Feministische Ethik
F. E. geht von der Voraussetzung aus, dass Moraltheorien immer schon mit Geschlechterfragen durchsetzt sind. Der Zusammenhang zwischen „Feminismus“ und „Ethik“ ist eng: Jede der unterschiedlichen Strömungen des Feminismus steht unter ethischem Anspruch genau wie Ethik unter dem Anspruch der theoretischen und praktischen Geschlechtergerechtigkeit steht.
F. E. erweitert nicht die traditionelle Ethik um den ‚Gegenstandsbereich Frau‘, sondern unterzieht das wissenschaftliche Instrumentarium wie das explizite und implizite Interesse von Wissenschaft einer grundlegenden Kritik und einer Reformulierung. F. E. ist keine Bereichsethik wie etwa die Wirtschafts- oder Medizinethik, sondern ein grundlegender Ansatz, der die ethische Grundlagenforschung und Theoriebildung sowie die anwendungsbezogenen Diskurse prägt. Sie ist für wissenschaftliche ethische Reflexion unhintergehbar und hat inzwischen ihre eigene Geschichte, in der zunehmend postkoloniale, Intersektionalitäts-, Gender- und Queer-Diskurse einfließen.
1. Zur Geschichte: Marginalität und Minderwertigkeit moralischer Frauenbilder
Die Marginalität der Lebenswelt von Frauen und die Minderwertigkeit ihrer ethischen Kompetenz sind wesentliche Motive des traditionellen abendländischen Moraldiskurses.
Zur Zeit der Aufklärung werden diese Positionen neu reflektiert und etabliert. Pflichtgefühl als Bedingung der Möglichkeit des moralischen Urteils fehlt, so Immanuel Kant, bei Frauen. Sie brauchen kluge Anleitung von außen und sind damit Objekte – nicht Subjekte – der Ethik: „Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit. Das Frauenzimmer ist aller Befehle und alles mürrischen Zwangs unleidlich. Sie tun etwas nur darum, weil es ihnen so beliebt, und die Kunst besteht darin, zu machen, dass ihnen nur dasjenige beliebt, was gut ist.“ (Kant 1998: 854)
Dieser Cantus firmus traditioneller ethischer Diskurse setzt sich bis ins 20. Jh. fort. Exemplarisch dafür ist Lawrence Kohlbergs Stufenmodell der moralischen Entwicklung: Als moralisch reif erscheint das autonom entscheidende, prinzipiengeleitete Individuum, das sich im Konfliktfall rational, analytisch und objektbezogen verhält und seine moralische Entscheidung am Gerechtigkeitsbegriff (Gerechtigkeit) orientiert. Sofern sie überhaupt berücksichtigt werden, fällt das durchweg schlechte Abschneiden von Frauen auf, die innerhalb dieses Modells auf ihre moralische Reife hin getestet werden. Konstatiert wird ihre Unfähigkeit, die höchste – autonome – Stufe zu erreichen. Sie verbleiben in der Regel auf einer der Adoleszenz zugeschriebenen konventionellen Durchgangsstufe; typisch für diese Stufe ist, so L. Kohlberg, bei Entscheidungen der permanente Wunsch nach der Zustimmung anderer. So liegt die Vermutung nahe, Arthur Schopenhauer habe Recht zu behaupten, dass die „Weiber […] zeitlebens große Kinder sind, eine Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und dem Manne, als welcher der eigentliche Mensch ist“ (Schopenhauer 1960: 720).
2. Moralhistorische Voraussetzungen
Während antike und mittelalterliche Moralsysteme i. d. R. von der fest verankerten Stellung des Menschen im Kosmos ausgingen, emanzipiert sich – idealtypisch betrachtet – mit dem Einbruch der europäischen Moderne die Moral von einer umfassenden Weltdeutung. Diese im europäischen 17. Jh. wurzelnden Änderungen sind von verschiedenen Faktoren getragen: vom mittelalterlichen Nominalismus ebenso wie von der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften und der kapitalistischen Warenbeziehungen (Kapitalismus). In den sich ausdifferenzierenden Gesellschaften werden die Menschen zunehmend als rationale, frei und gleich geborene Individuen verstanden, die ihre sozialen Beziehungen selbst zu ordnen und ihre Institutionen selbst zu entwerfen haben. Das Subjekt der sich herausbildenden Ethik der europäischen Moderne ist der autonome, bürgerliche, besitzende – männliche – Mensch. Die Idee des Gesellschaftsvertrags rückt ins Zentrum des politischen Lebens und Handelns, und die Frage nach Gerechtigkeit rückt ins Zentrum der Moraltheorie. Die neue Unterscheidung von Gerechtigkeit und gutem Leben entspr. damit der Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre.
