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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:10 Uhr
1. Organisationen als Untersuchungsgegenstand
Individuen und O.en sind die zwei wesentlichen Strukturelemente der Gesellschaft. Im Unterschied zu einfachen Gesellschaften zeichnen sich moderne Gesellschaften dadurch aus, dass O.en bzw. korporative Akteure – mit dem Statusprivileg als juristische Personen – in hohem Maße das gesellschaftliche Geschehen bestimmen. Sie sind der hauptsächliche Motor der sozialen Arbeitsteilung und der gesellschaftlichen Differenzierung, und sie sind formaliter Eigentümer großer Sach- und Vermögenswerte. O.en begleiten die Menschen „von der Wiege bis zur Bahre“, und grundlegende gesellschaftliche Erfahrungen werden in Austauschbeziehungen zu O.en vermittelt. Aus diesem Grund werden moderne Gesellschaften vielfach als O.s-Gesellschaften bezeichnet.
Daraus ergibt sich, dass es für das Leben und Wohlergehen von Menschen in modernen Gesellschaften zentral ist, die Logik und Funktionsweise von O.en zu verstehen und mit den Regelhaftigkeiten organisationalen Handelns und Entscheidens vertraut zu sein. Diesbezügliches Wissen bereitzustellen, ist das Anliegen der O.s-Forschung, die sich mit der Beschreibung, Erklärung und Gestaltung von O.en beschäftigt. Ihre drei wichtigsten Subdisziplinen sind die betriebswirtschaftliche O.s-Lehre, die O.s-Psychologie und die O.s-Soziologie. Die betriebswirtschaftliche O.s-Lehre fokussiert die Aufgabe der aktiven Gestaltung von O.en unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Effizienz, die O.s-Psychologie befasst sich bevorzugt mit internen O.s-Prozessen aus der Sicht der involvierten Individuen, und die O.s-Soziologie konzentriert sich auf die gesamtgesellschaftliche Einbettung von O.en und die sozialen sowie politischen Implikationen der hohen und tendenziell steigenden O.s-Dichte.
2. Grundlagen der Organisationsanalyse
a) Definition von O.en. Die O.s-Forschung tritt bewusst mit einem sehr weit gespannten O.s-Begriff an. Privatwirtschaftliche Unternehmen und öffentliche Einrichtungen werden ebenso darunter subsumiert wie Gewerkschaften, NGOs, Verbände und Vereine. Dabei wird angenommen, dass es für all diese Gebilde einen Satz von gleich gelagerten Problemen gibt, die – trotz aller Unterschiede im Detail – in den verschiedenen Arten von O.en auftreten und mehr oder weniger erfolgreich bewältigt werden müssen. Dazu gehören u. a. die Frage, welche Ziele und Anliegen verfolgt werden sollen, die Rekrutierung neuer Mitglieder, das Setzen von Motivationsanreizen, damit sich die Mitglieder im Sinne der O. engagieren, die Art sowie das Ausmaß der internen Arbeitsteilung und das damit einhergehende Erfordernis der Koordination und Integration des arbeitsteiligen Geschehens.
Überblickt man die Vielzahl an O.s-Definitionen, die in der Literatur vorgeschlagen und diskutiert werden, lassen sich vier wiederkehrende Definitionselemente herauskristallisieren: O.en sind auf Dauer angelegte Kollektivgebilde, bei denen sich i. d. R. mehrere Personen zusammengeschlossen haben; sie sind auf spezifische Ziele bzw. Zwecke hin ausgerichtet; sie haben sich eine feste formale Struktur gegeben; und sie grenzen sich von ihrem Umfeld ab, obwohl sie in ihrer konkreten Ausgestaltung stark von eben diesem Umfeld beeinflusst werden. V. a. die Zielorientierung und die formale Struktur fehlen in kaum einer Definition.
