Verwaltungsgerichtsbarkeit
1. Begriff
V. in einem materiellen Sinne ist eine bes. Gerichtsbarkeit für staatliches Hoheitshandeln; sie hebt sich ab von der allgemeinen – deshalb: „ordentlichen“ – Gerichtsbarkeit, der die Entscheidung privatrechtlicher Streitigkeiten anvertraut ist. Diese Zweiteilung der Gerichtsbarkeit korrespondiert mit der in Kontinentaleuropa üblichen Teilung der Rechtsordnung in die Hemisphären des öffentlichen und des privaten Rechts. Während das Privatrecht für „jedermann“ ohne Rücksicht auf dessen Status gilt und den Grund für rechtliche Verpflichtungen in der allseitigen freien Willensübereinstimmung sieht, begründet das öffentliche Recht als „Sonderrecht“ des Staates dessen Befugnis zu einseitiger – insofern hoheitlicher – Willensbestimmung. Das Strafrecht – obwohl begrifflich kein Privatrecht – obliegt herkömmlich ebenfalls der ordentlichen Gerichtsbarkeit.
V. in einem formellen Sinne meint in Deutschland die Gerichtsbarkeit, die durch die Verwaltungsgerichtsordnung eingerichtet und verfasst ist. Sie ist im Grundsatz für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zuständig, doch gibt es zahlreiche Ausnahmen. Zum einen bestehen mit der Sozialgerichtsbarkeit und der Finanzgerichtsbarkeit zwei bes. V.en. Zum anderen sind zahlreiche öffentlich-rechtliche Sachen den Zivilgerichten zugewiesen, so herkömmlich Staatshaftungssachen sowie das Berufsrecht der Rechtsanwälte und Notare und in jüngerer Zeit zunehmend Materien des Wirtschaftsverwaltungsrechts (Kartellsachen, Vergabesachen, einige Regulierungssachen). Diese Entwicklung ist bedenklich; sie befördert eine Despezialisierung der V. entgegen der Intention des GG.
2. Aufgabe, Funktion
Art. 19 Abs. 4 GG definiert die Aufgabe der V., dem Bürger Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Verwaltung zu bieten. Die Vorschrift fokussiert die V. auf den Schutz subjektiver Rechte, die durch die Grundrechte der Verfassung oder auf deren Grundlage durch Gesetz eingeräumt sind. Das bewirkt einerseits eine Beschränkung der Tätigkeit der V. auf den Umkreis individueller Rechtspositionen. Eine Verwaltungskontrolle am Maßstab rein objektiven Rechts obliegt ihr hiernach nicht. Andererseits schärft die Fokussierung den Blick; im Verein mit einer Verfeinerung grundrechtlicher Maßstäbe – etwa durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – wachsen die Anforderungen an rechtmäßiges Verwaltungshandeln. Bei alldem muss der Rechtsschutz effektiv sein. Den Verwaltungsprozess kennzeichnet deshalb die Untersuchungsmaxime. Außerdem müssen Eilverfahren vorgesehen werden, die sofort Rechtsschutz bieten, wenngleich auf noch unsicherer Grundlage und deshalb mit nur vorläufiger Wirkung.
Die V. darf nicht in den Bereich der Verwaltung hineinregieren; das verbietet der Grundsatz der Gewaltenteilung. Während Gesetzgebung und Verwaltung aktiv-gestaltende Staatsfunktionen sind, ist die Rechtsprechung prinzipiell passiv-kontrollierend. Ihr obliegt keine zweite und schon gar keine erste Gemeinwohlformulierung. Dem dienen institutionelle Sicherungen: Beschränkung auf nachgängigen Rechtsschutz; Beschränkung auf reine Rechtsprüfung, kein Übergriff in diskretionäre Ermessens-, Planungs- oder Prognoseentscheidungen; Beschränkung der Urteilswirkungen auf Kassation. Allerdings gehen diese Sicherungen zu Lasten der Rechtsschutzeffektivität, weshalb in Ausnahmefällen auch vorbeugende Klagen zulässig sind, die Einräumung administrativer Spielräume begründungsbedürftig ist und insb. Leistungs- und Verpflichtungsklagen statthaft sind.