Freundschaft, Liebe, Familie mit den Werten der Fürsorge und Anteilnahme werden zunehmend aus dem öffentlichen Bereich der Gerechtigkeit ausgegliedert und dem privaten „Gefühlshaushalt“ (Heller 1980: 257) zugeordnet. Die Familie als exemplarische Ausprägung der privaten Sphäre wird zur Schnittstelle von Natur und Kultur, innerhalb derer Frauen den privat-natürlichen Anteil repräsentieren.
Diese Verweigerung des Subjektstatus für Frauen, der Ausschluss aus der Ethik und in der Folge der Ausschluss aus „Kultur“ und Öffentlichkeit machten es nötig, im Konzept einer F.n E. „[u]nsichtbar Gemachte(s) sichtbar zu machen“ (Heimbach-Steins 2008).
3. Moraltheoretische Grundlagen
Die F. E. entwickelte sich aus der Frauenforschung, die die erste (Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jh. im Kontext sozialer Reformbewegungen) und zweite Frauenbewegung (in den 1960er Jahren im Kontext des allgemeinen gesellschaftlichen Umbruchs und Wertewandels als Kritik anhaltender Diskriminierung von Frauen) begleitete. Zwischen beiden Frauenbewegungen steht als ein Grundtext feministischer Philosophie und Ethik Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht/Le Deuxième Sexe“. S. de Beauvoir analysiert die Konstruktion der Frau als der „Anderen“: „Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht an sich, sondern in Bezug auf sich; sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen“ (Beauvoir 1989: 10). Ihre berühmte Formulierung „Man kommt nicht als Frau zur Welt. Man wird es“ steht in einem Kontext, der ein bitterer Widerhall A. Schopenhauers zu sein scheint: „Kein biologisches, psychisches, wirtschaftliches Schicksal bestimmt die Gestalt, die das weibliche Menschenwesen im Schoß der Gesellschaft annimmt. Die Gesamtheit der Zivilisation gestaltet dieses Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten, das man als Weib bezeichnet“ (Beauvoir 1989: 265).
Ein zweiter Grundtext ist Carol Gilligans „Die andere Stimme“ (1984). Als Mitarbeiterin L. Kohlbergs zeigt sich C. Gilligan irritiert von dem schlechten Abschneiden der Frauen in L. Kohlbergs Tests. Sie erweitert und verändert deshalb das wissenschaftliche Paradigma und kommt zu dem Ergebnis, dass die moralische Entwicklung und die ethischen Zeichensysteme bei Frauen nicht minderwertig, sondern anders und mit den bislang gängigen Kategorien nicht zu fassen sind. Die Frauen attestierte moralische Schwäche ist für C. Gilligan Ausdruck einer Stärke: der größeren Sensibilität gegenüber Bedürfnissen und Gefühlen anderer und der größeren Bereitschaft, Fürsorge und konkrete menschliche Verantwortung zu übernehmen. Nur dort, so C. Gilligan, wo ausschließlich die individuelle Leistung im Mittelpunkt steht und Reife mit Autonomie gleichgesetzt wird, erscheint die Rücksichtnahme auf Emotionen und Beziehungen als Schwäche. Damit stehen sich zwei unterschiedliche Zugangsweisen zu Moral gegenüber – die abstrakte Gerechtigkeits-orientierte und die konkrete Fürsorge-orientierte –, die signifikant, aber nicht exklusiv mit einer weiblichen und einer männlichen Argumentationsstruktur in Bezug auf moralische Dilemmata verbunden sind.
4. Feministische Ausgangspunkte
C. Gilligan steht exemplarisch für einen Drahtseilakt zwischen der Aufwertung bislang primär weiblich konnotierter Tugenden und der erstrebten politischen Veränderung von ausgrenzenden und unterdrückenden sozialen Situationen. Hier zeig(t)en sich unterschiedliche Betonungen von „Gleichheit“ (v. a. in Wahlrecht und Bildung) und „Differenz“ (v. a. im Sichtbarmachen einer eigenen Geschichte, in frauenidentifizierten Räumen und spezifisch weiblichen Tugenden).