b) Warum gibt es überhaupt O.en? Diese recht grundlegende Frage wird im Kern auf zwei unterschiedliche Weisen beantwortet. Die erste Antwort ist das vertragstheoretische Modell der Ressourcenzusammenlegung. Es besagt, dass individuelle Akteure sich zusammenschließen und ihre Ressourcen bündeln (inkl. bestimmter Regeln zur Disposition über die gemeinsamen Ressourcen und zur Verteilung des gemeinsam erzielten Korporationsertrags), weil sie sich von einer kollektiven Ressourcenverwendung mehr versprechen als von einem individuellen Ressourceneinsatz. Arbeitnehmer schließen sich z. B. zu einer Gewerkschaft zusammen, weil sie davon überzeugt sind, gemeinsam von ihrem Arbeitgeber eher Lohnzugeständnisse erreichen zu können als auf dem Weg über individuelle, private Verhandlungen. Die zweite Antwort kommt vom sogenannten Transaktionskostenansatz. Er begreift O.en im Wesentlichen als eine Reaktion auf Marktversagen. Im Rahmen des Transaktionskostenansatzes werden zum einen Märkte und zum anderen O.en bzw. Hierarchien als die zwei grundlegenden Arrangements zur Abwicklung von Transaktionen gesehen. Immer dann, wenn Märkte versagen, d. h. wenig effiziente und befriedigende Lösungen bringen, treten hierarchische O.en an deren Stelle. Diese sind nicht auf einmaligen Austausch (unpersönliche Spot-Transaktionen) hin ausgerichtet, sondern eher auf wiederkehrende, tendenziell komplexe, unsichere und problemträchtige Transaktionen.
c) Basiselemente von O.en. Die O.s-Forschung schlägt einen Satz von mindestens fünf Basiselementen vor, um – im Rahmen deskriptiver O.s-Analysen – O.en angemessen zu beschreiben und zu charakterisieren: die O.s-Mitglieder, die O.s-Infrastruktur, die O.s-Ziele, die formale O.s-Struktur und das O.s-Umfeld. Im Sinne einer Grenzziehung ist zu entscheiden, wer zur O. gehört, wie die Ein- und Austrittsbedingungen geregelt sind und welcher Stellenwert den verschiedenen Akteursgruppen eingeräumt wird. Die Bestimmung der O.s-Mitgliedschaft ist oft durchaus kontrovers, denn verschiedene Anspruchsgruppen (stakeholders) sind bzw. werden unterschiedlich stark mit der O. in Verbindung gebracht. Zur O.s-Analyse gehört auch, dass man sich, z. B. durch eine ausgiebige O.s-Begehung, einen Einblick in die bauliche, räumliche, sachliche und technische Ausstattung der O. verschafft. Ein solche Inspektion der O.s-Infrastruktur offenbart in vielen Fällen, ob es sich um eine eher moderne O. handelt, die mit vergleichbaren O.en konkurrieren kann, oder um eine eher veraltete O., die ihre besten Tage hinter sich hat. Wichtig ist weiterhin eine Auseinandersetzung mit den O.s-Zielen. Welche Anliegen verfolgt die O., und wie werden die i. d. R. multiplen Zielsetzungen gewichtet und priorisiert? Um die O.s-Ziele herauszufinden, werden üblicherweise zum einen offizielle Zieldeklarationen betrachtet, zum anderen zumeist noch Gespräche mit den leitenden Akteuren der O. geführt. Das zentrale Basiselement einer O. ist zweifellos die formale O.s-Struktur. Sie ist gleichsam die „Blaupause“ der O. und der wesentliche Gestaltungs- und Steuerungsparameter. Sie enthält die offiziell festgeschriebenen Regelungen des Aufbaus einer O. und der internen Prozessabläufe. Über den strukturellen Aufbau (mit einer bestimmten Arbeitsteilung und der hierarchischen Untergliederung) informiert oft ein sogenanntes Organigramm. Zur formalen O.s-Struktur zählen auch Stellenbeschreibungen, Ablaufprogramme, Handbücher, schriftlich fixierte Pläne und Ähnliches. Das letzte Basiselement, das Umfeld bzw. die Umwelt einer O., gehört zwar nicht zu den genuinen O.s-Elementen, aber die Erfahrung lehrt, dass man organisationsrelevante Rahmenbedingungen (Standortfaktoren, organisationales Netzwerk, Branchencharakteristika, gesamtwirtschaftliche Gegebenheiten) mit berücksichtigen muss, wenn man eine O. befriedigend charakterisieren will.
