Wucher
I. Sozialethisch
Abschnitt drucken1. Begriff
W. ist eine ungerechtfertigte Bereicherung in ökonomischen Austauschprozessen. Im Strafrecht wird W. von Betrug, Nötigung oder Erpressung abgegrenzt, wobei aus wirtschaftsethischer Sicht die Grenzen fließend sind. Strafrechtlich kommt es bei W. zu einer geringen Anzahl von Strafverfahren und Verurteilungen. Wesentliches Merkmal von W. ist eine ökonomische Transaktion, bei der Leistung und Gegenleistung in einem erheblichen Missverhältnis stehen. Die geschädigte Marktseite erhält entweder für ihre Leistungen (Arbeitsleistung, der mit einem zu niedrigen Lohn entgolten wird) zu geringe Erlöse oder zahlt für ein Produkt oder eine Dienstleistung weitaus überhöhte Preise (z. B. eine hohe Miete/Kosten für Möblierung) bzw. muss für einen Kredit überhöhte Gesamtkosten (Zinsen zzgl. Gebühren und Nebenleistungen) entrichten. Ursache dafür, dass eine Marktseite einen ungünstigen Vertrag eingeht, können erstens systematische und gravierende Informationsasymmetrien (etwa über den adäquaten Marktpreis), zweitens eine akute Notlage, die trotz Kenntnis der üblichen Marktbedingungen in nachteilige Konditionen einwilligen lässt, oder eine Überlegenheit einer Marktseite sein, die drittens wirtschaftliche Unerfahrenheit ausnutzt oder viertens die andere Marktseite zur Einwilligung (Willensschwäche) überredet.
In einigen Sprachen wird, wie im biblischen Hebräisch, zwischen Zins und W. nicht differenziert, so dass jedes Zinsnehmen als W. galt. Im Markttausch für Güter und Dienstleistungen galt in einer vormodernen Wirtschaft eine Abweichung vom gerechten Preis, der in einer kleinteiligen Wirtschaft aus der Arbeitszeit i. V. m. der jeweils standesgemäßen Entlohnung sowie den Sachkosten ermittelt wurde, als W. In einer modernen Marktwirtschaft gelten apriori die sich aus Angebot und Nachfrage am Markt ergebenden Preise als gerecht, soweit hinreichender Wettbewerb herrscht und die Transaktion den Konsens der Marktteilnehmer gefunden hat. Daher ist eine nachträgliche externe Bewertung einer Transaktion als W. schwierig, weil der faire Marktpreis nicht einfach festzustellen ist. Bei homogenen Gütern (Benzin) schwanken Preise täglich mehrfach, bei inhomogenen Gütern (Arbeitsleistung pro Stunde) gibt es einen breiten Ermessungsspielraum in der Bewertung. Bei vielen Gütern und Leistungen finden zwischen Käufer und Verkäufer Verhandlungen über den Preis und andere Konditionen der Transaktion statt. Nur bei sehr deutlichen Abweichungen von üblichen Marktkonditionen wird von W. gesprochen, etwa wenn verschuldete Personen, die nicht ohne weiteres ihr Konto wechseln können, überhöhte Zinsen zahlen müssen.
Löhne, die weniger als 2/3 der tariflichen oder üblichen Entgelte ausmachen, gelten als Lohn-W. Dieser liegt auch vor, wenn etwa ausländische Arbeitskräfte ohne legalen Aufenthaltsstatus vorenthaltene Niedrigstlöhne nicht einklagen können.
Über einzelne Transaktionen hinaus kann auf ganzen Märkten „Sozial-W.“ (Nell-Breuning 1963: 922) bestehen, wenn es eine systematische Überlegenheit einer Marktseite gibt, die hochkonzentriert ist oder die durch kartellartige Absprachen die Marktbedingungen einer ökonomisch erheblich schwächeren Marktgegenseite mehr oder weniger stark diktieren kann. Dies gilt auch bei einem starken Zuzug in Großstädten, wenn der Wohnungsneubau (auch durch Bodenspekulation mit unbebautem Bauland) längerfristig zu gering bleibt, so dass Wohnungsbesitzer hohe Mietpreissteigerungen durchsetzen können.
