Sozialontologie

1. Das Verhältnis von Philosophie zu Sozialphilosophie

Die Philosophie befragt das Sein selbst und bespricht dessen Ausprägungen in den Fächern u. a. der rationalen Theologie, der Naturphilosophie sowie der Ethik, welche die Ordnung zwischen den Menschen bedenkt und deren Sollen in Sozial-, Rechts- und Staatsphilosophie ausfächert. Die Sozialphilosophie ist also ein Teilbereich der Seinsphilosophie, gleichrangig mit den anderen Teilbereichen; sie ist a) theoretische Philosophie bzw. „Sozialontologie“ (Koslowski 1989: 38), insofern sie über die gesollte Ordnung nachdenkt; b) praktische Philosophie, insofern sie das Sollen in Handeln umzusetzen hilft; und c) praktische Vernunft (Praktische Urteilskraft), die bestimmt, ob, wann und wie zu handeln ist.

2. Die Geschichte der Bestimmung des „Sozialen“

Das in 1. aufgezeigte Nachdenken verläuft vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Umfassenden zum Nächsten, von Gott zum Menschen; zu solcher Umsetzung sah sich der Mensch in der Frühzeit verpflichtet. Allmählich wurde er sich seiner ihm geschenkten Eigenständigkeit in den sozialen Ordnungen bewusst. Noch stärker erkannte er ab der Neuzeit, dass ihn der Schöpfer selbst nicht nur als in Ordnungen lebend, sondern auch in freudiger Erwartung zum Errichter von Ordnungen erschuf: Die Menschen sollen sich als ermächtigt erkennen, die vorstaatliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft um des Friedens und des Wohlergehens willen in den Staat umzuwandeln; dies betont Francisco Suárez u. a. in der „Defensio fidei“ (1613; Lib. III, Kap. 2 f.).

Ab dem 17. Jh. wandte sich der Mensch jedoch zunehmend von Gott und seiner Lenkung, von Stamm, Familie und „Geschichte“ (Geschichte, Geschichtsphilosophie) ab und verstand sich selbst als Aufgabe, die ihm die ihm eigene Natur auferlegt. Die Französische Revolution denkt allein vom Menschen her jedes Soziale; sie sieht ihn als frei, als mit allen Menschen gleich und als zur Brüderlichkeit bestimmt an. Dieses Programm bestimmt zunehmend Gesellschaft und Staat, doch beeinträchtigen es bis heute Ungleichheiten, die innerhalb des Staates und zwischen Staaten oft nicht ungern von Mächtigen belassen werden. Zugleich trennte man noch deutlicher als F. Suárez „Gesellschaft“ und „Staat“.

Adam Ferguson schrieb in „An Essay on the History of Civil Society“ (1767) (übersetzt): „Im Zuge des Heraufkommens des Bürgertums […] ist Gesellschaft der Inbegriff der im Vertrag und in der Wirtschaft zweckrational zusammenwirkenden Individuen geworden“ (Bernsdorff 1969: 355).

Immanuel Kants „Societas civilis“ (Kant 1907: 314) setzt sich aus Freien, an Rechten Gleichen und Selbständigen zusammen; sie bilden das Staatsvolk; über ihnen arbeitet der institutionell verfasste Träger der hoheitlichen Gewalt.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel trennte 1816 in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ das Zusammenleben der Menschen in „Ehe und Familie“, „Bürgerliche Gesellschaft“ und „Sittlichen Staat“ auf (Hegel 1976: 306), um in § 182 Zusatz zu betonen: „Die Bürgerliche Gesellschaft […] setzt […] den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muss, um zu bestehen“ (Hegel 1976: 339).

Das Verhältnis ihrer Mitglieder zueinander beschreibt § 182 Zusatz so: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen […] sie sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen“. Damit jedoch ein Mittel dem Zweck zu helfen vermag, muss der Zweck das Mittel intensiv pflegen! Es kommt somit dem Zweck darauf an, das dem Mittel eigene Wohl zu fördern; also jeder Mensch steht jedem Menschen in der Verantwortung gegenüber, die nie beendet, nie voll erfüllt ist und durch keinen noch so beschwerlichen oder tödlichen Dienst je verloren wird! Doch mit ihr dient Jeder der „Allgemeinheit“ (Hegel 1976: 339 f.).