d) Konzeptionen von O.en. Um organisationale Strukturen und Abläufe zu verstehen und zu erklären, rekurriert die O.s-Forschung – in einem ersten Zugriff – gerne auf relativ allgemeine Sichtweisen bzw. Konzeptionen, die eine Art Voreingenommenheit darstellen, mit der man an O.en herantritt. Das am weitesten verbreitete Grundverständnis ist dabei die Konzeption von O.en als rationale Systeme, d. h. O.en werden als bewusst geplante Zweckgebilde mit rational durchkalkulierten Abläufen gesehen. Als Gegenpol zu diesem „rational actor view“ fungiert die Sichtweise von O.en als natürliche bzw. soziale Systeme, d. h. O.en werden als Gebilde gesehen, in denen die uns bekannten Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen (Eigeninteresse, Emotionen, Intrigen, etc.) am Werk sind und die daher in vielen Fällen alles andere als rationale Entscheidungen in klar geregelten organisationalen Abläufen hervorbringen. Die dritte wichtige O.s-Konzeption begreift O.en als offene Systeme, d. h. O.en werden von Beginn an als Systeme gesehen, die in ein bestimmtes Umfeld eingebettet sind, das zentral und entscheidend für das organisationale Geschehen ist. Auf der Grundlage der drei genannten O.s-Konzeptionen lässt sich das gesamte Spektrum der spezifischeren O.s-Theorien aufspannen, und diese spezifischen O.s-Theorien sind im Grunde der disziplinübergreifende Kernkanon des von der O.s-Forschung bereitgestellten Wissens.
3. Organisationen als rationale Systeme
Im Alltagsdenken ebenso wie im wissenschaftlichen Herangehen (und dabei bes. in der ökonomisch geprägten O.s-Forschung) ist nach wie vor die Sichtweise dominierend, dass O.en rational basierte Systeme sind – mit einer Ausrichtung auf spezifische Ziele, einer durchdachten Formalstruktur zur Erreichung dieser Ziele, mit einer zentralisierten Leitung zur Steuerung des Systems und nicht zuletzt mit rational agierenden individuellen Akteuren. Ein Großteil der Terminologie, deren sich die O.s-Forschung bedient, zeugt von diesem Grundverständnis des „rational systems view“ (angefangen von der kurzfristigen Profitmaximierung, über Controlling, Budgetierung und strategisches Management, bis hin zur langfristigen Personalplanung).
Die zwei wichtigsten klassischen O.s-Theorien, das Bürokratie-Modell (Bürokratie) von Max Weber und die wissenschaftliche Betriebsführung von Frederick Taylor, folgen der Idee von O.en als rationalen Systemen. M. Weber sieht Bürokratien als Inbegriff legaler Herrschaft, als Garant effizienter Verfahren und als Basisinstitution im Zuge des von ihm postulierten Prozesses der gesellschaftlichen Rationalisierung. Für F. Taylor entschärft die Verwissenschaftlichung der Betriebsführung (mit kontrollierten Experimenten, Zeit- und Bewegungsstudien, exakter Leistungskontrolle und Akkordlöhnen) den angeblichen Dauerkonflikt zwischen Management und Arbeitern und mündet in eine historisch neue Periode, in der willkürliche Machtausübung in Betrieben und O.en obsolet wird.
Auch neuere O.s-Theorien, speziell der Transaktionskostenansatz und die Agency-Theorie, stehen in der Tradition des rationalen Grundverständnisses von O.en. Der mit den Namen Ronald Harry Coase und Oliver Williamson verbundene Transaktionskostenansatz versucht die Frage zu beantworten, warum und unter welchen Bedingungen sich bestimmte institutionelle Arrangements durchsetzen und fokussiert dabei die Bedeutung einer Einsparung von Transaktionskosten. Institutionelle Arrangements (governance structures) sind Märkte, O.en und unterschiedliche Typen der vertraglichen Regelung einer Transaktion (z. B. un/befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit oder Werkverträge im Kontext der Einbindung des Produktionsfaktors Arbeit). Unter Transaktionskosten werden Kosten verstanden, die im Zuge der Anbahnung, Abwicklung und Kontrolle von Transaktionen anfallen. Die Generalthese lautet, dass sich – gesteuert vom Effizienzkriterium – transaktionskostengünstige Arrangements durchsetzen und dass dies bei schwierigen, komplexen und strategisch bedeutsamen Transaktionen zumeist auf Dauer angelegte organisationale Settings sind.
