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Version vom 14. November 2022, 06:02 Uhr
I. Wirtschaftswissenschaftlich
Abschnitt druckenDer Begriff „W.“ ist nicht abschließend definiert und wird mit unterschiedlichem Inhalt verwendet. Zum einen wird er im Deutschen oftmals rhetorisch abwertend und dabei mit sehr unterschiedlichem Akzent eingesetzt. Dann bezeichnet man mit dem Begriff „W.“ entweder eine minimale (implizit unzureichende) „Fürsorge“ und „Armenhilfe“ oder aber eine maximale (implizit überbordende) „Volkswohlfahrt“ und „Volksversorgung“. Eine andere verbreitete Begriffsverwendung sieht den Begriff „W.“ als Übersetzung des im internationalen Diskurs gängigen Welfare State und somit als Oberbegriff aller Formen der Institutionalisierung verschiedener Gegenstandsbereiche der Sozialpolitik. In diesem Sinne wäre „W.“ synonym zu „Sozialstaat“.
Im folgenden Beitrag wird keine implizite Bewertung vorgenommen und es wird zudem eine morphologische Differenzierung zwischen beiden Begriffen markiert. Sie geht davon aus, dass mit „W.“ eine primär steuerfinanzierte Transfergewährung gemeint ist, während der „Sozialstaat“ wesentlich auf Sozialversicherungen als Parafisci basiert und dort beitragsfinanziert ist. Im Sinne Gøsta Esping-Andersens repräsentieren beide Begriffe unterschiedliche institutionelle Typen: Der „Sozialstaat“ entspricht dabei dem konservativ-korporatistischen Typ bismarckscher Prägung, wie er insb. in Deutschland verwirklicht ist. Der „W.“ hingegen ist in zweierlei Art vorzufinden: im angelsächisch-liberalen und im sozialdemokratisch-skandinavischen Typ.
Beide Typen des W.s sind voneinander zu unterscheiden, da sie unterschiedliche Ziele verfolgen und dazu passende Institutionen ausgebildet haben. Auf der einen Seite steht beim liberalen Typ das Ziel eines minimalen W.s, einhergehend mit Fokussierung auf bes. bedürftige Personen und minimalem Sicherungs- und Regulierungsumfang. Auf der anderen Seite wird im sozialdemokratischen Typ das Ziel der Volkswohlfahrt mit umfangreichen Leistungen und Regulierungen für breite Schichten der Bevölkerung verfolgt.
1. Der liberale Wohlfahrtsstaat angelsächsicher Prägung
Mit seiner Konzentration auf das Ziel der Armutsbekämpfung steht der liberale W. in der Tradition des von William Henry Beveridge 1942 vorgelegten Berichts, der eine steuerfinanzierte, universelle Grundsicherung in staatlicher Regie vorsieht und andere, weitergehende Bereiche sozialer Sicherheit und Umverteilung nur gering ausbaut. Die Grundsicherung nach Bedarfsprüfung wird durch Leistungen in einzelnen Politikfeldern (Gesundheit, Arbeitsmarkt, Wohnen u. a.) ergänzt; auch diese ergänzenden Leistungen sind in Quantität und Qualität limitiert. Darüber hinaus ist der Umfang arbeitsrechtlicher Regulierungen vergleichsweise gering.
Diese Struktur des liberalen W.s angelsächsicher Prägung eröffnet breite Handlungsspielräume für private Initiativen und Lösungen, sie führt gleichzeitig auch dazu, dass Arbeitsmärkte und Märkte für soziale Dienstleistungen stark segregiert sind: Insb. auf dem Arbeitsmarkt, aber auch bei den sozialen Dienstleistungen sind die Unterschiede gravierend, da hoch qualifizierte Beschäftigte eine Vielzahl hochwertiger sozialer Zusatzleistungen (fringe benefits) ihrer Arbeitgeber nutzen können, während gering qualifizierte Beschäftigte keine entspr.en Angebote erhalten. So werden die Lohnunterschiede auf dem Arbeitsmarkt durch private Rentenversicherung und Krankenversicherung, Kinderbetreuung u. a. sowie auch durch steuerrechtliche Bevorzugung verstärkt, was zu einer starken und verfestigten sozialen Ungleichheit z. B. in den USA und Großbritannien führt. Versuche, diese Klassentendenz des liberalen W.s durch Reformen abzumildern, stoßen regelmäßig auf heftigen politischen Widerstand und sind wenig erfolgreich.
Der sozialdemokratische W. steht in der Tradition des „Folkhemmet“/„Volksheim“-Gedankens und wurde ab den 1930er Jahren in Schweden aufgebaut, v. a. durch die Reformen unter Ministerpräsident Per Albin Hansson. Sein Anspruch, einen dritten Weg zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus zu beschreiten, führt zu umfassenden Institutionen und hohen Standards der sozialen Sicherung und Umverteilung, aber auch hohen Steuersätzen und entspr. negativen Anreizeffekten. In seiner Hochphase wurde der sozialdemokratische W. durch hohes Volkseinkommen und solides Wirtschaftswachstum getragen. Dabei basiert es stärker als das liberale Modell auch auf Pflichtbeiträgen der Arbeitgeber.