Diese Gleichheits- und Differenzdiskurse führen potenziell in Sackgassen. Denn sie beruhen auf einer Denk- und Lebenswelt, die, ausgehend von der Grunddifferenz von „Mann“ und „Frau“, als gespalten vorgestellt wird: Geist und Körper, Kultur und Natur, Verstand (Vernunft – Verstand) und Gefühl werden einander entgegengestellt wie Ordnung und Chaos, Rationales und Irrationales usw. Die Spaltungen sind zugl. hierarchisiert (Geist, Kultur, Verstand, Ordnung … sind tendenziell „besser“) und sexualisiert (Geist, Kultur, Verstand, Ordnung … sind tendenziell „männlich“). Eine erste Möglichkeit des Umgangs mit der gespaltenen Lebenswelt war, die Hierarchisierung beizubehalten und die Sexualisierung abzulehnen („Verstand“ ist „besser“ als „Gefühl“, aber auch Frauen sind gleichermaßen zu „Verstand“ befähigt). Hier kann am Vernunftideal der Aufklärung und an die Forderung nach Gleich-Berechtigung angeknüpft werden; zugleich ist damit die Gefahr einer Angleichung an herrschende politische, soziale, aber auch philosophische Konstellationen verbunden. Eine zweite Möglichkeit war, die Hierarchisierung abzulehnen und die Sexualisierung beizubehalten (Frauen sind gefühlsnäher als Männer und gerade darum „besser“). In der Umwertung der Hierarchisierung entsteht eine Welt weiblicher Differenz und weiblichen Selbstbewusstseins; Frauengeschichte(n) können erzählt werden und frauenidentifizierte Räume können entstehen. Diese neu geschaffene Welt aber ist in Gefahr, weibliche Tugenden als Kompensation für fehlende Rechte (Frauenrechte) zu akzeptieren. Nur ein Aufbrechen der Dualismen und damit auch des binären Denkens führt aus diesen Sackgassen heraus.
5. Feministische Ethik und Genderforschung
Mit der Frage nach der Macht, die den Unterschieden zwischen „Mann“ und „Frau“ zugeschrieben wird, entwickelt sich die F. E. im Kontext der Genderforschung weiter.
„Gender“, ursprünglich ein grammatikalischer Begriff, ist eine Analysekategorie für die „Grammatik“ (Renate Hof) der in soziale Zusammenhänge eingeschriebenen Geschlechterverhältnisse. Gender – häufig als soziales Geschlecht verstanden – ist damit ein sozialkonstruktivistischer Begriff (Konstruktivismus), der nicht nach dem Vorbild einer cartesianischen Körper-Geist-Spaltung von sex, dem biologischen Geschlecht, getrennt werden kann. Denn auch das biologische Geschlecht ist im Kontext der Genderforschung nicht einfach vorreflexiv „da“, sondern erscheint von Beginn an als kulturell interpretiert.
Genderforschung ist eine praxisnahe Form der Theoriebildung. Hier geht es um mehr als die Bewältigung einer gespaltenen Lebenswelt. Zum einen werden der Wert, der diesen Spaltungen beigemessen, reflektiert und die Macht, die dadurch ausgeübt wird, analysiert; zum anderen weist die Genderforschung die mit den Konzepten einer binären Geschlechterordnung verbundenen „Natürlichkeiten“ zurück. Gender-Diskurse stellen keine „Frauenfragen“, sondern betreffen alle Geschlechter; die angesprochenen Probleme lassen sich nicht mit Rückgriff auf „Natur“ lösen; und sie lassen sich nicht eurozentrisch lösen.
Genderforschung ist in den letzten Jahren durch queer theories herausgefordert und ergänzt worden. Wenn queer für die Theoriebildung F.r E. relevant wird, ist dies in sich selbst eine performative Praxis, in der ursprünglich diffamierende Verständnisse des Begriffs („seltsam“, „fragwürdig“ oder, als Verb, „irreführen“ und „verderben“) neu angeeignet werden. Queer heißt „etwas oder jemanden aus dem Gleichgewicht, aus einer selbstverständlichen Ordnung […] bringen“ (Degele 2008: 11). Queer theories stellen eine binäre Geschlechterordnung in Frage: Es ist nicht länger selbstverständlich, was eine „Frau“ und ein „Mann“ sind. Traditionelle Definitionen, die „Frauen“ und „Männer“ nach Art und Funktion ihrer Geschlechtsorgane bestimmen, sind für die Kulturwissenschaften, aber auch für Lebenswelt problematisch geworden. Die eindeutige Verbindung der Funktion von Geschlechtsorganen mit einer bestimmten Geschlechtsidentität, einer daraus erwachsenen Geschlechterrolle und einer bestimmten Form des Begehrens kann in dieser Ausschließlichkeit nicht aufrecht erhalten werden. Auch das biologische Geschlecht wird damit als Kontinuum und nicht als binäre Kategorie verstanden. Traditionelle Definitionen, die „Frauen“ und „Männer“ durch ihnen zugeschriebene Rollenerwartungen (Soziale Rolle) und geschlechtsspezifische Tugenden definieren, passen weder in spätmoderne Lebenswelten, noch kann mit ihnen ein gutes Leben hergestellt werden. Dies bedeutet „Gender Trouble“ (Butler 1990). Denn wenn die Konstruktion und Konstitution von Grundkategorien wie „Frau“ und „Mann“ neu reflektiert werden, ist dies mit einer tiefen Verunsicherung des Denkens, des Wissens und der Praxis verbunden.
