was ist Sozialphilosophie, in: WestEnd 16/2 (2019), 161–174 • R. Celikates/R. Jaeggi: Sozialphilosophie, 2017 • F. Fischbach: Manifest für eine Sozialphilosophie, 2016 • B. de Sousa Santos: Epistemologies of the South. Justice Against Epistemicide, 2014 • B. Latour: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, 2014 • T. Bedorf: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, 2011 • R. Forst/M. Hartmann/R. Jaeggi: Sozialphilosophie und Kritik, 2009 • J. Butler: Gefährdetes Leben, 2005 • H. Joas/W. Knöbl: Sozialtheorie, 2004 • K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie, 2003 • U. Stäheli: Poststrukturalistische Soziologien, 2000 • A. Honneth (Hg.): Pathologien des Sozialen, 1994 • B. Yack: The Problems of a Political Animal. Community, Justice, and Conflict in Aristotelian Political Thought, 1993 • M. Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, in: ders. (Hg.): Ges. S., Bd. 3, 1988, 20–35 • M. Heidegger: Sein und Zeit, 1986 • T. Hobbes: Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 1984 • H. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1983 • M. Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 1977.
Empfohlene Zitierweise
M. Saar: Sozialphilosophie, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Sozialphilosophie (abgerufen: 21.11.2024)