Der universale Anspruch des sozialdemokratischen W.s zur Umsetzung sozialer Bürgerrechte ist sowohl quantitativ als auch qualitativ manifest. Er wird in einem breiten Spektrum von Handlungsfeldern – von der inklusiven Bildungsförderung über die Regulierung des Arbeitsmarktes bis hin zur staatlich organisierten Kinderbetreuung und hohen Standards im Gesundheitswesen und bei der Alterssicherung – verwirklicht. Dabei kommt den Kommunen sowohl mit Blick auf die Prävention als auch die Kuration eine bes. Bedeutung zu, wobei das sozialdemokratische Modell bes. gut geeignet ist, Konzepte der Prävention z. B. mit Blick auf Bildung, Gesundheit und Partizipation umzusetzen. Sofern Prävention gelingt, ist dieses Modell von hoher Effektivität und auch Effizienz. Andererseits wurden im Zuge der verschärften Wettbewerbslage und verschiedener Wirtschaftskrisen negative Anreizeffekte des skandinavischen Modells – international bekannt wurde der Grenzsteuersatz von bis zu 100 % – thematisiert und entgegengesetzte Reformen vorgenommen, z. B. durch Liberalisierung des Arbeitsmarkts, verstärkte Wettbewerbselemente sozialer Dienstleistungen und eine Reform der Alterssicherung, welche deren Niveau an die wirtschaftliche und demographische Entwicklung gekoppelt und sich insofern vom Ideal der universellen Volksversorgung verabschiedet hat.
3. Perspektiven des Wohlfahrtsstaats
Beide Modelle des W.s stehen unter einem erheblichen Reformdruck, entweder das niedrige Sicherungs- und Umverteilungsniveau anzuheben (z. B. durch die Gesundheitsreform Obamacare in den USA) bzw. das hohe Niveau abzusenken (z. B. durch die Reform der Alterssicherung in Schweden). Trotz heftiger politischer Widerstände scheinen sich langfristig diese Reformbestrebungen zu verstärken, weshalb zumindest in Teilaspekten eine Konvergenz des liberalen und des sozialdemokratischen W.s vonstattengeht. Die entspr.en Reformen machen beide Modelle zukunftsfähiger.
Zudem spricht für das Konzept des W.s, dass er aufgrund des höheren Anteils der Steuerfinanzierung und der stärkeren bürgerschaftlichen Tradition weniger stark von Normalitätsfiktionen abhängt, dies z. B. mit Blick auf Arbeitsverhältnisse, Familienformen und gesellschaftliche Großgruppen. Daher sind in ihm Grundsicherungs- und Bürgerversicherungskonzepte leichter umzusetzen.
Literatur
J. W. Althammer/H. Lampert/M. Sommer: Lehrbuch der Sozialpolitik, 102021 • J. Schmid: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, 32010 • W. Schönig: Rationale Sozialpolitik. Die Produktion von Sicherheit und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften und ihre Implikationen für die ökonomische Theorie der Sozialpolitik, 2001.
Empfohlene Zitierweise
W. Schönig: Wohlfahrtsstaat, I. Wirtschaftswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Wohlfahrtsstaat (abgerufen: 25.11.2024)
II. Politikwissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Begriff
Der Terminus W. stammt aus dem angelsächsischen Sprachgebrauch. In Deutschland ist stärker von Sozialpolitik, Sozialstaat oder Sozialer Marktwirtschaft die Rede. Der W. ist eine institutionalisierte, auf „sozialen Rechten“ (Marshall 1964: 78) beruhende Lösung der Risiken einer modernen Gesellschaft (v. a. Alter, Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Unfall, Pflege). Er bekämpft das Ausmaß gesellschaftlicher Ungleichheit und sorgt für soziale Integration. Zusammen mit Demokratie und Kapitalismus bildet der W. ein komplexes Gefüge wechselseitiger Abhängigkeit.
2. Ansätze und Typen
Der Versuch, Genese, Dynamik und Varianz des modernen W.s zu erklären, hat zu einer Reihe von Erklärungen geführt: In normativen Ansätzen geht es um die Begründung des W.s; so z. B. die Analysen des Sozialstaatspostulates des GG oder der politischen Weltanschauungen (wie demokratischer Sozialismus oder christliche Sozialethik).
Funktionalistische Ansätze interpretieren den W. als Anpassung an die Arbeits-, Familien- und Lebensformen im Rahmen der Modernisierung der Gesellschaft. Problemdruck (wie Arbeitslosen- oder Rentnerquote) und Wirtschaftskraft geben demnach einen universellen Trend zum W. vor.