Dank ihrer Unabhängigkeit werden der V. zunehmend Aufgaben einer aufsichtlichen Verwaltungskontrolle übertragen. So liegt es bei altruistischen Verbandsklagen, so läge es bei Popularklagen. Die Fokussierung auf subjektive Klägerrechte entfällt. Das Verwaltungshandeln wird in jedweder Hinsicht am objektiven Recht überprüft, allenfalls beschränkt auf ein bestimmtes Sachgebiet (z. B. Umweltrecht). Zwar wird am Verbot amtswegigen Tätigwerdens festgehalten, doch übernimmt der Kläger die Funktion des Repräsentanten einer Gruppe oder eines Interesses. Auch die Gewaltenteilung zur Verwaltung verliert an Strenge – aus nachgängigem wird begleitender Rechtsschutz, damit werden dem Gericht zugleich gestaltende Funktionen angesonnen. Die objektive Kontrollfunktion tritt neben die subjektive Rechtsschutzfunktion. Das beiderseitige Verhältnis ist noch wenig geklärt.
3. Aufbau, Gerichtsverfassung
Die V. ist dreistufig aufgebaut. In den Ländern bestehen derzeit 51 VG und je ein OVG, das in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen VGH heißt. Berlin und Brandenburg haben ein gemeinsames OVG. Als Bundesgericht besteht das BVerwG mit Sitz in Leipzig (bis 2002 Berlin). Zur V. gehören auch Wehrdienstgerichte, die zweizügig als Bundesgerichte eingerichtet sind, mit Truppendienstgerichten und den Wehrdienstsenaten des BVerwG.
Eingangsgericht ist im Regelfall das VG; dann ist das OVG Berufungs- bzw. Beschwerdegericht und das BVerwG Revisionsgericht. In bestimmten Sachen sowie in Verfahren der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle (Bebauungspläne sowie ggf. Administrativnormen der Länder) ist das OVG Eingangsgericht; dann ist lediglich die Revision zum BVerwG gegeben. Bei bes. wichtigen und/oder komplexen Verfahren (Bund-Länder-Streitigkeiten, Vereinsverbote des Bundesinnenministers, bestimmte Infrastrukturvorhaben u. a.) ist das BVerwG erste und letzte Instanz. Als Revisionsgericht ist das BVerwG auf Rechtsfragen des Bundes- und Europarechts beschränkt.
Das VG entscheidet in Kammern mit drei Berufsrichtern (Richter) und zwei ehrenamtlichen Richtern, die von den Kommunalvertretungen auf vier Jahre bestellt werden. Das OVG entscheidet in Senaten je nach Landesrecht mit drei oder fünf Berufsrichtern und mit oder ohne zwei ehrenamtliche Richter, das BVerwG in Senaten mit fünf Berufsrichtern, mit Besonderheiten in Wehrdienstsachen. Auf allen Stufen wirken an Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung nur drei Berufsrichter mit. Beim VG und mit Zustimmung der Beteiligten auch beim OVG kommen Einzelrichter zum Einsatz. Insgesamt amtieren derzeit etwa 2 000 Verwaltungsrichter.
4. Geschichte
Die V. in Deutschland ist Ergebnis eines gegen Ende des 19. Jh. erzielten Kompromisses. Im Vormärz hatte sich eine verwaltungsinterne Verwaltungskontrolle entwickelt (sogenannte Administrativjustiz). Der Verfassungsentwurf der Paulskirche 1849 forderte stattdessen eine Zuständigkeit der Zivilgerichte. Das eine hatte den Nachteil mangelnder Unabhängigkeit, das andere denjenigen mangelnder Sachkunde. Otto Bähr und Rudolf von Gneist traten deshalb für eine bes. V. ein. So entstanden in den süddeutschen Staaten Verwaltungsgerichtshöfe (1863 Baden, 1875 Hessen, 1876 Württemberg, 1879 Bayern, 1875 auch in Österreich) sowie das Preußische Oberverwaltungsgericht (1872/75) als unabhängige Rekursinstanz zur Überprüfung von Entscheidungen verwaltungsinterner Beschwerdeausschüsse. Dabei folgten die süddeutschen Staaten eher einem subjektiven Rechtsschutzmodell, während Preußen eher dem objektiven Kontrollmodell anhing. Der Rechtsweg stand durchweg nur nach dem Enumerationsprinzip offen, bei freilich bald recht extensiver Handhabung.
