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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:11 Uhr
Die menschliche Erfahrungswelt ist fundamental und untrennbar raumgebunden. Jeder Ort, jedes Gebiet, jedes Land, jeder Staat sieht sich durch die objektiven Gegebenheiten der geographischen Lage gleichsam einem je eigenen R.-Schicksal gegenüber. Geographische Faktoren, wie Topographie, Besiedlung, Bodenschätze, geo-militärische Position, Handelswege, die näheren und ferneren Nachbarn, das Klima prägen nachhaltig die Gesellschaft (Geopolitik).
Der R.-Bezug erfüllt, von den Handelnden selbst meist unbemerkt, darüber hinaus unverzichtbare, aber meist latent bleibende Funktionen der gesellschaftlichen Ordnungsbildung: So ermöglicht er durch Lokalisierung und Grenzziehung (Grenze) die Identifikation von und mit Räumen in ihrer Einzigartigkeit, etwa als Territorien, Gebäude, Herkunftsorte, Monumente usw. Damit wohnt dem R. gesellschaftliche Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion inne: Lokalitäts- und Lokalisierungswissen erleichtert das Sichzurechtfinden in der immer räumlich strukturierten Sozialwelt. „Der Ort, an dem ich mich befinde, mein aktuelles ‚Hier‘, ist der Ausgangspunkt für meine Orientierung im Raum, er ist der Nullpunkt des Koordinatensystems, innerhalb dessen die Orientierungsdimensionen, die Distanzen, Perspektiven der Gegenstände in dem mich umgebenden Feld bestimmt werden. Relativ zu meinem Leib gruppiere ich die Elemente meiner Umgebung unter die Kategorien rechts, links, oben, unten, vorn, hinten nah, fern usw.“ (Schütz/Luckmann, 1979: 63 f.).
Die räumliche Dimension bildet damit eine unverzichtbare Voraussetzung für die Formierung sozial integrierter Einheiten, indem durch die Topographie nicht nur Nähe und Distanzverhältnisse in Interaktionsbeziehungen sichtbar und regulierbar werden, sondern auch die Grundlagen für Nachbarschaften, Gemeinden, Residenzen, Versammlungen, Stammplätze, politische Verbände, Solidaritätskollektive, Städte, Staaten und ähnlich relativ stabile soziale Gebilde gelegt werden. So zeigte die Fixierung menschlicher Gemeinschaften an bestimmte Orte mit dem Übergang von der nomadischen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Lebensform zur stationären Landwirtschaft im Neolithikum revolutionäre Wirkungen: „Sie sind es, die gerodeten und bestellten Böden, die Häuser und die anderen Bauten, die Verkehrsmittel, die für die Produktion erforderlichen mannigfaltigen Anlagen einschließlich Industrie und Bergbau, all jene ständigen und unbeweglichen Verbesserungen, die eine menschlichen Gemeinschaft an den Ort bindet, in dem sie sich befindet“ (Polanyi 1978: 251). Auch der territoriale Charakter von Herrschaftsorganisation und politischer Souveränität setzt voraus, dass Menschen sesshaft wurden, sich mithin räumlich fixierten und ihre Lebensweise und Gesellschaftsform an die jeweiligen Gegebenheiten und Erfordernisse des umgrenzten R.es und der entsprechenden Interaktions- und Kommunikationsverdichtungen anpassten.
Die multidimensionale R.-Bedeutung spiegelt sich dementsprechend auch in der mit der räumlichen Verdichtung von Gesellschaften untrennbar verbundenen vielfältigen Differenzierung von Vernakular- (etwa der Alpentäler) und Nationalsprachen. Aber auch R.-Metaphern sind omnipräsent, oft mythisch und religiös konnotiert („Himmel“–„Erde“, „Diesseits“–„Jenseits“) oder als funktional-technische Semantik: „oben“, „unten“, „hoch“, „niedrig“, „rechts“, „links“, „Anhaltspunkt“, „Standpunkt“, „Reichweite“ usw. Mit der Wiederentdeckung des R.es als „central category in the social sciences and the study of culture“ (Bachmann-Medick 2016: 212), dem sogenannten spatial oder topographical turn seit den 1990er Jahren, erfreuen sich raummetaphorische Chiffren, wie u. a. „Mapping“, „Skalierung“, „Translokation“, „Container“ oder „Deterritorialisierung“ größter Beliebtheit in kulturwissenschaftlichen und soziologischen Publikationen.
