Rechtsgeschichte

1. Gegenstand und Erkenntnisinteresse

R. ist Geschichtswissenschaft. Sie blickt zurück auf die jeweils geltenden Ordnungen und ihre Gerechtigkeit. Aber es gibt nicht die R., sondern nur lehrreich unterschiedliche R.n, die stets begriffs- und wissensgeschichtlich verortet werden müssen. Zwei Prämissen machen ihre neuzeitliche Gestalt aus: selbständiges historisches Interesse und wissenschaftlicher Anspruch. Das selbständige Interesse daran emanzipierte sich europaweit im 19. Jh. Der wissenschaftliche Anspruch entstand mit der neuzeitlichen Erkenntnistheorie bei John Locke, David Hume und Immanuel Kant. Diese erschütterte den alten christlich-metaphysischen Glauben an sichere Gesamterkenntnis und letzte Instanzen wie Gott. Heilsgeschichte wurde zur offenen menschlichen Geschichte. Das mündete in Historismen, Positivismen, Relativismen und Analytik einerseits, provozierte aber auch Neoobjektivismen verschiedenster Varianten. Konsequent spitzte man alle Geschichte und R. auf „Konstruktion“ oder jedenfalls mit Ludwig Wittgenstein und Sten Gagnér (1993: 132 f.) auf einen „Vorgang sprachlicher Kommunikation und Konsensbildung“ (Stolleis 2008: 39) über Vergangenes zu, der hier spezifisch quellengebunden sei gemäß dem „Vetorecht der Quellen“ (nach Koselleck 1979: 206). Für Wissenschaft war System gefordert, d. h. mit Kant (1786, A IV) ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes. Das konnte Geschichte wie R. aber nur noch der Form nach sein, als äußeres System ex datis, nicht mehr als philosophische cognitio ex principiis oder Abbild oder inneres System in der Sache selbst.

Gegenstand der R. ist alles „rechtlich Relevante“. Jenseits solcher Tautologien lässt sich das umschreiben mit einem Blick auf die maßgebenden Rechtsbildungsfaktoren. Sechs Konstellationen konkurrieren: Schlichtung/Rechtsweisung; Rechtsgewohnheiten; Rechtsprechung; Verwaltung; Gesetzgebung; Jurisprudenz. Produziert werden je eigene Quellen (Weistümer, Enqueten; Urteile, Gebote, Edikte; Ordnungen, Satzungen, Statuten, Gesetze, Kodifikationen; Gutachten, Prozessschriften, Glossen, Kommentare, Aufsätze, Traktate, Monographien, Systeme, Verträge usw.). Ihr Verhältnis ist eine zentrale rechtshistorische Frage, die wesentlich mit der Staatsbildung in der frühen Neuzeit zusammenhängt.

Da das Recht den harten Kern der meisten Kulturen bildet, hat sich dazu ein ungeheurer Quellenreichtum angesammelt. Für Europa ist er für ab ca. 1100 weitgehend erschlossen in dem „Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte“ (Coing 1973–1988), auch mit Verfassung, Prozess, Kirchenrecht usw., daneben in der „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“ (Stolleis 1988–2012) und dem „Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“ (Sellert/Rüping 1989–1994). R. stellt diese Rechtsbildungen dar, mehr oder weniger selektiv, aber im Prinzip als Einheit, als Rechtskultur. Auch für Europa ist seit den 1980er Jahren eine beachtliche Literatur entstanden, obwohl eine europäische Wissensgeschichte noch kaum existiert.