Die Agency-Theorie versucht O.en ausgehend von der dyadischen Prinzipal/Agenten-Beziehung zu rekonstruieren. Als Prinzipal gilt, wer einem anderen Akteur, dem sogenannten Agenten, bestimmte Aufgaben überträgt, ihm zu diesem Zweck bestimmte Ressourcen überlässt und Entscheidungsbefugnisse gewährt und im Gegenzug eine Belohnung verspricht. Der Agent ist bereit, die Aufgaben zu erledigen, um die vom Prinzipal in Aussicht gestellte Belohnung zu erhalten. Beispiele für solche Prinzipal/Agenten-Konstellationen sind die Beziehung zwischen Arbeitgeber/Arbeitnehmer, Aktionär/Manager oder auch die Patient/Arzt-Beziehung. Die grundlegende Frage im Rahmen der Theorie ist: Wie kann der Prinzipal die Beziehung so ausgestalten, organisieren und vertraglich regulieren, dass der Agent die zu erledigenden Aufgaben möglichst weitgehend i. S. d. Prinzipals ausführt und diesen nicht hintergeht und „ausbeutet“? Das Spektrum der Ausgestaltungsmöglichkeiten reicht von mehr oder weniger lückenloser Kontrolle des Agenten (Monitoring), über verschiedene Varianten der leistungsbezogenen Entlohnung (output based contracts), bis hin zu diversen Kautionsregelungen (bonding). Alle diese Möglichkeiten sind in Abhängigkeit von der Art der zu erledigenden Aufgaben mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen verbunden, die seitens der Agency-Theorie im Detail aufgeschlüsselt werden. Kontrolle und Überwachung z. B. haben zum einen das Problem, dass sie mit Kosten verbunden sind (deshalb wird meistens nur stichprobenmäßig kontrolliert), zum anderen können sie, da sie Misstrauen signalisieren, die intrinsische Motivation der Arbeitskräfte/Agenten beeinträchtigen.
4. Organisationen als natürliche/soziale Systeme
Empirische Studien, die sich mit dem Innenleben von O.en befassen und z. B. organisationale Entscheidungen nachvollziehen, bestätigen zuhauf, dass das rationale O.s-Verständnis die Realität nur unzureichend abbildet. Die O.s-Ziele sind vielfach leerformelhaft allg., in sich widersprüchlich und wenig handlungsleitend. Die formale O.s-Struktur lässt vieles offen und ungeregelt. Die Top-Down-Sichtweise, die das Management als zentrale Steuerungsinstanz und die Untergebenen als bloße Erfüllungsgehilfen konzipiert, ist eine entschieden zu starke Vereinfachung. Und die O.s-Mitglieder verhalten sich auch in O.en so, wie sie es im alltäglichen Leben tun: primär an ihren eigenen Interessen orientiert, oft emotional und idiosynkratisch, mit wechselseitigen Sympathien und Antipathien, also kurzum nicht unbedingt so, wie es rationale O.s-Prozesse erfordern würden. Man muss z. B. damit rechnen, dass etliche Arbeitgeber ihre Beschäftigten drangsalieren und ungebührlich belasten, während umgekehrt Arbeitnehmer nicht selten bummeln und eine freizeitorientierte Schonhaltung an den Tag legen.
