Generationengerechtigkeit
Die Forderung nach G. gründet in den aktuellen ökologischen, ökonomischen und sozialpolitischen Problemlagen, die aufgrund ihrer langfristigen und möglicherweise irreversiblen Folgen für gegenwärtige, nachwachsende und zukünftige Generationen eine bes. Dringlichkeit entwickeln: Der Verbrauch nicht substituierbarer Ressourcen und die unumkehrbaren Schädigungen natürlicher Lebensgrundlagen, die Staatsverschuldung, die Herausforderungen der sozialen Sicherungssysteme (Sozialversicherung) und nicht zuletzt der Wandel in den Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und Großeltern sind Beispiele für Problemkonstellationen, welche die vielfältigen Bezüge der Generationen zueinander prägen. G. drängt darauf, die Relationen zwischen den Generationen einer ethischen Reflexion zu unterziehen, um deren Ausgestaltung an den Lebens- und Beteiligungsrechten der jeweils betroffenen Generationen auszurichten. Dabei werden Generationen als gesellschaftliche Strukturformen aufgefasst, welche die zeitlichen Dimensionen bzw. die unterschiedlichen zeitlich-sozialen Positionen menschlichen Daseins beachten. Eine bes. Herausforderung des Begriffs der G. ist nicht nur die Vielfalt möglicher Theorien und Kriterien der Gerechtigkeit, sondern auch die unterschiedlichen Bedeutungen von Generation, die z. B. in Politik, Wirtschaft, Recht oder auch Pädagogik höchst unterschiedliche soziale Begebenheiten mit ihren je eigenen Sachgesetzlichkeiten beschreiben.
1. Generationen
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Generation“ setzt im 19. und zu Beginn des 20. Jh. ein, wobei v. a. drei bis heute gültige Konzeptionen systematisch differenziert werden: Das genealogisch-familiensoziologische Generationenkonzept beinhaltet die Abstammungsfolge in der Familie bzw. die Generationenfolge in der Verwandtschaft, in die jeder Mensch für seine gesamte Lebenszeit eingebunden ist. Konstitutive Elemente für ein solches Konzept sind die Generationengefüge der Familie, der Wandel der Familienformen und die damit gegebenen Veränderungen der familialen Generationenbeziehungen. Die grundlegende Bedingung für die moderne „Mehrgenerationenfamilie“ ist eine höhere Lebenserwartung, die eine längere gemeinsame Lebenszeit verschiedener Generationen ermöglicht. Das historisch-soziologische Generationenkonzept von Karl Mannheim umfasst gesellschaftliche Generationen, die als Gruppierungen von Geburtsjahrgängen bestimmte historische Ereignisse in gleichen oder ähnlichen Lebensaltern erleben und gemeinsame soziale Merkmale ausbilden. Mit der Unterscheidung von z. B. politischen, kulturellen oder ökonomischen Generationen lassen sich einheitsbildende Handlungs- und Verhaltensformen identifizieren, die in Bezug auf einzelne gesellschaftliche Teilbereiche entwickelt werden. Aufgrund von historischen Ereignissen, von gewandelten Wertvorstellungen und Lebensstilen oder auch aufgrund von wechselnden ökonomischen Chancen und Risiken können sich neue Generationen herausbilden, die anhand ihrer spezifischen Merkmale nicht nur Auskunft über die Ordnung der Gesellschaft geben, sondern diese auch mit-konstituieren. Anders als bei den beiden beschriebenen soziologischen Konzeptionen beschränkt man sich im pädagogischen Generationenkonzept auf die Unterscheidung von lediglich zwei Generationen: I. d. R. sind Ältere und Jüngere – insofern sie als Lehrende und Lernende auftreten – Angehörige unterschiedlicher Generationen, die durch den Prozess der Vermittlung und der Weitergabe von vielfältigen Kompetenzen aufeinander bezogen sind und oftmals durch eine Altersdifferenz konstituiert werden.