Zur neueren Geschichte der „Philosophie des Sozialseins“:

a) Sozialsein verlangt, sich für Obere aufzuopfern: Johann Gottlieb Fichte betont in „Das System der Sittenlehre“ (1793) § 33 die Ober- und Unterordnung: Eine kleine Oberschicht steht über der großen Unterschicht; dieses Oben soll für sich geistige Vollendung anstreben; für sein körperliches Leben hat sich das Unten zu verausgaben; es hat nicht für sich, sondern nur für das Oben zu leben. Die Unten werden glücklich sterben, wenn sie zuletzt sagen können: Wir haben völlig rücksichtslos uns selbst gegenüber denen, die oben leben, gedient. – Kritik: Jedem Menschen steht Würde zu, unabhängig von der Art des Dienstes.

b) Sozialsein verlangt, dass Arbeiter und Angestellte sich radikal ihren Chefs unterordnen: Ab Ende des 18. Jh. werden sich immer krasser die Unternehmer von jenen abheben, die bloß die Fabrik- und Firmenarbeit verrichten. Die Unten-Lebenden sollen strengstens auf das allgemeine Wohl achten, die „Oben“ nur ihrem Nutzen nachgehen. – Langsam baut sich dagegen der völlig berechtigte Widerstand auf.

c) Sozialsein ist Kampf für das Leben der Bevölkerung: Ab dem 19. Jh. entschied die „Medizin“ immer radikaler über das Überlebensrecht des Menschen und seine Verpflichtung zum Sterben. Solchem Programm ging es aber zunehmend um die „Bevölkerung“; die Unterteilung in „Gesunde“ und „Kranke“ begann sich rücksichtslos todbringend oder lebensunterstützend für Teile der Bevölkerung auszuwirken (Eugenik). – Kritik: Gesund- oder Kranksein entscheidet überhaupt nicht über Würde und Menschenrechte.

d) Sozialsein ist Kampf für die eigene Rasse: Alle Menschen wurden nun in „allein zum Leben Berechtigte“ und „Unberechtigte“ eingeteilt, die somit zur Tötung preisgegeben waren. So der Rassismus und die Rassenpolitik, mit seiner maschinellen Vernichtungsarbeit. Michel Foucault arbeitet heraus, dass Rassenvernichtung eines unter mehreren Mitteln für Herrschende war, um schlicht selbst Macht zu gewinnen und zu stärken. – Kritik: Eine äußerliche Eigenschaft nebensächlicher Art wird aus Hass zum Hauptmerkmal erhoben.

e) Sozialsein ist Kampf auf Leben und Tod: M. Foucault schreibt in der Vorlesung vom 17.3.1976: „Die Zerstörung der anderen Rassen ist eine Seite des Plans, die andere geht dahin, die eigene Rasse der absoluten und universellen Todesgefahr auszuliefern“. Wer die ihm schwerst drohende Todesgefahr besteht, wird sich zum echt Überlegenen stempeln und sich dabei auch „definitiv erneuern“ (Foucault 2010: 84). Ein solches Programm verbindet beide Parteien. – Verachtet oder geleugnet wird, dass Menschen gerade durch friedliche Auseinandersetzung mit den anderen wachsen; und dass das physische Überleben geistige Reife nur ermöglicht, nicht erzeugt.

f) Sozialsein besteht im Verhältnis von Freund-und-Feind: Das soziale Leben erkannte als immer dringende Aufgabe an, den Feind zu vernichten, und erstellte daraufhin Freundschaften und Feindschaften; Ehe, Staat und Wirtschaft wurden zu bloßen Hilfen dazu erniedrigt, beständig den Krieg gegen den Feind und seine Vernichtung vorzubereiten. Um der Kriegsvorbereitung und der Täuschung willen sind Friedensabkommen zwischen Freund und Feind ein Mittel. – Auch wenn ein solches Verhältnis möglich ist, bleibt zu betonen, dass sich Freundschaft in schlimmste Hassbeziehung verwandeln kann und sich zwischen einzelnen Vertretern je beider Gruppen tiefste Freundschaften zu bilden vermögen.

g) Dem sozialen Sein des Wir kommt Rang vor jedem Ich zu: So der Kernsatz einer radikalen Form des Kommunitarismus. – Kritik: Der Kommunitarismus überbetont das WIR, indem jedes ICH sich ihm unterzuordnen hat. Jedes Ich mit seiner je einzigartigen Vernunftnatur (Vernunft – Verstand) und seinem Freiheitsvermögen (Freiheit) arbeitet natürlich mit andern Ichs zusammen, um das eine lebendig-aktive Gemeinwesen zu gründen: Kein Produkt kann jedoch seinem Produzenten je gleichrangig sein oder werden. Die quantitative Vermehrung der ICHs – in Aufgaben- und Pflichterfüllung höchst notwendig – verringert nicht die Qualität auch nur irgendeines Ichs, kann natürlich dessen Einzigartigkeit ausgestalten.