Dass eine Rechtskultur erst ausdifferenziert werden muss gegenüber Religion, Sitte, Moral und Politik, und dann erneut in sich selbst mit Prozess, Sanktionen, Privatem, Öffentlichem, Verwaltung, Verfassung usw., entscheidet über die Inhalte von R.n. Sie sind jedenfalls kein Element der Frühzeit. Erzählungen über Häuptlingsgenerationen oder Stammesschicksale wird man nicht schon zur R. rechnen. Die römischen Juristen berichten nur weniges Äußere, so Gaius und Pomponius. Mehr erzählen Historiker wie Livius. Noch der energische Kodifikator Justinian ließ um 533 Gaius und Pomponius wiederholen (in D. 1.2). Aristoteles analysierte die Verfassungen seiner Zeit intensiv, aber nicht historisch. Dafür erinnerten andere an berühmte Gesetzgeber wie Lykurgos, Drakon und Solon. Die Stammesrechte der Völkerwanderungszeit erzählen einleitend vom Aufschreiben der Rechtsgewohnheiten mit Hilfe kundiger Männer (Lex Salica, um 510). Die Lex Baiuvariorum zählt zudem die Gesetzgebungen von Moses bis Theodosius in Ostrom, Theoderich in Ravenna und Dagobert I. in Franken auf. Die Langobarden geben eine lange Liste ihrer Könige. Das war nicht mehr nur Stammeserzählung, sondern schon ein wenig R.

Sie begann also für die Fürstenhäuser und Dynastien, dann die Städte und Territorien. Diese Zusammenstellungen von Rechtsereignissen und -quellen nennt man seit Gottfried Wilhelm Leibniz und Gustav Hugo äußere R., im Unterschied zu der inneren der Rechtsmaterien. R. kann sich also ihre Gegenstände sehr unterschiedlich wählen. Das wird dann auch eine Frage der Methoden.

2. Methoden

Anfangs genügen annalistische oder chronologische Aufzählungen, sie gelten meist Legislativakten. Zuletzt will man ganze Rechtskulturen historisch-systematisch darstellen. Wissenschaftlich-historisch meint spätestens seit dem 18. Jh. umfassende empirische Verfahren der Quellenerschließung und -analyse, der Sammlung und Sichtung auf Zusammenhänge, der Gewichtung nach historischer Bedeutung und der systematischen Durchführung. Das erfordert eine rationale Verbindung von Induktion und Deduktion, von Datenanalyse und Hypothesenbildung, von Fallanalysen und Zusammenhangsaussagen. Die „historische Bedeutung“ kann je nach Interesse und Maßstäben sehr unterschiedlich zugemessen werden. Alles was die Quellen erlauben, ist erlaubt. Planmäßig wissenschaftliche R.n leistete nach der Ausbildung der Quellenkritik im europäischen Humanismus im Wesentlichen erst das frühe 19. Jh. Das europäisch umfassendste Muster gelang Karl Friedrich Eichhorn mit seiner „Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ (1808–1823). Je mehr anspruchsvolle Zusammenhänge und durchgehende Einheiten gesucht wurden, desto mehr unterschieden sich dann die Erzähllinien. Die allgemeinen Geschichten zeigen das deutlicher als die begrenzteren R.n. Sie fallen „psychologisch“-politisch aus wie im Florenz der Renaissance bei Francesco Guicciardini, fortschrittsgläubig wie bei Voltaire, William Robertson oder Eduard Gibbon, „pragmatisch“ und ursachenforschend wie in Halle und Göttingen im 17. und 18. Jh. bei Christian Thomasius und August Ludwig Schlözer, teleologisch-heilsgeschichtlich wie bei Johann Gottfried Herder, evolutionistisch-idealistisch wie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Berlin, kritisch-historisch wie bei Barthold Georg Niebuhr, Leopold von Ranke und Georg Waitz, frühmaterialistisch wie bei Lorenz von Stein, volksnational wie bei Johannes von Müller oder betont nüchtern „positivistisch“ wie bei Henry Thomas Buckle, auf die sichtbaren Fakten statt ein „Wesen“ oder einen „Geist“ konzentriert wie im späteren 19. Jh. Diese voll entwickelten Hauptmuster erklären die Grundhaltungen auch der R.n. Die fast atemlos konkurrierenden neueren Turns (hermeneutic, social, linguistic, mental, cultural und new cultural, anthropologic, ethnologic, narrative, iconic, praxeologic, memorialistic, global usw.) steigern je interessant befundene Aspekte. Einen Überblick bietet hierzu Lutz Raphael (2010); lehrreich bleibt Hayden Whites Werk „Metahistory“ (1973).

