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Version vom 4. Januar 2021, 11:08 Uhr
1. Die Theorie: Überzeugende Argumente für Freihandel
Im Jahre 1850 schrieb der französische Ökonom und Politiker Frédéric Bastiat seine berühmte Kerzenmacherfabel, in der er „nachwies“, dass die Aussperrung der unverschämt günstigen (wahrscheinlich von England gesandten) Sonne den Wohlstand in Frankreich dramatisch erhöhen würde. Und in der Tat ist Außenhandel seit jeher politisch umstritten; es vermischen sich in der Debatte politische sowie ökonomische Argumente mit Partikularinteressen. Die wissenschaftlich-analytische Beschäftigung mit dem Außenhandel ist etwa so alt wie das Fach Volkswirtschaftslehre selbst, also etwa 240 Jahre. Unter den ersten Arbeiten hervorzuheben sind die Werke von Adam Smith, David Hume und David Ricardo. Auch F. Bastiat war theoretisch umfassend gebildet und stand in engem Kontakt zu Richard Cobden, der in der britischen Liberalisierungsbewegung eine führende Rolle spielte.
Seitdem hat sich eine breite ökonomische Literatur zum F.s-Konzept entwickelt. Diese sowie politökonomische Überlegungen legen dabei den Schluss nahe, dass freier Handel und offene Märkte die bestmögliche Handelspolitik eines Landes darstellen. Die durch zahlreiche theoretische und empirische Studien unterstützten ökonomischen, sozialen und politischen Argumente sind die folgenden:
a) Außenhandel stärkt die Freiheit des Individuums, aber auch der gesamten Gesellschaft. Denn mit Öffnung der nationalen Märkte erweitert sich die Anzahl potentieller Handelspartner wie auch möglicher wirtschaftlicher Aktivitäten erheblich. Diese Vielfalt an potentiellen Handelspartnern vermindert sozusagen nebenbei die Abhängigkeit von einzelnen Handelspartnern und steigert so – entgegen vieler Vorurteile – die nationale Unabhängigkeit.
b) Statische Effizienz: Die im Vergleich zur Autarkie erweiterte Arbeitsteilung erlaubt die Spezialisierung nach komparativen Kostenvorteilen und verbessert so die Allokation der Ressourcen. Konkret bedeutet dies, dass sich Handelspartner auf das Gut spezialisieren, bei dessen Produktion sie relativ (gemessen an den Kostenstrukturen) am besten sind. Selbst wenn ein Partner absolut alles am besten könnte, lohnt sich deshalb Arbeitsteilung für sämtliche Beteiligte, da sie die relative Preise jeweils zugunsten der Partner so verändert, dass sie sich besser stellen als im Status Quo ante.
c) Dynamische Effizienz: Intensiver globaler Wettbewerb erhöht den Druck auf die importkonkurrierende Industrie, die Produktivität zu steigern;
d) Außerdem bewirken Importe einen Technologietransfer.
e) Außenhandel sorgt für ein besseres Verständnis anderer Kulturen und trägt zum Frieden bei (so schon Cordell Hull 1945 und zahleiche empirische Studien zum Thema); das bekannteste Beispiel ist die EU, zumindest mit Blick auf den Europäischen Binnenmarkt.
f) Die positiven wirtschaftlichen Effekte des Außenhandels vergrößern die Mittelschicht; dies zeigt sich gerade in Asien (bspw. in Korea und Singapur) und in Afrika, wo selbst in Äthiopien eine kleine Mittelschicht entsteht. Dadurch steigt der Druck auf politische Eliten, die sog.en Institutionen zu verbessern, d. h. konkret v. a. die Rechtsordnung und private Eigentumsrechte zu stärken, wirtschaftliche Freiheit zu erhöhen und Korruption abzubauen.
g) Durch internationalen Handel steigt der Bedarf an Infrastruktur gerade in Schwellen- und Entwicklungsländern. Werden diese Investitionen vorgenommen, kann sich ein positiver Kreislauf einstellen, weil die Kosten der Arbeitsteilung durch bessere Straßen, billiger Kommunikationswege oder umfassende Finanzdienstleistungen sinken.