In Theoremen über den Unterschied, den Politik in einer Demokratie machen kann, spielen v. a. Parteien und Interessengruppen eine wichtige Rolle. Sie vertreten unterschiedliche soziale Schichten, verfügen über differierende Programmatiken und produzieren daher unterschiedliche Regierungsaktivitäten. Diese sind zudem durch politische Institutionen historisch und kulturell eingebunden. Damit gewinnen beharrende Kräfte und nationale Entwicklungspfade an Bedeutung.
Dies wird von Gøsta Esping-Andersen (1990) als „drei Welten“ des W.s plastisch ausgedrückt. Sie stellen jeweils unterschiedliche Formen der Institutionalisierung von sozialer Sicherheit und Vollbeschäftigung dar und basieren auf korrespondierenden politischen Ideologien und Machtverteilungen; ferner korrelieren sie mit Mustern der sozialen Schichtung und (politisch miterzeugter) Ungleichheit. Ein wesentliches Merkmal bildet das Ausmaß an „Dekommodifizierung“, d. h. die sozialpolitisch ermöglichte Lockerung des Zwangs zur Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit. Für die einzelnen Welten sind folgende Aspekte elementar:
a) Der Typ des liberalen W.s betont den Wert der Freiheit, die positive Rolle des Marktes und die Familie. Die Ausgaben sind niedrig, soziale Anspruchsrechte gering entwickelt und oft mit Bedürftigkeitsprüfungen verbunden, was häufig zu Stigmatisierung führt. Die Finanzierung erfolgt v. a. aus dem Staatshaushalt. Interventionen in den Arbeitsmarkt erfolgen v. a. zur Auflösung von Flexibilitätshemmnissen und zur Wahrung der Wettbewerbs- und Vertragsfreiheit. Im Ganzen bleibt damit die soziale Ungleichheit groß.
b) Der sozialdemokratische W. ist universalistisch ausgerichtet, d. h. Ansprüche basieren auf sozialen Bürgerrechten, und es wird Gleichheit auf hohem Niveau angestrebt. Die Finanzierung der hohen Leistungen erfolgt weitgehend aus dem Staatshaushalt. Zugl. werden Dienstleistungen überwiegend vom öffentlichen Dienst erbracht, der einen sehr großen Umfang annimmt und somit nicht nur sozialpolitisch, sondern auch arbeitsmarktpolitisch eine Schlüsselfunktion innehat. Die Bemühungen um Vollbeschäftigung sind hier am intensivsten.
c) Der konservative Typ des W.s folgt v. a. der Norm der Sicherheit. Er interveniert zwar, allerdings eher temporär und oft aus staatspolitischen Gründen. Er ist ferner lohnarbeits- und sozialversicherungszentriert (Sozialversicherung) mit der Folge, dass soziale Rechte stark an Klasse und Status gebunden sind und die Ansprüche auf Beiträgen basieren. Grundlage dieses Modells sind das Normalarbeitsverhältnis und die Normalfamilie, die mit politischen Mitteln stabilisiert werden. Diesem Typus wird Deutschland zugeordnet.
Die jüngeren Ansätze behandeln die veränderten Bedingungen in der Phase des Ab- und Umbaus des W.s (New Politics). Als Ursache von Reformen gelten demographische, soziale, kulturelle, ökonomische und internationale Herausforderungen. Neben der Senkung der Leistungen geht es um eine Umorientierung auf Aktivierung und neue Risiken sowie die Vermeidung der negativen politischen Reaktionen. Zudem erweisen sich die Sozialbürokratien und Professionen (wie Ärzte und Sozialarbeiter) als machtvolle Sachwalter der Interessen des W.s. Nicht selten scheitern Kürzungen an ihrem Veto – und nicht am Protest der betroffenen sozial schwachen Gruppen. Das wiederum begünstigt v. a. im konservativen Modell die Dualisierung von W. und Arbeitsmarkt bzw. die Spaltung in Insider und Outsider. Ferner kritisiert die feministische W.s-Forschung (Feminismus) das patriarchalische male breadwinner Modell und geht davon aus, dass unterschiedliche „Gender Regime“ existieren, in denen spezifische Ideologien und Politiken zum Ausdruck kommen, die die soziale Lage der Frauen erheblich beeinflussen. Trotz des vieldiskutierten Abbaus oder, empirisch korrekter, des Verharrens auf hohem Niveau, existieren neue Wachstumsfelder des W.s wie die Familienpolitik und Pflegepolitik; aber auch das Bildungswesen, das statistisch jedoch nicht den Sozialausgaben zugerechnet wird.
Literatur
G. Bonoli/D. Natali: The Politics of the New Welfare State, 2012 • J. J. Schmid: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, 32010 • M. G. Schmidt u. a. (Hg.): Der Wohlfahrtsstaat, 2006 • G. Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism, 1990 • T. H. Marshall: Class, Citizenship, and Social Development, 1964.
Empfohlene Zitierweise
J. Schmid: Wohlfahrtsstaat, II. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Wohlfahrtsstaat (abgerufen: 25.11.2024)