3. Rechtsgeschichten gestern und heute

In der R. kam von den Turns wenig an. Sie blieb im Kern Geistesgeschichte mit Franz Wieacker und Dogmengeschichte mit Rom, wenn auch teilweise unter neuer Flagge (Hans Schlosser, Stephan Meder, Arno Buschmann u.a.) oder kritisch ergänzt (Uwe Wesel). Auch „Sozialgeschichte“ (Simon 1972| 315) blieb fast nur Programm. Konkreteres leisteten die New Legal (oder Social) History (Sugarman/Rubin 1984), die Neue Institutionenökonomie (North 1990) und die Global History (Duve 2016). Der Gewissheitsverlust führte zur Wissenschaftsgeschichte. Ihr Reichtum wurde in jüngerer Zeit national und europäisch intensiv erschlossen, insb. zur Methodik durch Gagnér (1993), zu Friedrich Carl von Savigny und Rudolf von Jhering (Rückert 1997/2019), zu Bernhard Windscheid (Klein 2014), zu materialistischer R. (Rückert 1978/1999), zu Franz Wieacker (Rückert 1995/2010; kritisch durch Winkler 2013, Erkkilä 2017), zur juristischen Germanistik (Schäfer 2008/2017), Rückert (1974) zu August Ludwig Reyscher, Rückert (1997) zu K. F. Eichhorn, Gagnér (1975) zu Paul Rudolf von Roth, Dilcher (1975 und öfter) zu Otto von Gierke, Kern (1982) zu Georg Beseler, Haferkamp (2004/2018) zu Georg F. Puchta und Historischer Rechtsschule, Liebrecht (2014/2018) zu Heinrich Brunner, Heinrich Mitteis und Franz Beyerle, zur NS-Zeit durch Nunweiler (1996), zu Europa durch Rückert (2018).

Wissenschaftsgeschichtlich motiviert erscheinen auch die Eroberung der „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“ von Michael Stolleis, und das Anwachsen von Biographien und Werkbiographien seit den 1970er Jahren, etwa mit den Juristenlexika von Kleinheyer und Schröder (2017) und Stolleis (2001), traditioneller wieder die „Deutsche Verwaltungsgeschichte“ (Jeserich/Pohl/Unruh 1983–1988). In romanistischer Tradition wurden die vertraute „innere R.“, d. h. die Dogmengeschichte, für das „Law of Obligations“ (Zimmermann 1990) und für das „Europäische Privatrecht“ (Coing 1985–1989) seit 1500 als Institutionengeschichte eindrucksvoll erneuert, während der Glaube an ein Deutsches Privatrecht von den Germanen bis heute schon in den 1960er Jahren verloren ging. Weniger präsent blieb auch die Geschichte des Kirchenrechts. Erstaunlich spät verließ man die nationale Straße und spaltete den Stoff nicht mehr in römisch-germanisch, sondern verband ihn im Konzept der Problemgeschichten. Zuletzt sollte Rechtskulturgeschichte endlich wieder die ganze Geschichte und R. einfangen. In europäischen R.n kehren alle diese Muster wieder.

4. Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik

Hier spielen immer wieder erstaunlich heftige Schlachten. Geschichte will Vergangenes erkennen, Dogmatik will Gegenwart prägen. Geschichte folgt der empirischen Autorität der Quellen, Dogmatik der normativen Autorität der Rechtssätze. Je für sich ist das trotz aller methodischen Moden wenig problematisch. Die Schwierigkeit besteht darin, beides rational zu verbinden. Eine logisch-rationale Brücke zwischen geschichtlicher Seinserkenntnis und dogmatischer Sollenserkenntnis wurde bisher nicht gefunden. Die Differenz wurde umso größer, als sich die Sollenswelt von der verbindenden alteuropäischen Metaphysik befreite. Der eine lernt seitdem aus Geschichte dieses, der andere jenes, der dritte nichts. In R. und Rechtswissenschaft wird das Thema seit G. Hugos methodischer Trias von Dogmatik (für das Geltende), Geschichte (für sein Werden) und Philosophie (für sein Sollen; Rechtsphilosophie) unermüdlich diskutiert. Welche geschichtlichen Argumente gehören zur Dogmatik, ist dann die Frage. Wieder bestimmt das Erkenntnisinteresse, also, ob das Geschichtsinteresse dem dogmatischen Interesse an aktuellen Lehrsätzen untergeordnet wird oder nicht. Das muss nicht unhistorisch werden. Im dogmatischen Rahmen dient Geschichte der Erläuterung des geltenden Rechts. Der Applikation wird geholfen, ohne bloß zu applizieren. Geradezu notwendig ist diese Art von historischer Arbeit, wenn das geltende Recht selbst „alt“ ist. Das war prominent der Fall beim römisch-kirchlichen Ius commune vor den Kodifikationen, beim Reichsstaatsrecht der Reichspublizistik vor 1806, im gewachsenen Herkommen des französischen Droit coutumier oder im älteren, einheimisch-deutschen Privatrecht. Und es ist es noch im englischen Common Law. Dabei wird durchaus historisch-kritisch mit bewährten Wahrheiten argumentiert. Die volle Emanzipation der Geschichten wie der Dogmatiken kam mit der kodifikatorischen Exklusivität des neuen staatlichen Rechts seit dem 18. Jh., die das alte Recht bewusst abschnitten. Konsequent entfiel der unmittelbare juristische Geschichtsbedarf. Alles Alte fiel nun in die vormodern verbreitete Rubrik der philologisch-historischen Antiquitates Iuris oder Rechtsalterthümer.

Ein konkreter Schnittpunkt blieb bis heute die Frage, ob man R. eher in synchronistischen Querschnitten breit nach Epochen oder evolutionistisch schmal an einzelnen Rechtsinstituten darstellen solle. Auch darüber muss das Erkenntnisinteresse entscheiden. Der erkenntniskritische G. Hugo bevorzugte Ersteres, der evolutionistische F. C. von Savigny Letzteres. Die Verbindung von Dogmatik und Geschichte wird bes. in der rechtshistorischen Romanistik hochgehalten, freilich ohne die tragende idealistisch-philosophische Begründung F. C. von Savignys. In der Bezeichnung der R. als vertikale Rechtsvergleichung lebt diese Konzeption fort und wird diskutiert.

Eine theoretische Überlegenheit der einen oder anderen Lösung als wahre Geschichte oder wahre Jurisprudenz gibt es nicht. Das Erkenntnisinteresse wirkt hier mehr rein historisch, dort mehr juristisch. F. C. von Savignys philosophisch unterlegte Konzeption ist der wohldurchdachte, ursprüngliche methodische Hintergrund der dogmen- und institutionengeschichtlichen Darstellungen. Aber die Prämisse einer Einheit in der Entwicklung von Dogmen und Rechtsinstituten gilt jedenfalls nicht mehr in F. C. von Savignys Sinn. Die Einheitsidee kann in der begrenzten Form von Problemgeschichten aufrecht erhalten werden, sofern die grundlegende Ähnlichkeit eines konkreten Rechtsproblems im Verlauf der Geschichte plausibel ist. Dann lassen sich unterschiedliche Lösungen als bloße Varianten in einem durchgehenden Verlauf statt als Brüche darstellen. Im privaten Vermögens- und Verkehrsrecht ist das vielfach plausibel durchführbar, im Verfassungsrecht schwierig, im Personen- und Ständerecht nahezu unmöglich – denn die ceteris-paribus-Bedingung muss dafür wenigstens im Großen und Ganzen gegeben sein (Rückert 2010, 213 ff.).