Historisch war es die sogenannte Human-Relations-Schule, die – als Gegenbewegung zum Taylorismus – in den 1920er Jahren in den USA zuerst die Schwächen des rational actor view thematisierte. Im Rahmen der Hawthorne-Experimente, die dieser Schule den Weg bahnten, wurde u. a. die Bedeutung der informellen O.s-Struktur „entdeckt“. Informelle Regelungen sind oft unverzichtbar, weil es weder möglich noch sinnvoll ist, für alle Eventualitäten des organisationalen Geschehens formelle/formale Vorgaben zu etablieren. Insofern ist die informelle O.s-Struktur i. S. d. O.s-Effizienz oft eine Ergänzung und positive Unterstützung der formalen O.s-Struktur. Nicht selten aber konterkarieren die informellen Normen auch die formalen Regeln, bevorzugt dann, wenn letztere die involvierten Akteure überfordern oder aber übervorteilen. Generell betont die Human-Relations-Schule die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen in O.en, wobei insgesamt ein harmonisches Bild der O.s-Geschehen unterstellt und auch aktiv propagiert wird. Den Vorgesetzten wird ein mitarbeiterorientierter Führungsstil angeraten, und bei der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen soll darauf geachtet werden, dass das Betriebs- und Gruppenklima stimmt.
Aktuellere Theorien mit der „social/natural systems“-Brille distanzieren sich von dem allzu harmonischen O.s-Verständnis der Human-Relations-Schule. James March und Herbert Simon haben in den 1960er die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie formuliert, wobei in diesem Zusammenhang auch das Konzept der begrenzten Rationalität (bounded rationality) entstanden ist. J. March charakterisiert, gestützt auf diverse Fallstudien organisationaler Entscheidungen, O.en in überspitzter Form als „organisierte Anarchien“ (was für politische Parteien ebenso gelten soll wie für Universitäten und gewinnorientierte Unternehmen). Die March/Simon-Theorie wurde inzwischen hin zum (mikro-)politischen Ansatz erweitert. Dessen Leitgedanke besteht darin, dass es in O.en zumeist um politische Aushandlungsprozesse zwischen Akteuren mit teils übereinstimmenden, teils aber auch konfligierenden Interessen geht. In diesen oft mühsamen und langwierigen Aushandlungsprozessen lassen sich Regelhaftigkeiten und Praktiken identifizieren (wie z. B. das Abschieben von Problemen in die bürokratische Warteschleife, das Taktieren mit der Tagesordnung und mit Verfahrensregeln oder z. B. das Feuerwehr-Prinzip, bei dem in einer O. nur und immer erst dann gehandelt wird, wenn es wirklich brennt), die auf den ersten Blick irrational und kontraproduktiv erscheinen. Detailanalysen offenbaren allerdings, dass hinter solchen Praktiken oft doch eine gewisse Rationalität zu stehen scheint. Umständliches und zögerliches Agieren nach dem Motto „zwei Schritte voran, ein Schritt zurück“ senkt das Risiko von groben Fehlentscheidungen. Und insgesamt steht hinter solcher „Stückwerk-Technologie“ (piecemeal engineering) bzw. solchem „Durchwursteln“ (muddling through) die Überzeugung, komplexe und vielschichtige Problem nur behutsam und schrittweise befriedigend abarbeiten zu können.
5. Organisationen als offene Systeme
Der open systems view knüpft an der grundlegenden Einsicht an, dass O.en keine in sich abgeschlossenen Robinson-Inseln sind, sondern in einem vielfältigen Abhängigkeits- und Austauschverhältnis zu ihrer Umwelt stehen. Es ist nicht möglich, das Funktionieren von O.en (z. B. Schulen, Gefängnisse, Parteien im Ländervergleich) zu verstehen, wenn man deren gesellschaftliche Einbettung und Verankerung außer Acht lässt. Die Umwelt und deren Ressourcen bieten Chancen und Möglichkeiten für O.en, gleichzeitig kommen aus dem Umfeld aber oft auch Risiken und Bedrohungen. Die drei aktuell bedeutsamsten Theorien der Offene-Systeme-Sicht sind die Kontingenztheorie, die O.s-Ökologie und der soziologische Neo-Institutionalismus.