Obwohl die genannten Generationenkonzepte sich hinsichtlich des Theoriehintergrunds und der maßgeblichen Parameter, die für die Bestimmung der jeweiligen Generation relevant sind, unterscheiden, können gemeinsame, systematisch relevante Elemente des Konzepts Generation benannt werden: Die Zuordnung einer Person oder eines sozialen Gefüges zu einer bestimmten Generation stellt eine zeitliche Positionierung in der Familie oder der Gesellschaft dar. Oft im Bezug auf das gleiche oder ähnliche Lebensalter werden die individuelle und die soziale Zeit miteinander verbunden, indem der persönliche Lebenslauf mit den historischen gesellschaftlichen Ereignissen verknüpft und in einen Prozess des sozio-kulturellen Wandels eingeordnet wird. Die Konstituierung einer Generation setzt also im Sinne objektiver Zeit eine relative Gleichzeitigkeit voraus und sucht in der Perspektive subjektiver Zeitdeutung nach Gemeinsamkeiten in der je individuellen Interpretation sozialer Sachverhalte. Generationen können demnach als gesellschaftliche Strukturformen partikulärer, zeitlich-sozialer „Gleichzeitigkeit“ verstanden werden, welche die differierenden zeitlich-sozialen Positionen verschiedener sozialer Gefüge in ihrer je eigenen Identität rekonstruieren und damit zugleich die jeweiligen Generationenbeziehungen und -verhältnisse für eine systematische Reflexion zugänglich machen.
2. Problemlagen
G. ist eine Form der Gerechtigkeit, die in der langen Tradition des Gerechtigkeitsdiskurses steht und zugleich neue ethische Aspekte in diesen zu integrieren sucht. Auch wenn die Forderungen der Gesetzes-, Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit bzw. der sozialen Gerechtigkeit nach wie vor Gültigkeit beanspruchen, so reichen sie heute nicht mehr aus, um die aktuellen Problemlagen adäquat zu erfassen: Die vorrangigen Gefährdungen der „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 2007) gehen heute nicht mehr von den Risiken oder Unfällen industrieller Entwicklungen aus, die ihre Zerstörungen in örtlich, zeitlich oder sozial begrenzten Lebensräumen des Menschen entfalten. Das Drohpotential hat vielmehr einen weitgehend unbegrenzten Charakter, da die sozialen Folgelasten ihre Wirkung ein zeitlich und räumlich entschränktes Gefährdungspotential entwickeln. Die aktuellen ökologischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen erzeugen globale Risiken, welche die Existenzbedingungen der gegenwärtigen und nachwachsenden bzw. der künftigen Generationen fundamental mitbestimmen. Der Verbrauch nicht substituierbarer Ressourcen und die irreversiblen Schädigungen naturaler Lebensgrundlagen, die globale Armut, die Krise der Bildungssysteme sowie die Herausforderungen der sozialen Sicherungssysteme sind Beispiele für Konfliktfelder, die die Stellung der Generationen zueinander prägen.
3. Begründungsmodelle
Da die bisherigen Formen der Gerechtigkeit die zeitlichen Dimensionen der neuen gesellschaftlichen Problemlagen nicht erfassen und die gesellschaftlichen Strukturen – unthematisch – lediglich synchron reflektieren, bedarf es eines Gerechtigkeitskonzepts bzw. entsprechender Begründungsmodelle, welche die traditionellen Inhalte der Gerechtigkeit aufgreifen und durch die Rezeption des Generationenbegriffs temporal erweitern: Angesichts der aktuellen Machtfülle des Menschen betont Hans Jonas’ ontologisches Begründungsmodell mit dem kategorischen Imperativ der Zukunftsethik, der Heuristik der Furcht und der Theorie der Verantwortung die normative Relevanz des Daseins und der Interessen nachwachsender und zukünftiger Generationen für gegenwärtige Entscheidungen. Unter der Rücksicht von relativer Unwissenheit und Unsicherheit plädiert er im Sinne einer Zukunftsethik für eine umfassende Erweiterung des Verantwortungshorizonts (Verantwortung), um damit die gegenwärtige und zukünftige Existenz des Menschen zu ermöglichen bzw. abzusichern. Im Kontext utilitaristischer Begründungstheorie (Utilitarismus) wendet sich Dieter Birnbacher insb. gegen Verzerrungstendenzen des Zukünftigen und optiert deshalb für einen ethischen Argumentationstyp, der bei der Zukunftsbewertung grundsätzlich von einer Gleichbehandlung der Generationen ausgeht. Mit einer umfassenden, raum-zeitlichen Interpretation des Prinzips der Universalität, der Berücksichtigung der Nutzensumme bzw. des Nutzenniveaus (Nutzen) zukünftiger Generationen sowie der Anerkennung von deren spezifischen Sicherheitspräferenzen wird die zeitliche Unabhängigkeit des zu realisierenden Guten (Gute, das) akzentuiert. John Rawls entwirft ein vertragstheoretisches Begründungsmodell (Vertragstheorien), das die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen für die Grundstruktur der Gesellschaft unter den Anspruch der temporalen Universalisierung stellt. Dazu verschafft insb. der Schleier des Nichtwissens den Beteiligten im Urzustand eine gleiche bzw. symmetrische Stellung: Da die zeitliche Positionierung der jeweiligen Generation nicht bekannt ist, sind die Interessen jeder Generation zu berücksichtigen und daher einseitige Optionen zugunsten gegenwärtiger bzw. zum Nachteil zukünftiger Generationen auszuschließen. Die verschiedenen Begründungsmodelle dokumentieren übereinstimmend die zeitliche Erweiterung aktueller gesellschaftlicher Problemkonstellationen und zeigen Möglichkeiten auf, wie die Dimension der Zeit und näherhin das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft in unterschiedliche ethische Argumentationsmodelle systematisch integriert werden kann.