Wenn auch diese positiven Wirkungen nicht unmittelbar und für alle Bürger eines Landes eintreten, so zeigt sich doch über die mittlere Frist, dass die Chancen aller Bürger auf Wohlstand in einem F.s-Regime bzw. in einem Regime offener Märkte (selbst mit zahlreichen Ausnahmen, wie sie in der Realität bestehen) höher sind als in einer geschlossenen Wirtschaft.
2. Die Realität: Der attraktive Protektionismus
Der Widerstand gegen F. ist jedoch groß und politisch weit verbreitet. Er basiert offensichtlich erstens auf der Vorstellung, dass internationaler Handel ein Nullsummenspiel ist: Was die einen gewinnen, verlieren die anderen. Durch Abgrenzung gegen ausländische Konkurrenz könne man sich vor Verlusten schützen. Insofern könne man eine Marktöffnung nur gegen Zugeständnisse anderer Länder vertreten. Die Vorstellung, dass mit Protektionismus das Inland vor Ausbeutung durch andere geschützt werden kann, ist jedoch irrig. Denn zum Ersten ist Außenhandel im Grundsatz nicht mehr als die Erweiterung der interpersonellen Arbeitsteilung auf Handelspartner anderer Nationen; erschwerend wirken dabei v. a. Unterschiede in der Rechtsordnung der beteiligten Länder. Niemand aber käme auf die Idee, innerstaatliche Arbeitsteilung als Ausbeutung der einen durch die anderen zu sehen und die Selbstversorgung für jeden Bürger vorzuschlagen. Zum Zweiten zeigt sich regelmäßig, dass Handelsbarrieren nicht der gesamten Bevölkerung, sondern einzelnen Sektoren dienen. Es geht also um das gezielte Bedienen einiger partikularer Interessen.
Ein zweites Argument sieht Protektionismus als Möglichkeit, sozial Schwache vor dem Wettbewerb zu schützen. Der ausländische Wettbewerb zerstöre Arbeitsplätze und müsse deshalb eingeschränkt werden. Dieses Argument birgt zwei logische Schwachstellen: Erstens kann man Strukturwandel nur kurzfristig mit Hilfe von Handelsbarrieren unterdrücken, d. h. gefährdete Arbeitsplätze sind in der kurzen Frist eventuell gesichert, aber erweisen sich langfristig als nicht rentabel und werden daher wegfallen. Zweitens unterhöhlt der Protektionismus soziale Ziele, wenn Konsumgüter wie bspw. Lebensmittel, Schuhe und Kleidung, für die gerade die einkommensschwachen Haushalte einen Großteil ihres Einkommen ausgeben müssen, mit bes. hohen Zöllen belegt sind, wie es in den meisten OECD-Ländern der Fall ist.
Es gibt darüber hinaus drei theoretische Argumente, vom Abweichungen vom F. nahelegen. Zunächst ist das Erziehungszoll-Argument zu nennen, das nahelegt, man könne Unternehmen dadurch unterstützen, dass man sie vor Wettbewerb schützt, bis sie in der Lage sind, zu konkurrieren. In seiner verfeinerten Form (d. h. unter Berücksichtigung von technisch bedingten Lerneffekten) hat das Argument einiges Gewicht; ansonsten muss darauf hingewiesen werden, dass gerade der Wettbewerb das Lernen oft erst erzwingt. Aus etwas anderer Perspektive nähern sich das Optimalzoll-Argument und das Argument der strategischen Handelspolitik dem Thema. Hier geht es im ersten Fall explizit um die Ausnutzung von Macht zu Lasten eines anderen Landes bzw. im zweiten Fall um die Rentenumlenkung auf Oligopolmärkten vom Ausland ins Inland. Beide Argumente sind dem Denken in Nullsummen verhaftet und spiegeln eine geringe Kooperationsbereitschaft wider. Zudem verlieren sie dadurch an Überzeugungskraft, dass Unternehmen nicht mehr nur in einem Land agieren, sondern in globale Wertschöpfungsketten (GVCs) eingebunden sind. Die Ausbeutung des Auslandes durch das Inland bzw. die Rentenumlenkung wird dann sehr unsicher.