2. Wirtschaftsethische Bewertung
W. hat eine individualethische und eine sozialethische Dimension. Individualethisch widerspricht er der Tauschgerechtigkeit, die in ihrem Kern auf ein ausgewogenes Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ausgerichtet ist. I. d. R. wird durch W. die Einkommens- und Vermögenssituation von Personen (z. B. von Mietern), die bereits zu den einkommensschwächeren, immobileren, weniger gebildeten oder unkundigen Teilen der Gesellschaft gehören, weiter geschwächt. Deshalb wird W. in der katholischen Soziallehre etwa von Leo XIII., in „Rerum novarum“ (2 und 17), verurteilt. In sozialethischer Hinsicht kann verbreiteter W. die Funktionsfähigkeit einer Marktwirtschaft beeinträchtigen, weil Gewinne und Einkommen weniger auf echter Marktleistung beruhen. Daher kann es zur Fehlallokation knapper Ressourcen kommen, indem diese in Bereiche gelenkt werden, wo durch W. Gewinnchancen bestehen. Weiter ist die soziale Gerechtigkeit betroffen, da nichtleistungsbedingte Einkommen und Gewinne anfallen. Die gesellschaftliche Funktion und ethische Legitimation der Marktwirtschaft beruhen aber darauf, dass im Wettbewerb günstigere Güter und Dienstleistungen für Endverbraucher erbracht, zugleich aber auch Produzenten fair entlohnt werden. In sozialethischer Hinsicht kommt es daher darauf an, durch präventive und strukturelle Maßnahmen W. zu verhindern. Dies kann dadurch geschehen, dass umfassende Preisinformationen für Güter und Dienste (Preisauszeichnungspflicht, Angabe von Effektivzinsen) bereitgestellt werden, es Rücktrittsrechte für bestimmte Verträge (Haustürgeschäfte) gibt, sowieso in die Marktpreisfindung durch staatlich vorgeschriebene bzw. genehmigte Preise (Taxitarife), Niedrigst- (gesetzlicher Mindestlohn) und Höchstpreisfestsetzungen (Mietpreisobergrenze, ggf. Zinsobergrenzen) eingegriffen wird. Bei Sozial-W. ist die Konzentration von Besitzverhältnissen bzw. die Kartellbildung (Kartell) durch wirtschaftspolitische Maßnahmen aufzulösen bzw. auch die Gegenmachtbildung der schwächeren Marktseite durch Selbsthilfeorganisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften, Verbraucher- und Mieterverbände) zu fördern.
3. Aktuelle Herausforderungen
Im Finanzsystem könnte Zins-W. vorliegen, wenn eine Bank selbst keine Zinsen für Einlagen zahlen muss, aber für Kredite zweistellige Zinsen erhebt. Dies könnte der Fall sein, wenn einem Inhaber eines Girokontos der Kontowechsel für eine kurzfristge Überziehung als zu aufwändig erscheint bzw. es am Ort nur noch eine oder zwei Bankfilialen gibt und der Bankkunde (z. B. als ältere Person) nicht über einen Internetanschluss für Online-Banking verfügt. Hohe Kosten können für Kreditnehmer anfallen, wenn es zu einem intransparenten Kombinationsgeschäft (Kredite und Kreditausfallversicherung) kommt.
Asymmetrische Informationen zweier Marktseiten stellen weiterhin einen Ansatzpunkt für W. dar. Im Internethandel (E-Commerce) können Anbieter durch umfangreiche Datensammlungen über ihren Kunden einen systematischen Informationsvorsprung aufweisen. Wenn ein Kunde vor einer Bestellung im Internet kein Vergleichsportal aufgesucht hat, kann ihm ein Gut ebenso zu einem höheren Preis angeboten werden wie wenn er ein teures Zugangsgerät benutzt oder wegen der Herkunft aus einem Land mit hoher Kaufkraft vermutlich einen höheren Preis entrichten kann. Weitere Probleme können aufkommen, wenn z. B. in Geschäften nur noch Höchstpreise ausgewiesen werden und jeder Kunde individuell über eine App Rabatte erhält, so dass Personen ohne Smartphone Höchstpreise entrichten müssen.