Für die Soziologie gehört die räumliche Semantik zum Kern der Theoriebildung. Termini wie „Zentrum–Peripherie“, „Unter- und Überbau“, „untere“ und „obere Klassen“, „Status“ und „Position“, „Marginalität“, „Devianz“, „Mobilität“, „Kontakt“, „Dichte“, „Handlungs-R.“ „Felder“ und dgl. verliehen den soziologischen Vorstellungen von sozialen Prozessen und Strukturen einen ausgeprägt räumlich-topographischen Charakter.
R. als Gegenstand soziologischer Forschung und Theoriebildung thematisierte als erster Georg Simmel. In seinem Hauptwerk „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ (1908) entschlüsselte er die vielfältigen Bedeutungen des R.es und seiner Grenzen für die Strukturierung und Dynamik gesellschaftlicher Ordnungen. G. Simmel identifiziert die mit der spezifischen „Raumform“ (Simmel 1908: 617) oder Raumbindung sozialer Gebilde zusammenhängenden grundlegenden sozialen Strukturierungs- und Integrationsfunktionen. Dabei wird deutlich, dass der R. nicht nur ein Apriori allen gesellschaftlichen Handelns ist, sondern den „Grundqualitäten der Raumform“ (Simmel 1908: 617) spezifische Formungs- und Prägekräfte innewohnen. Der R. besitzt somit als solcher einerseits eigenständige kausale Strukturwirksamkeit für die sozialen Gebilde, andererseits ist er in Gestalt von „räumliche[n] Projektionen socialer Formen“ (Simmel 1903), deren Bildnerin die Gesellschaft selber ist, relevant. So ist bspw. mit der R.-Dimension die Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit und Exklusivität der Verortung territorialer Einheiten verknüpft. „In dem Maß, in dem ein gesellschaftliches Gebilde mit einer bestimmten Bodenausdehnung verschmolzen oder sozusagen solidarisch ist, hat es einen Charakter von Einzigartigkeit oder Ausschließlichkeit, der auf andre Weise nicht ebenso erreichbar ist“ (Simmel 1908: 617). Das führt Simmel in erster Linie auf die eigentümlichen Funktionen von Grenzen, der Komplementärstruktur des R.es, zurück.
Die Grenze erweist sich dabei als konstitutiv für die Existenz von Gesellschaften. Ihre Strukturbedeutung geht jedoch über die naheliegende Tatsache der segmentären Differenzierung von Territorien weit hinaus. Indem oft erst die Existenz von materialen Grenzen soziale Gebilde als Einheiten wahrnehmbar bzw. beschreibbar werden lässt, sind sie auch für die innere Kohäsion und Stabilität der betreffenden Gesellschaften essentiell. „So ist eine Gesellschaft dadurch, dass ihr Existenzraum von scharf bewußten Grenzen eingefaßt ist, als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert, und umgekehrt: die wechselwirkende Einheit, die funktionale Beziehung jedes Elementes zu jedem gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze“ (Simmel 1908: 621).