Dennoch gibt es kein Land, das sich dem vollständigen F. verschrieben hat. Eine Ausnahme war Estland vor dem Beitritt zur EU ab dem Jahr 2000, historisches Vorbild war wohl Großbritannien mit dem Anti-Corn Law von 1846, mit dem Großbritannien einseitigen F. betrieb. Mit dem Beitritt zur EU im Jahre 2004 musste Estland sich dem gemeinsamen Besitzstand unterwerfen, der explizite Handelsbarrieren vorsieht. In allen großen Ländern werden sog.e Schlüsselsektoren (zumeist die Landwirtschaft [ Land- und Forstwirtschaft ], Energie, Textilien u. a.) geschützt.
3. Der Ausweg: Die multilaterale Ordnung als Weg zum Freihandel?
Die Hauptursachen für die Abweichung von der F.s-Doktrin liegen in der Kraft der Partikularinteressen, wie z. B. die Automobilindustrie, die Chemie oder die Landwirtschaft. Die meisten Handelspolitiker erkennen den Wert des Außenhandels an. Deswegen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine multilaterale Handelsordnung geschaffen, um die aus ökonomischer Perspektive rationale Liberalisierung auch politisch attraktiv zu machen. Dazu dient das Prinzip der Reziprozität, das ökonomisch keinen Sinn macht, aber den politischen Entscheidungsträgern eines Landes ein gewichtiges Argument gegen heimische Interessengruppen an die Hand gibt. In Anlehnung an dieses Prinzip lässt sich im politischen Raum argumentieren, dass ohne Zugeständnisse ausländische Märkte nicht geöffnet werden können. Jan Tumlir hat es so formuliert, dass das GATT nur den Sinn hätte, die Politiker von der Sklaverei der „Rent-Seeking Society“ zu befreien.
Auf jeden Fall kann die Reziprozität eine starke Waffe gegen den Protektionismus sein. Die WTO mit ihren Prinzipien Nicht-Diskriminierung, Reziprozität und Liberalisierung hat wesentlich zur Öffnung von Märkten und Integration großer Teile der Menschheit in die internationale Arbeitsteilung beigetragen. Sie sollte weiterhin der Treiber weiterer Integrationsbemühungen sein.
Literatur
R. C. Feenstra/A. M. Taylor: International Economics, 32015 • R. Sally: Trade Policy, New Century, 2008 • D. Irwin: Against the Tide: An Intellectual History of Free Trade, 1996 • J. Tumlir: National Sovereignty, Power, and Interest, in: ORDO 31 (1980), 1–26 • C. Hull: Memoirs, 2 Bde., 1945 • A. Lösch: Wo gilt das Theorem der komparativen Kosten?, in: Weltwirtschaftliches Archiv 48 (1938), 45–65 • F. Bastiat: Petition der Fabrikanten von Kerzen, Lampen, Kerzenständern, Straßenlaternen, Lichtputzscheren, Kerzenlöschern und von Talg-, Öl-, Harz-, Alkoholprodukten sowie allgemein von allem, was der Beleuchtung dient, 1850 • D. Ricardo: On the Principles of Political Economy and Taxation, 1817 • A. Smith: Wealth of Nations, 1776 • D. Hume: On the Jealousy of Trade, 1758.
Empfohlene Zitierweise
A. Freytag: Freihandel, Version 22.10.2019, 17:30 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Freihandel (abgerufen: 23.11.2024)