4. Diachrone Grundnorm
Die Implementierung der Zeit in den Gerechtigkeitsdiskurs bedarf nicht nur einer Begründung, sondern verlangt, dass die Gerechtigkeitsforderung „jedem das Seine“ auch unter zeitlicher Rücksicht ausgelegt wird. Dazu ist eine diachrone Grundnorm einzuführen, deren Objektbereich durch die Sorge für nachwachsende und künftige Generationen bestimmt wird. Die Reichweite bzw. die Grenzen einer solchen Verantwortung schlagen sich in einer ethisch zu rechtfertigenden Bewertung von zukünftigen und gegenwärtigen Weltzuständen nieder. Da sich in der Gegenwart jedoch Zeitpräferenzen identifizieren lassen, die i. d. R. mit der Abwertung des Zukünftigen einhergehen und letztlich eine angemessene Zukunftsbewertung ausschließen, verlangt die diachrone Grundnorm, dass Personen oder soziale Gefüge in ihrer zeitlichen Positionierung nicht einseitig bevorzugt bzw. benachteiligt werden dürfen. Entspr. dieser Grundnorm besteht das Kriterium der G. im Ausschluss jedweder Zeitpräferenz bei der Bewertung von Normen, Institutionen und sozialen Systemen, so dass schon jetzt nicht nur gegenwärtige, sondern auch mittel- und langfristige Folgen im ethischen Reflexionsprozess berücksichtigt werden müssen.
Mit der Unterscheidung von Generationen und der Einführung einer diachronen Grundnorm sind die systematischen Voraussetzungen für eine zeitliche Erweiterung der Gerechtigkeitskonzeption gegeben. G. „ent-deckt“ somit die zeitliche Dimension, indem sie die synchronen Aspekte der traditionellen Gerechtigkeitskonzeptionen aufgreift und diese zusätzlich um eine diachrone Dimension erweitert. Unter G. ist daher keine partikuläre, lediglich einen Teilaspekt darstellende Form der Gerechtigkeit zu verstehen, sondern sie ist eine umfassende Form der Gerechtigkeit, insofern alle Forderungen der Gerechtigkeit aufgenommen und noch einmal hinsichtlich ihrer zeitlichen, d. h. hinsichtlich ihrer diachronen Relationen auszulegen sind. Die Vielfalt der identifizierbaren Generationenkonzeptionen ermöglicht dabei die Entwicklung unterschiedlicher Zugänge zur zeitlichen Struktur gesellschaftlicher Ordnung.
5. Postulate
Die unterschiedlichen Generationenkonzeptionen verdeutlichen, dass G. nicht auf eine einheitliche Theorie der Generationen und deren Relationen zurückgreifen kann, sondern einer Kontextualisierung bedarf. Dazu sind differierende normative Konzepte zu entwerfen, die nicht nur die unterschiedlichen Generationenrelationen, sondern auch die strukturellen Konstitutionsbedingungen familialer, gesellschaftlicher oder pädagogischer Generationen berücksichtigen. Im Rekurs auf die diachrone Grundnorm sowie deren Explikation im Kontext unterschiedlicher Generationenbeziehungen und -verhältnisse können folgende Postulate der G. erhoben werden:
a) Die Einschränkungen und Schädigungen der ökonomischen, ökologischen und sozialen Lebensbedingungen nachwachsender und zukünftiger Generationen etwa durch die gegenwärtige Staatsverschuldung, durch fehlenden Umweltschutz und unzureichende Reformen sozialer Sicherungssysteme bedürfen schon heute der normativen Reflexion und somit der Legitimation bzw. Limitation.