Das markanteste Beispiel für in diesem Sinne räumlich gerahmte Gesellschaften ist der moderne Staat, dessen Entwicklung und Bestand eine militärische Befestigung der Staatsgrenzen funktional voraussetzt, sowohl zur Verteidigung nach außen als auch zur politisch-administrativen Zentralisierung wie zur sozialen Pazifizierung des Binnen-R.es. Namentlich der historische Prozess der Nationsbildung konnte sich hierbei auf einen weiteren kausal wirksamen R.-Faktor stützen: auf die emotionale Bindung an Lokalitäten, eines der Basisresiduen des sozialen Lebens. Es findet sich aber auch bei der Gestaltung von Erinnerungsorten oder Heimatverbänden, z. B. in Einwanderungsgesellschaften wie den USA oder Brasilien, aber auch bei den meisten Spielarten des Nationalismus. Was oft zur Naturgegebenheit verdinglicht wird, erweist sich in soziologischer Perspektive als letztlich durch gesellschaftliche Beziehungen und Konstellationen bedingte soziale bzw. soziologische Tatsache. „Der Natur gegenüber“, schreibt G. Simmel, „ist jede Grenzsetzung Willkür, selbst im Falle einer insularen Lage […]. Nicht die Länder, nicht die Grundstücke, nicht der Stadtbezirk begrenzen einander; sondern die Einwohner oder Eigenthümer üben die gegenseitige Wirkung aus […]. Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1908: 621 ff.).
Zu diesen fundamentalen sozialen Tatsachen gehören nach G. Simmel auch die Mechanismen zur Kontrolle von emotionalen und kognitiven Nähe- und Distanzverhältnissen zwischen Menschen und Gruppen in direkter face to face-Interaktion. Deren Betrachtung inspirierte ihn zur Grundlegung einer bahnbrechenden Soziologie der menschlichen Sinne. Das Sehen, Riechen und Tasten finden sich darin feinsinnig als je unterschiedliche Funktionen der Feinabstimmung von zwischenmenschlichen Grenzsetzungen und Grenzüberschreitungen in körperlichen Konstellationen analysiert. Auch das Reisen oder Migrationsprozesse (Migration), beides räumliche Mobilitätsphänomene, untersucht G. Simmel unter dem Blickwinkel der gesellschaftlichen Strukturbildung. In der Tat bringen sie ganz unterschiedliche Formen von sozialen Beziehungsformen im Vergleich zu den stationären Gebilden hervor, etwa den einzigartigen Typus der Reisebekanntschaft oder denjenigen des Fremden/der Fremden. Diese unterscheiden sich in ihrem sozialen Status, ihren Kommunikationsinhalten, ihren Bewusstseins-, Wahrnehmungs- und Beziehungsstrukturen von sesshaften, ortsgebundenen Interaktionen etwa von ruralen Gemeinschaften oder vom lokalen Vereinswesen. G. Simmels klassische Ausführungen beleuchten mithin die vielfältigsten und vielfach auch überraschenden Aspekte, die der unaufhebbaren Interdependenz von Räumlichkeit und sozialem Handeln, von R. und Gesellschaft zugrunde liegen.