Art. 107 WRV brachte eine institutionelle Garantie der V. Etliche Länder errichteten eine ein- oder zweistufige V. Auf Reichsebene bestanden nur spezielle Gerichte. Ein Reichsverwaltungsgericht wurde erst 1941 eingerichtet und blieb bedeutungslos. Nach dem Zweiten Weltkrieg richteten alle Länder eine zweistufige V. mit umfassender Zuständigkeit (Generalklausel) ein, in der britischen Zone aufgrund der Verordnung Nr. 165 der Militärregierung vom 15.9.1948, in den Ländern der französischen und der amerikanischen Zone aufgrund weitgehend übereinstimmender Verwaltungsgerichtsgesetze. Das BVerwG wurde durch Gesetz vom [23.9.1952 23.9.1952] errichtet. In der SBZ entstand als erstes am [22.6.1946 22.6.1946] das Thüringer OVG in Jena. Der SMAD-Befehl Nr. 173/47 und Art. 138 DDR-Verfassung sahen eine V. mit eingeschränkter richterlicher Unabhängigkeit vor, das blieb jedoch bedeutungslos. Erst nach der Wiedervereinigung entstanden auch in den östlichen Ländern Verwaltungsgerichte.
5. Rechtsvergleichung
Eine von der ordentlichen gesonderte V. besteht in den meisten europäischen Staaten; Einheitsgerichte kennen nur die Staaten des angelsächsischen Rechtskreises (Anglo-amerikanischer Rechtskreis) sowie Spanien, Ungarn und die Schweiz, dann freilich mit gerichtsinterner Spezialisierung. Dabei folgen die meisten Länder dem Gerichtsmodell (wie Deutschland), andere – aus dem romanischen Rechtskreis – hingegen dem Staatsratsmodell (Frankreich, die Benelux-Staaten, Italien, Griechenland, Rumänien). Hier ging die Verwaltungskontrolle aus einer unabhängigen Regierungsberatung hervor. Die Staatsräte erfüllen unverändert beide Funktionen und sind – zur Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit – intern organisatorisch und personell (Luxemburg und Rumänien auch institutionell) geteilt. Wegen ihrer zugleich beratenden Aufgabe liegt den Staatsratssystemen die Auffassung der V. als einer objektiv-aufsichtlichen Verwaltungskontrolle näher als den Staaten mit dem Gerichtsmodell.
Literatur
K. Rennert: Verwaltungsrechtsschutz auf dem Prüfstand, in: DVBl 132/2 (2017), 69–79 • W. Kahl: Droht die Entmachtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit durch die Zivilgerichte?, 2016 • R. P. Schenke/J. Suerbaum (Hg.): Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Europäischen Union, 2016 • C. Steinbeiß-Winkelmann: Verwaltungsgerichtsbarkeit zwischen Überlasten, Zuständigkeitsverlusten und Funktionswandel, in: NVwZ 35/11 (2016), 713–720 • J. Lubini: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern der SBZ/DDR 1945–1952, 2015 • M. Stolleis: Hundertundfünfzig Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: DVBl 128/20 (2013), 1274–1280 • E. Schmidt-Aßmann: Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 22004 • G. Sydow: Die Revolution von 1848/49: Ursprung der modernen Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: VerwArch 92/3 (2001), 389–404.
Empfohlene Zitierweise
K. Rennert: Verwaltungsgerichtsbarkeit, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgerufen: 03.12.2024)