h) Der sogenannte Relativismus behauptet, dass sich absolute Werte nicht erkennen lassen; eine Gemeinschaft und Gesellschaft, die sich auf eine für alle Teilnehmer verbindliche inhaltliche Ordnung gründe, sei also nicht herstellbar. Gesellschaft könne und dürfe sich nur auf Mehrheit gründen, die auch entscheide, was wahr ist und was gilt. Alle Aussagen seien orts-, zeit- und weltanschaulich bedingt. – Kritik: Diese Kernaussage hält der Relativismus für uneingeschränkt wahr. Somit bejaht er erstens zumindest im Sprechen über sich selbst Allgemeingültigkeit! Wer zweitens bereit ist, seine Theorie auf sich selbst anzuwenden, gesteht: Ich bin nur und solange wahr, als eine Mehrheit mich trägt; solange ich Minderheit bin, steht für mich als wahr fest, dass ich nicht wahr bin! Drittens unterstellt der Relativismus meist selbst Grundwerte, die er als der Mehrheitsabstimmung (Mehrheitsprinzip) entzogen ansieht: Audiatur et altera pars, „der Mensch ist frei, vernünftig und einzigartig“, „alle Menschen stehen unter gewissen Pflichten“, wie der, sich lebendig zu erhalten. – Zum Schluss: Öfter gewann eine Partei, die formell dem relativistischen Verfassungsmodell zustimmte, rücksichtslos für sich die Mehrheit, um nach ihrem Sieg mit Gewalt gegen andere Parteien vorzugehen; so 1932–34. „Relativismus“ also als raffinierter Weg zum Machtgewinn!

i) Der Historismus wendet sich der historischen Entwicklung zu: Sie zeige alles im Fluss und in Vereinzelung: Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst lösen sich ununterbrochen auf und entwickeln sich je anders. Was sich durchgesetzt hat, sei gerechtfertigt. Der Historismus lehnt jede den Menschen vor- und aufgegebene Ordnung ab. – Kritik: Indem der Historismus behauptet, dass alle Menschen darin gleich sind, verschieden und einzigartig zu sein und sein zu dürfen, anerkennt er eine allgemeingültige Aussage und widerspricht damit grundsätzlich seinem Ansatz der Einzigartigkeit und Unterschiedlichkeit. Außerdem: Alle Gemeinschaften, die überdauern wollen, sehen sich zu Basisversorgung, Sicherheit u. a. verpflichtet.

Grundsätzliche Stellungnahme zu 2.:

a) Formaler Art: Insofern Sozialphilosophie zuerst ungehindertes Nachdenken ist, protestiert sie gegen jede politische Strömung, welche freies und ungezwungenes Nachdenken im freien Austausch der Positionen verbietet oder erschwert. Sie tritt ebenso grundsätzlich gegen Strömungen an, die Nachdenken für unnütz oder gefährlich halten, die nur eine einzige Philosophie zulassen und staatlich fördern, gegenteilige Philosophien und deren Anhänger verurteilen, oder den kritisch denkenden Menschen radikal zum Schweigen bringen und körperlich vernichten.

b) Inhaltlicher Art: Der Mensch ist Selbstzweck, nie nur Mittel. Hingegen sind Geld, Gewinn, Kapital, Hautfarbe, Geschlecht letztlich nur Mittel, um seinsgerecht zu leben.

Jedoch soll sich jeder Mensch darauf einstellen und damit zu leben vermögen, dass alles, was Menschen behaupten, sogleich oder später, teilweise oder grundsätzlich von Menschen bestritten werden wird.

3. Der Inhalt der Sozialphilosophie mit Blick auf ICH, ICH-DU und WIR

ICH: Ich bin mir selbst aufgegeben und habe für mich selbst umfassend zu sorgen; verständnisvoll sind die Angebote anderer, die mein Leben betreffen, zu prüfen. Ebenso soll ich andere auf ihrem Lebensweg umfassend und immer überlegt unterstützen. Ichsein besteht nur als ein Miteinandersein.