5. Inhaltsfragen

Rechtlich relevant kann alles sein. Die Inhalte von R.n können von der erwähnten äußeren bis zu einer umfänglichen inneren oder Dogmen-, Institutionen- und Problemgeschichte reichen und darüber hinaus eine Reihe von rechtsexternen Aspekten einbeziehen. Dabei können einzelne Rechtsbereiche wie Staatsrecht, Kirchenrecht, Strafrecht, Prozessrecht, Privatrecht, Völkerrecht usw. ausdifferenziert oder verknüpft werden. Es gibt auch hier kein a priori. Die Darstellungen beginnen überall als einfache „äußere“ Geschichten der Rechtsquellen wie bei Claude Fleury in Frankreich oder Matthew Hale in England oder bei Pascoal José de Mello Freire in Portugal oder Hermann Conring und C. Thomasius in Deutschland. Meist hängt dies am Faden von Staats- und Politikgeschichte und wird mit deren allgemeinen Daten vermischt. Dogmen- und Institutionengeschichten erwiesen sich immer als schwierige Herausforderung. Sie folgen viel später im 19. Jh., bes. früh und bewusst bei K. F. Eichhorn und F. C. von Savigny. Das Ideal umfassender juristischer Problemgeschichten, die auch die sozioökonomischen Faktoren konkret mit dem Recht verknüpften, ist wohl nirgends erreicht. Die Fülle der Probleme und Lösungen ist offenbar so schwer zu überschauen wie die große weite Welt der Rechtsfälle selbst. Das traditionell zentrale Zivilrecht wirkt zwar überzeitlicher. Seine zwischen Gläubigern und Schuldnern wirkenden Sätze sind aber so abstrakt, dass sie sich nicht leicht auf bestimmte nichtrechtliche Faktoren zurückführen lassen.

6. Verankerung und Leistungen

Als Universitätsfach ist die R. in Deutschland in den juristischen Fakultäten verankert, anders als meist, und wegen ihrer Verknüpfung seit der geschichtlichen Schule. Vermutlich hat das ihre Eigenständigkeit paradoxerweise doch mehr gefördert als eine Eingliederung in die große philosophische Fakultät. Methodisch musste das nicht schaden. I. d. R. wurden nach der BGB-Zäsur 1900 wenigstens ein germanistischer und ein romanistischer Lehrstuhl in Verbindung mit Zivilrecht festgehalten, an größeren Plätzen wie München auch vier bis sechs (1960er–80er Jahre) bzw. vier in Frankfurt (seit 1960er Jahre).

In den Studienplänen und Prüfungsordnungen für Promotionen und Examina war sie als sogenanntes Grundlagenfach immer einigermaßen verankert (Sörgel 2014). In Reform- oder Krisenzeiten konnte das Pendel stärker ausschlagen. Nach Einführung des BGB sank ihr Anteil an Lehre und Prüfung. Der NS-Studienplan von 1935 räumte ihr, ihrer ideologischen Bedeutung halber, wieder erhebliche 20–27 Wochenstunden ein. Nach 1945 stützte das große Besinnungsbedürfnis auch die R., bis um 1970 die Grundlagenpalette reformfreudig erweitert, aber die zu traditionsverdächtige R. reduziert wurde. In den einphasigen Experimentier-Ausbildungen zwischen ca. 1974 und 1984 war sie zugunsten der Sozialwissenschaften teilweise gar nicht verankert (Hannover, Bremen, Hamburg II). Die „östlichen“ Neugründungen nach 1989 mussten eher mit nur einer Professur auskommen. Vorübergehend stärker gefördert wurden um 1990 die Juristische Zeitgeschichte für die NS- und Nachkriegszeit und die Widmung von Lehrstühlen für europäische R.

Die Leistungen des nach Zeit und Raum so großen Faches sind in gebotener Kürze nicht zu fassen. Zwei sich gut ergänzende Überblicke geben aber genauere Rechenschaft bis 1994 (Ogorek) bzw. 2018 (Duve). Die Themenverteilung der Aufsätze in der ZRG ist stabil plural, zeitlich wie sachlich. Generell ging vielleicht das Mittelalterinteresse zurück. Die Neuzeitforschung stärkte sich 1979 in der speziellen ZNR, die Zeitgeschichte seit 1800 im „Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte“ (ab 2001). Deutlich erkennbar ist auch der erhebliche Beitrag des MPI für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt. Es trug mit seinen Großunternehmen (Europäische R., Policeyrecht, Diktaturen) und Periodika „Ius commune“ (1967–2001), „Rechtshistorisches Journal“ (1982–2001) und „Rechtsgeschichte“ (ab 2002) sichtlich zu einer breiteren Kommunikation bei. Die Bilanz des Fachs erscheint ausweislich der erwähnten Überblicke europäisch und international durchaus beachtlich, auch angesichts der vergleichsweise schmalen Ressourcen. Der Wissenschaftsrat hat jedenfalls 2012 entschieden eine Stärkung auch der R. gefordert.