Die Kontingenztheorie, oft auch situativer Ansatz genannt, bemüht sich um eine Erklärung von beobachtbaren Merkmalen der formalen O.s-Struktur (Ausmaß der Arbeitsteilung, bevorzugte Koordinationsinstrumente, Hierarchietiefe, Ausmaß der Formalisierung, etc.) aus situativen Rahmenbedingungen. Die Generalthese dabei lautet, dass je nach Umfeldbedingungen unterschiedliche O.s-Strukturen effizient sind und dass es mithin auf den jeweiligen Fit von Umfeldbedingungen und O.s-Struktur ankomme. So sind z. B. flache Hierarchien bei komplexen und neuartigen Arbeitsaufgaben eher angebracht als bei einfachen Aufgaben. Und wenn die Umwelt relativ stabil ist, sind eine hohe Standardisierung, Programmierung und Formalisierung eher opportun als in einem Umfeld, das sich rasch wandelt (im erstgenannten Fall wird eine insgesamt eher mechanische/mechanistische, im zweiten Fall eine eher flexibe/organische O.s-Struktur als effizient und angemessen eingestuft).
Die O.s-Ökologie greift auf Ideen aus der biologischen Evolutionstheorie (Evolution) zurück und betont die Umweltabhängigkeit von O.en in der Form, dass die Umwelt einen Ressourcenpool bereitstellt, auf den eine O.s-Population zugreifen kann. Der Ressourcenpool ist beschränkt, sodass bei einer gegebenen carrying capacity nur eine begrenzte Zahl von O.en in einem bestimmten Bereich überlebensfähig ist. Einzelne O.en und ganze O.s-Populationen sind am ehesten überlebensfähig, wenn sie eine klar abgegrenzte ökologische Nische belegen. Ihre Fitness resultiert aus dem Zusammenspiel von organisationalen Strategien und Umfeldgegebenheiten. Diese zunächst abstrakten Prinzipien wurden von O.s-Ökologen in eine Reihe von empirisch testbaren Modellen umgesetzt (Dichte-Abhängigkeits-Modell, Ressourcenteilungs-Modell, etc.). Deren Überprüfung hat neue Einsichten hervorgebracht u. a. zur Dynamik des Wandels der O.s-Landschaft im Zeitverlauf, zu Diffusionsprozessen neuer O.s-Populationen (z. B. Biotechnologie-Firmen) und zu den Erfolgsaussichten verschiedener organisationaler Strategien (z. B. Generalisten/Spezialisten-Strategie) in unterschiedlichen Umfeldkonstellationen (z. B. in stabilen/dynamischen Umwelten).
Nicht ökonomische Effizienz, sondern gesellschaftliche Legitimität ist gemäß soziologischem Neoinstitutionalismus das zentrale Leitprinzip von O.en. Viele organisationale Praktiken, die wir in der Realität beobachten, haben sich nicht aus Gründen der Effizienz durchgesetzt, sondern wegen des Bestrebens von O.en, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen und so Anerkennung und Akzeptanz im Außenverhältnis zu finden. Die Anpassungen an die Umfelderwartungen werden allerdings oft nicht realiter, sondern nur deklamatorisch vollzogen. O.en pflegen eine nach außen gerichtete „Schauseite“, wobei talk and action oft nicht übereinstimmen. So z. B. betreiben O.en gerne green washing in Reaktion auf die öffentlichen Erwartungen im Umweltschutz; die Aufwendungen für CSR sind in vielen Fällen lächerlich niedrig und signalisieren bloße Fassaden- bzw. Symbolpolitik; und „Downsizing“-Ankündigungen können Aktionäre offenbar noch immer freundlich stimmen, obwohl aus empirischen Studien bekannt ist, dass ihre Implementierung (Implementation) oft auf Widerstände stößt und die Ankündigungen im Endergebnis alles andere als bruchlos umgesetzt werden können. Auch der rational systems view von O.en wird von Vertretern des soziologischen Neoinstitutionalimus als „Mythos“ rekonstruiert, der v. a. dazu dient, die Legitimität organisationalen Handeln in einem gleichsam zeremonialen Gebaren zu demonstrieren. So ist denn insgesamt die Skepsis gegenüber dem Rationalmodell von O.en inzwischen eine der wichtigsten Ausgangsprämissen der modernen O.s-Forschung.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
P. Preisendörfer: Organisation, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Organisation (abgerufen: 24.11.2024)