Auf durch Algorithmen gesteuerten Märkten können automatische Preissysteme flexibel auf das jeweilige Verhältnis von Angebot und Nachfrage reagieren. In einer Notlage, z. B. einer Panik nach einem Anschlag, kann z. B. der Preis einer im Internet vermittelten Mietwagenfahrt das Mehrfache dessen betragen, was eine Stunde zuvor noch die identische Strecke gekostet hat.
Literatur
K. Barley: Big Data als Geschäftsmodell: Wie mit der Macht der Internetfirmen umgehen?, in: IFO-Schnelldienst 71/10 (2018), 3–5 • Bundeskartellamt: Schriftenreihe Digitalisierung und Verbraucherschutz, ab 2017 • M. Casper/N. Oberauer/F. Wittreck (Hg.): Was vom Wucher übrigbleibt. Zinsverbote im historischen und interkulturellen Vergleich, 2013 • O. von Nell-Breunig: Art. Wucher, in: StL, Bd. 8, 61963, 922–930.
Empfohlene Zitierweise
J. Wiemeyer: Wucher, I. Sozialethisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Wucher (abgerufen: 21.11.2024)
II. Rechtlich
Abschnitt drucken1. Erscheinungsformen und Tatbestände
Unter W. versteht man, dass jemand sich unter verwerflichen Umständen Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zur eigenen Leistung stehen.
Beim sogenannten Individual-W. sehen Straf- und Zivilrecht (§ 291 StGB; § 138 Abs. 2 BGB) solche Umstände darin, dass der Übervorteilende die „Zwangslage, die Unerfahrenheit, den Mangel an Urteilsvermögen oder die erhebliche Willensschwäche“ des anderen kennt und ausnutzt. Neben das objektive Kriterium des Missverhältnisses von Leistungen müssen zwei subjektive Elemente treten: ein Defizit an freier Entschlusskraft auf Seiten des Übervorteilten und die Absicht des Übervorteilenden, dies für sich zu nutzen. Strafrechtlich drohen dann Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, in schweren Fällen Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Wucherische Geschäfte sind nach Zivilrecht nichtig (§ 138 Abs. 2 und 1 BGB).
Vom sogenannten Sozial-W. ist nicht das übervorteilte Individuum, sondern die Gemeinschaft betroffen, die knappe Güter unabhängig von Marktmechanismen (Markt) verteilen will. Der den W. charakterisierende Umstand ist das Unterlaufen staatlicher Verteilungspläne. Historische Beispiele kennt das deutsche Recht aus den Kriegs- und Krisenzeiten des 20. Jh. Einschlägige Strafvorschriften konnten auch denjenigen treffen, der ein entsprechendes Gut nachfragte. Moderne Bestimmungen zum Sozial-W. (§§ 3–6 WiStG) sanktionieren nur das Verhalten des Anbieters und nur als Ordnungswidrigkeit.