7. Nutzen und Wichtigkeit

Die methodischen Geister scheiden sich im Gefolge der eingangs gezeigten Prämissen neuzeitlicher Wissenschaft v. a. an der Frage von Nutzen und Wichtigkeit von R. Dass diese für die Auslegung von geltendem Recht nützlich sein kann, sei es konkret, sei es „nur“ allgemeiner prinzipiengeleitet, ist klar. Ob solche Auslegung geschieht, hängt v. a. ab vom Zeitgeist, weniger von der Wissenschaft. Soweit man die sogenannte subjektive Auslegung des Gesetzes betont, ist das auch verfassungsrechtlich gestützt (Vorrang des Gesetzes, Art. 20 Abs. 3 GG). Es wird aber selten noch solide praktiziert, schon weil die Hilfsmittel kaum noch gelehrt werden, obwohl sie inzwischen im Netz präsent sind. Der Feststellung des historisch maßgeblichen Sinnes müsste die wiederum historische Klärung folgen, ob neue Umstände vorliegen und neue Auslegung erfordern. Bloßer Wandel der Verhältnisse ergibt noch kein neues Recht.

In einem Geschichtsfach geht es natürlich nicht nur um diese spezielle Hilfestellung für Juristen. Schon G. Hugo bemerkte treffend und schlicht, der „Wert der Rechtsgeschichte“ bestehe nicht darin, „daß sie im Examen durchhilft oder in der Praxis unentbehrlich ist“. Aber „das positive Recht ohne Geschichte und Philosophie ist und bleibt ein bloßes Handwerk, und ein guter Kopf wird daran nie Geschmack finden.“ (Hugo 1799b: 12 f.). F. C. von Savigny überhöhte das zu dem viele mitreißenden Satz, die Geschichte sei ein „sich entwickelndes Ganzes“ und daher „der einzige Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes“ (Savigny 1815: 4). Beide wussten um ihre differenten philosophisch-erkenntnistheoretischen Ausgangspunkte. Die ferneren Äußerungen über „Grundlagen“-Bedürfnis in Prüfungsordnungen und Reformprogrammen und über „Lebenswert“ (Mitteis 1947) oder „Gegenwartswert“ (Picker 1985), über „Sozialgeschichte“ (Simon 1972) aber auch über R. als „Kampf für den Kommunismus“ (Ponomarev 1963: 7, zit. n. Schultz 1974: 93) haben dem nichts Wesentliches hinzugefügt. Inzwischen beruhigt man sich meist beim aktuellen „Handwerk“. Dennoch bleibt Rechts-Geschichtswissenschaft zugleich die fruchtbarste kritische Sollenswissenschaft. Sie stellt die Erfahrungen der Menschheit in ihren juristischen Experimenten wissenschaftlich beglaubigt zur Verfügung. Ganz treffend nannte man das historia magistra vitae. Aus diesem Erkennen lässt sich besser für freies rationales Handeln lernen als aus Behauptungen und Visionen, so sehr diese entscheidend motivieren mögen. Auch ohne F. C. von Savignys Überhöhung bleiben so für die R. das Qualitätsargument (Wer mehr weiß, weiß es besser.), das Kritikargument (Wer die rechtspolitischen Experimente der Menschen mit sich selbst kennt, sieht schärfer.), das Ethikargument (Wer dies kennt, kann bewusster und näher an den Menschen werten.) und das Prinzipienargument (Erst über die geschichtliche Vergewisserung der Prinzipien unseres Rechts kann sein Ort in der Gegenwart rational und demokratisch bestimmt werden.). Ob man das dann will, ist keine wissenschaftliche, sondern eine Interessen- und Qualitätsfrage.