ICH – DU: Ich habe sein leibliches Leben zu unterstützen und ihm bei seiner geistigen Orientierung zu helfen. Das Ich soll sich dabei immer bewusster werden, dass und wie es sich selbst in vielfacher, unbegrenzbarer Weise durch die Beziehungen mit den Nächsten verwirklichen kann und soll, a) in Tausch und Kauf, b) im Lernen und Lehren, c) durch Einspringen für ihn zwecks seiner Erholung oder Lebensvertiefung und d) im Streiten gegen ihn, um ihn die Wahrheit über sich finden zu lassen. Diese vier Verhältnisse müssen je der Situation und dem Personsein (Person) beider Hauptbetroffener entsprechen. Es kann – selten, so in extremen Notfällen, wie im Verteidigungskrieg – sittlich von ihm verlangt sein, sein eigenes Leben zu opfern, um das Leben vieler anderer zu retten und zu sichern.

Das Leben ist fortzupflanzen; die im Ehevollzug Geborenen sind zu pflegen und zur liebevollen, anerkennenden Beziehung zu ihren Eltern sowie zur Pflicht zu erziehen, auf die Hilfe der anderen gerecht und liebevoll zu antworten; die Kinder sollen zugleich lernen, für sich selbst immer verantwortlicher zu sorgen, das eigene unvertretbare Leben mit Leben zu füllen und mit sich identisch zu bleiben.

Die Begegnungen des ICH mit dem DU steigern, verdichten und erhöhen sich in der Freundschaft. Karl Löwith behandelt sie selbst ausgiebig in seinem Werk „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928). Er entdeckt neben der Pflicht des Ichs zu sich selbst ebenso das Dem-Anderen-Zugehörig-Sein wie auch das Verpflichtetsein beider Freunde gegenüber Dritten. Er charakterisiert v. a. im § 17 seines Werkes eine solche „Freundschaft“ als „das zweckfreie Füreinandersein“ und führt aus: In den „Verhältnissen des unmittelbaren Füreinanderseins ist […] keiner der beiden als Selbsteigner, sondern als Zugehöriger bestimmt. Trotzdem entwickelt sich nur aus solchem Verhältnis und für es die wahre Selbständigkeit eines jeden an ihm selbst […] in der gegenseitigen Anerkennung ihres unverhältnismäßigen Daseins“ (Löwith 1928: 71).

Die Freundschaft, vom ICH zum DU führe zur ehrlichen Suche nach guten Beziehungen mit Dritten! Es wäre ein schwerer Irrtum, das Wesen der Freundschaft zwischen Ich und Du gegen das WIR abzuschotten. Ein Irrtum, denn eine echte Freundschaft gewinnt eine Selbständigkeit, so dass sie weder mir noch dir gehört! Sodann bricht die echte freundschaftliche Liebe zwischen beiden aus der ihr eigenen Dynamik die Zweierbeziehung auf andere hin auf. Freundschaft zielt vom Wesen her auf das „Glück der Menschheit“! „Um das Glück der Menschheit besorgen zu können, muss der eine des andern Glück besorgen […] die Selbstliebe ist in der Idee der großmütigen Wechselliebe verschlungen“ (Löwith 1928: 160 f.).

WIR: Die ICHs, die sich als Wir zusammenfinden, sollen bejahen, dass die jedem Einzelnen aufgegebene Selbsterhaltung durch die Zugehörigkeit zu einem WIR überhaupt erst gesichert, vertieft und immer tiefer entfaltet wird, so F. Suárez in „De Legibus“ (1612; Lib. II. Kap. 8, Nr. 4).

Erstens ist es Grundpflicht, die Ordnungen, in der das Ich lebt, zu bejahen und stets zu prüfen. Im gemeinsamen Prüfen verwirklicht sich das WIR. Jedes echte Ja bleibt sich und die anderen prüfendes Ja! Zweitens kann die gemeinsam durchgeführte Überprüfung die weitere Pflicht ergeben, die bestehende Ordnung nur leicht oder gründlich zu ändern oder sich eine neue Ordnung aufzuerlegen. Drittens ist festzustellen, ob nicht ein jeder, also alle Teilnehmer ausnahmslos für alle soziopolitischen Entscheidungen in vollem Maße zuständig sind oder ob diese Verantwortung aufzuteilen ist. Oft werden sich rasch und gemeinsam darin einig, dass es förderlicher für das Einzelwohl und die Gesamtgerechtigkeit (Gerechtigkeit) ist, die Macht zum Erstellen der neuen Ordnung verschiedenen Personen oder Institutionen zu übertragen. Eine solche Aufteilung spornt die Verantwortung an: Aus solchem Verzicht eines jeden ergibt sich Gewinn für alle! Viertens erscheint es damit auch vernünftig, die Machtausübung in verschiedene Bereiche einzuteilen und je einen je einer Gruppe zuzuteilen. Die Gesamteigenschaft soll jedoch die Politik der Einzelinstitutionen gutheißen oder verwerfen, billigen oder von ihr abraten dürfen. „Was Alle betrifft, sollen Alle billigen“ (Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet), formulierte Papst Bonifaz VIII. als 29. Regula im Schlusstitel „De Regulis Iuris“ des 5. Buches des „Liber Sextus“ von 1298, eines Rechtsbuches des Kanonischen Rechts (Kirchenrecht).