Diese Verunsicherung ist zugleich ein Gewinn. Die F. E. gewinnt damit einen neuen Fokus: die Analyse und Kritik binärer Geschlechternormen, die als Einschluss- und Ausschlusskategorien fungieren. Wo ein binäres Geschlechtersystem vorherrscht, werden „unpassende“ Menschen ausgeschlossen.
F. E. arbeitet dabei nicht nach einer (natur)wissenschaftlichen Logik, in der eine Theorie eine andere Theorie vollständig ablöst. Die unerledigten Fragen der Frauenforschung bilden gleichzeitig mit dekonstruktivistischen Ansätzen (Dekonstruktion) der Gender/Queer-Forschung ein Forschungs- und Praxisfeld, in dem immer wieder unterschiedliche Fragestellungen ins Zentrum rücken und die unterschiedlichen Logiken von Wissenschaft und politischem Aktivismus ausgehandelt werden.
Ergänzt wird dieses Forschungsfeld durch Fragen der Intersektionalität, d. h. durch ein Paradigma, das soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation, Klasse oder Behinderung nicht voneinander loslöst, sondern in ihren „Überkreuzungen“ (intersections) analysiert.
Ergänzt wird es zudem durch Fragen und Theoriekonzepte aus der postkolonialen Theoriebildung (Postkolonialismus): Seit langem ist deutlich, dass feministische Anliegen nicht vom Standpunkt der „White Lady“ aus gedacht werden können und dürfen. Stattdessen rückt die „Subalterne“, die „Unterlegene“ ins Zentrum der Reflexion – die vorausgesetzte Ordnung von „Zentrum“ und „Peripherie“ wird in Frage gestellt.
6. Zukunft und Zukunftsfähigkeit der feministischen Ethik
Eine F. E., die zukunftsfähig ist, muss dieses breite Forschungsfeld erhalten. Nach wie vor werden weltweit Fragen der Gleichheit und Gleichberechtigung von Frauen als wissenschaftliche und als politische Probleme auf die Tagesordnung gesetzt. Gleichheit ist dabei politische Gleichheit, die insb. auf konkrete Gerechtigkeit der Lebensbedingungen, Teilhabe am öffentlichen Leben einer Gesellschaft und damit auf Menschenrechte für Frauen abzielt. Das grundlegende Theoriekonzept, das sowohl Intersektionalitätsfragen als auch postkoloniale Ansätze einbeziehen kann, ist das Konzept eines kontextuellen Universalismus. Dieser nimmt die Kritik an einem abendländischen abstrakten Universalismus ernst, ohne zugleich Gerechtigkeitsansprüche für alle Menschen aufzugeben. F. E. kann damit für die ganze Breite anwendungsbezogener ethischer Fragen – von Armut und Bildung bis hin zu Technologieentwicklung – sowohl Geschlechterperspektiven in ethische Diskurse einbringen als auch ethische Diskurse initiieren, die aus Geschlechterperspektiven notwendig sind.
Für den Bereich der ethischen Grundlagendiskurse setzt die F. E. „Geschlecht“ nicht als einfach gegeben voraussetzt. Damit informiert und verändert sie ethische Theoriebildung insgesamt: Sie verhindert, dass mit der Nichtbeachtung von Geschlechterfragen und „neutralen“ ethischen Konzepten Menschen entweder ausgeschlossen oder als minderwertig erklärt werden – Frauen, Menschen, deren biologisches Geschlecht nicht in ein binäres Raster passt, Menschen, deren Geschlechterrolle oder sexuelle Orientierung als „unpassend“ erscheint, Menschen, die als „Subalterne“ unter einen weichen „weiblichen“ Kategorienrahmen fallen. Als praxisnahe Theoriebildung arbeitet eine F. E. für die Gestaltung sozialer Ordnungen, damit die neue „Unordnung“ der Geschlechter nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erfahrbar und denkbar werden kann.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
R. Quinn: Feministische Ethik, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Feministische_Ethik (abgerufen: 21.11.2024)