b) Die Interessen und Chancen nachwachsender und zukünftiger Generationen dürfen nicht aufgrund ihrer bloßen Zukünftigkeit eine Abwertung erfahren. Vielmehr sind ihnen im Rahmen einer adäquaten Zukunftsbewertung und Vorsorge dieselben Mindeststandards der Menschenrechte oder vergleichbare Gesundheits- sowie Wohlstandschancen einzuräumen wie gegenwärtigen Generationen. Dementsprechend sind z. B. politische oder ökonomische Entscheidungsprozesse aus ihrer Fixierung auf die Gegenwart zu lösen und um die Perspektive der Langfristigkeit zu erweitern.
c) Entgegen den Beschleunigungstendenzen moderner Gesellschaften ist das Zeitmaß menschlicher Eingriffe in die Umwelt in ein angemessenes Verhältnis zum Zeitmaß natürlicher Prozesse zu setzen. Nur wenn es gelingt, die unterschiedlichen Rhythmen und Regenerationsraten aufeinander abzustimmen, können langfristige Schädigungen ökologischer Systeme vermieden werden.
d) Innerhalb familialer Generationenbeziehungen fordert G., dass die Chancen, Bedürfnisse und Leistungen jeder Generation innerhalb der Familie anerkannt und bei der Verteilung funktionaler, affektiver und sozialer Ressourcen angemessen berücksichtigt werden. Innerhalb familialer Generationenverhältnisse konzentriert sich die G. auf die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Mehrgenerationenfamilien. Da Eltern am Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche und nicht zuletzt hinsichtlich der Absicherung in den sozialen Sicherungssystemen benachteiligt sind, sind seitens des Staates und der Gesellschaft Maßnahmen zu ergreifen, die die enormen Leistungen der Familie anerkennen und einen entsprechenden Ausgleich zwischen Eltern und Kinderlosen herstellen.
e) G. zwischen gesellschaftlichen Generationen verlangt nach einer Korrektur und einem Ausgleich der generationsspezifischen Lebenslagen, die mit den jeweils typischen, prägenden historischen Ereignissen verbunden sind. Seitens des Staates und der Gesellschaft sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen, welche die ökonomische, ökologische und soziale Sicherheit jeder Generation gewährleisten. Neben der Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme zur Absicherung des Alters, der Arbeitslosigkeit und zum Schutz bei Krankheit gehören dazu der Ausbau des Umweltschutzes und der Abbau der Staatsverschuldung.
f) In pädagogischen Generationenverhältnissen fordert G., dass Ungleichheiten in den Möglichkeiten der Bildungsbeteiligung abgebaut und Benachteiligte gefördert werden. Darüber hinaus ist dem raschen Veralten von Wissensbeständen mit einem Konzept des lebenslangen Lernens zu begegnen: Ein häufiger Wechsel in den Status der aneignenden Generation dient dabei nicht nur der Absicherung kultureller Kontinuität bzw. der Überwindung von Diskontinuität zwischen den Generationen, sondern fördert zugleich die dauerhafte Partizipation an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und damit die soziale Integration des Menschen.
Literatur
J. Tremmel: Eine Theorie der Generationengerechtigkeit, 2012 • N. Goldschmidt (Hg.): Generationengerechtigkeit. Ordnungsökonomische Konzepte, 2009 • M. Vogt: Prinzip Nachhaltigkeit. Ein Entwurf aus theologisch-ethischer Perspektive, 2009 • U. Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007 • W. Veith: Intergenerationelle Gerechtigkeit. Ein Beitrag zur sozialethischen Theoriebildung, 2006 • K. Lüscher/L. Liegle: Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, 2003 • Stiftung für die Rechte Zukünftiger Generationen (Hg.): Hdb. Generationengerechtigkeit, 2003 • F. Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe, Bd. 2, 2000 • D. Birnbacher: Verantwortung für zukünftige Generationen, 1988 • H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979 • J. Rawls: A Theory of Justice, 1971 • K. Mannheim: Das Problem der Generationen, in: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, 1964, 509–565.
Empfohlene Zitierweise
W. Veith: Generationengerechtigkeit, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Generationengerechtigkeit (abgerufen: 21.11.2024)