Sozialphilosophie lenkt somit unsere Aufmerksamkeit daraufhin, dass eine Verteilung von Verantwortungen – der einen Gruppe steht die Gesetzgebung, einer anderen die Anwendung der Gesetze, einer dritten deren rechtliche Bewertung zu – nicht vorrangig aus Misstrauen aller gegenüber allen notwendig ist, sondern die Verteilung ein hervorragendes, da gut geeignetes Mittel ist, um das anstehende Problem von verschiedenen Seiten zu beleuchten, gemeinsam um die je höhere Gerechtigkeitslösung zu streiten und somit den von allen gesuchten Frieden tief zu verankern. Auf diesem Weg wirkt der Austausch bereichernd, wird eine von allen bejahbare Lösung gefunden und die gerechtere Antwort auf die politischen Sachprobleme ausfindig gemacht.

Sobald aber möglichst Alle frei auf jede Frage des sozialen Lebens zu antworten haben und antworten dürfen, vermag eine jede Antwort mit jeder anderen desto stärker diese Welt zu einem sozialen Ganzen zusammenwachsen zu lassen. Damit wird erkennbar, dass z. B. die Gewaltenteilung nicht nur und nicht zuerst Machtmissbrauch zu verhindern beabsichtigt, sondern ein gemeinsames Zusammenwirken von Legislative, Exekutive und Judikative hin zum gerechteren Zusammenleben anstrebt.

Dadurch erkennen und anerkennen wir zweierlei: Dass erstens das soziale Leben zuerst ein Spiel und Werk zwischen Ich, Du, Wir, also zwischen den einzelnen Menschen und den Institutionen ist; dass es also Informationsaustausch, Auseinandersetzung und Lösung im horizontalen Sinne anstrebt und sichert. Und natürlich gibt es in solchem sozialen Verhältnis die Ungleichheit (Soziale Ungleichheit), die sozial Höheren und Niedrigeren, Schenkende, Täuschende, Betrüger und Mörder. – Zweitens ist zu erkennen, dass sich auch jeder auf dem Weg ins Umfassendere und Höhere, zum Gerechten und Guten, also auf dem vertikalen Wege befindet.

Auf diesem Weg untersteht jeder Mensch letztlich dem gleichen Bemühen des Vorwärtsgehens. Sobald die Teilnehmer nur intensiv miteinander diskutieren, Antworten noch vervollständigen oder gar verwerfen und um andere Lösungen ringen, oder schlicht Bisheriges fortsetzen oder und einen Neuanfang festlegen, so handeln sie auf horizontaler Ebene. Doch wenn sie sich dabei bewusst werden, dass es selbst im Kleinsten um „das Größte“, und im Nächsten um „Letztes“ geht, so streben sie dabei bewusst vertikal nach vorn oder nach dem, worauf sich tiefstes Ersehnen und Begehren ausrichten.

4. Schluss

Sozialphilosophisches Denken kann sich in den Worten des Herzogs Vincentio wiederfinden, welche er in William Shakespeares „Maß für Maß“ ([Measure for Measure] 1604 in London uraufgeführt), 1. Akt, 1. Szene, an seinen Sohn Angelo richtet. Übersetzt lauten sie: „Du selbst und dein Talent/sind nicht dein eigen, dass du dich verzehrst/Für deinen eignen Wert, den Wert für dich./Der Himmel braucht uns, so wie wir die Fackeln,/Sie leuchten nicht für sich; wenn unsre Kraft/nicht strahlt nach außen hin, wär’s ganz so gut,/Als hätten wir sie nicht“. Betont werden der unverlierbare Wert des Menschen, des Ichs, das im Guten gründet; wie ebenso die sich aus dieser Gründung ergebende bleibende Verpflichtung gegenüber anderen. Was das ICH, so W. Shakespeare, als SEIN Geschenk entgegennimmt, soll Kraft für andere sein.