2. Geschichtliches
Die ältesten W.-Vorschriften betreffen den Zins-W. Antike Kulturen verboten das Zinsnehmen oder kannten Zinsobergrenzen (Zins). Für die europäische Rechtsgeschichte wichtig sind die Zinsbeschränkungen Justinians I. (Cod. Iust. 4,32,26) und das Verbot, dass Zinsforderungen das Kapital übersteigen (Verbot des ultra alterum tantum: Cod. Iust. 4,32,27,1 etc.). Strenger waren religiöse Rechte: Das jüdische verbot das Zinsennehmen unter Gläubigen ganz (Dtn 23,20 f.), ebenso später das islamische Recht. Das Konzil von Nicaea (325) verbot Klerikern das Zinsnehmen, Papst Leo I. erstreckte das Verbot auf Laien (443). Beide Bestimmungen nahm Gratian (ca. 1140) in sein Dekret auf. Das kanonische Zinsverbot prägte seit Karl dem Großen auch die weltliche Rechtsprechung und Gesetzgebung. Die in der Scholastik zu neuer Blüte gelangende Lehre vom gerechten Preis erstreckte den W.-Vorwurf auf jede Gewinnerzielung durch Handel. Ab dem 17. Jh. schwand die Bedeutung des Zinsverbots angesichts zahlreicher, auch nach kirchlichem Recht erlaubter Umgehungsgeschäfte. Die deutsche Gesetzgebung des 19. Jh. verzichtete im marktliberalen Umfeld der Gründerzeit zunächst auf W.-Verbote. 1880 wurde das StGB von 1871 allerdings um Vorschriften zum Kredit-W. ergänzt (§§ 302a-d), und diese wiederum 1893 um den Tatbestand des Sach-W.s (§ 302e). Unter diesem Eindruck geriet auch § 138 Abs. 2 in das BGB. Die strafrechtlichen W.-Tatbestände wurden 1976 zu § 302a StGB zusammengefasst; ohne inhaltliche Änderung wurde 1997 daraus der heutige § 291 StGB.
3. Dogmatische Einzelfragen
§ 138 Abs. 2 BGB ist in der Praxis wenig erfolgreich, weil es dem Übervorteilten selten gelingt zu beweisen, dass der andere Teil seine Schwäche kannte und ausnutzte. In der Wirtschaftskrise der 70er-Jahre entwickelte der BGH, zunächst in Fällen von Kredit-W., die Figur des wucherähnlichen Geschäfts: Ein solches liegt vor, wenn das Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten indiziert. Die Rechtsprechung nimmt ein solches Missverhältnis dann an, wenn die Gegenleistung 100 % über oder 50 % unter dem Marktpreis liegt. Die Nichtigkeit wucherähnlicher Geschäfte begründet man allerdings nicht aus § 138 Abs. 2, sondern aus ihrer „Sittenwidrigkeit“ (§ 138 Abs. 1 BGB).
Im Rahmen des zivilrechtlichen wie des strafrechtlichen W.-Tatbestands wird das auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung uneinheitlich beurteilt. Hier hängen Strafe oder Nichtigkeitsdrohung vom Unwerturteil über den Begünstigten ab. Miet-W. hat man etwa schon angenommen, wenn der vereinbarte Mietzins 50 % über dem Marktzins lag. Für das Zivilrecht ist zu bedenken, dass ein Mietvertrag wegen § 5 WiStG i. V. m. § 134 BGB schon nichtig sein kann, wenn der Mietzins mehr als 20 % über dem marktüblichen liegt.
Die wertungsoffenen Begriffe, die die gesetzlichen W.-Tatbestände charakterisieren, erschweren nicht nur ihre praktische Anwendung. Sie zeigen im Privatrecht auch eine normative Gemengelage an. Wenn man, wie die großen Religionen, die Übervorteilung von ihrer moralischen Seite her beleuchtet, steht das Unwerturteil über den Wucherer im Vordergrund. Das gilt auch für § 291 StGB und für § 138 Abs. 2 BGB. Säkulares Zivilrecht setzt dagegen bei bestehenden Fehlanreizen an: Informationsdefizite sollen durch Aufklärungspflichten behoben, Marktungleichgewichte durch Regulierung beseitigt werden.
Literatur
M. Casper/N. Oberauer/F. Wittreck (Hg.): Was vom Wucher übrigbleibt. Zinsverbote im historischen und interkulturellen Vergleich, 2013 • H. Siems: Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen, 1992 • M. Sickenberger: Wucher als Wirtschaftsstraftat, 1985 • W. F. Lindacher: Grundsätzliches zu § 138 BGB. Zur Frage der Relevanz subjektiver Momente, in: AcP 173/2 (1973), 124–136.
Empfohlene Zitierweise
M. J. Schermaier: Wucher, II. Rechtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Wucher (abgerufen: 21.11.2024)