Weitere herausragende Bedeutung gewinnt die R.-Dimension im Zusammenhang mit der staatlichen Herrschaft. Die Kontrolle von abgegrenzten Territorien ist ihr wesenseigen; als Gebietshoheit bildet sie nach Max Weber, neben dem staatlichen Gewaltmonopol, ein zentrales Definitionsmerkmal von Staatlichkeit. Der historische Prozess der Staats- und Nationsbildung in Europa seit dem 16./17. Jh. erfolgte, wie Stein Rokkan eingehend darlegte, im Wesentlichen auf der Grundlage der Wechselwirkungen zwischen Expansion und Befestigung von Herrschaftsgebieten mittels militärischer Gewalt auf der einen Seite, Zentralisierung der politischen Gewalt sowie parallelem Aufbau von Bürokratien auf der anderen. Externer Grenzaufbau und interne Strukturierung gingen demnach stets Hand in Hand und verstärkten sich gegenseitig. Die älteren gesellschaftlichen Konfliktlinien, wie die zwischen Ethnien, Konfessionen oder sozialen Klassen, wurden durch den Prozess der Staatsbildung gleichsam „internalisiert“, d. h. territorial strukturiert bzw. in den exklusiven, durch die Staatsgrenzen definierten R.-Rahmen des Staates integriert. Als Teil der politischen Systembildung sind sie zu typischen Bruchlinien (cleavages) kristallisiert, wobei der Zentrum-Peripherie-Dimension eine herausragende Bedeutung zukommt. Die modernen Staaten bilden heute die dominierenden Formen territorialer Strukturierung von Gesellschaften größeren Maßstabs, sind aber mit vielfältigen interen sozialräumlichen Spaltungen konfrontiert, deren Konfliktpotenziale mit fortschreitender institutioneller Demokratisierung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaates weitgehend eingehegt wurden. Der Prozess der institutionellen Demokratisierung ist ebenfalls latent, aber untrennbar an bestimmte R.-Funktionen gebunden, ebenso wie ihr ideologisches Komplement, die Ideologie des Nationalismus. Die parlamentarische Demokratie beruht auf einer unumgänglichen territorialen Definition von Wählerschaften, die durch die Bedeutungszunahme der Bürgerrechte in der westlichen Welt sozial zwar immer inklusiver wurden, räumlich und kulturell jedoch weitgehend exkludierend bleiben (Inklusion, Exklusion), z. B. gegenüber Migranten.
Aktuelle Tendenzen zur Etablierung von überräumlichen politisch-rechtlichen Institutionen, wie bspw. der IGH oder die EU, stehen überwiegend im Zusammenhang mit globalen Entgrenzungsprozessen auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Kultur und der Kommunikation. Darin manifestiert sich eine grundlegende Transformation des Verhältnisses von Räumlichkeit und Gesellschaft, die bes. in Europa, von einer ausgeprägten Tendenz zur Entwicklung eines neuen „postnationale[n] Raum[es]“ (Vobruba 2012), der immer mehr von asymmetrischer Zentrumsbildung, „entgrenzte[n] Spaltungstrukturen“ (Bach 2006: 152) sowie „polycontexturalization“ (Knoblauch/Löw 2017: 3) bestimmt wird. Die bestehenden Territorialsysteme mit ihren historischen Ligaturen – Erinnerungskulturen, nationalem Habitus, Wir-Identitäten etc. – werden sich für die absehbare Zukunft jedoch nicht ersetzen lassen. Im Gegenteil, für die praktische Implementation der entsprechenden Regelwerke wie für deren demokratische Legitimation bleiben sie unverzichtbar auf die territorialen politischen Systeme angewiesen.
Literatur
H. Knoblauch/M. Löw: On the Spatial Re-Figuration of the Social World, in: Sociologica 11/2 (2017), 1–26 • D. Bachmann-Medick: Cultural turns, 2016 • U. Jureit/N. Titze (Hg.): Postsouveräne Territorialität. Die Europäische Union und ihr Raum, 2015 • M. Weber: Soziologische Grundbegriffe, in: MWG, Bd. 1/23, 2013, 147–215 • G. Vobruba: Der postnationale Raum, 2012 • M. Bach: Unbounded Cleavages. Grenzenabbau und die Europäisierung sozialer Ungleichheit, in: M. Eigmüller/G. Vobruba (Hg.): Grenzsoziologie, 2006, 145–156 • M. Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, 2006 • S. Bartolini: Restructuring Europe, 2005 • M. Löw: Raumsoziologie, 2001 • S. Rokkan: Staat, Nation und Demokratie in Europa, 2000 • M. Billig: Banal Nationalism, 1995 • N. Elias: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, 1989 • A. Schütz/T. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, 1979 • K. Polanyi: The Great Transformation, 1978 • G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 1908 • Ders.: Über räumliche Projektionen socialer Formen, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 6/5 (1903), 287–302;
Empfohlene Zitierweise
M. Bach: Raum, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Raum (abgerufen: 25.11.2024)