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Aktuelle Version vom 7. Februar 2023, 14:30 Uhr
I. Wirtschaftlich
Abschnitt drucken1. Allgemeines
Unter dem E. versteht man die wirtschaftlichen Ressourcen, die bei sparsamer Wirtschaftsweise erforderlich sind, um einen als unbedingt notwendig anerkannten Mindestbedarf abzudecken. Die sozialwissenschaftliche Literatur unterscheidet dabei zwischen dem physischen und dem soziokulturellen E. Unter dem physischen E. ist die Summe der Aufwendungen zur Aufrechterhaltung der physischen Existenz zu verstehen, also die existenziell notwendigen Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Heizung sowie Hygiene und Gesundheit. Personen, deren Konsummöglichkeiten das physische E. unterschreiten, gelten als extrem arm. Das soziokulturelle E. umfasst neben diesen Aufwendungen auch Ausgaben zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zur Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Beide Konzepte, physisches wie soziokulturelles E., sind von äußeren Faktoren wie klimatischen Gegebenheiten, dem regionalen Preisniveau und gesellschaftlichen Konventionen abhängig und somit kulturspezifisch.
Für die Wirtschafts- und Sozialordnung der BRD ist das soziokulturelle E. von besonderer Bedeutung. So ist der deutsche Staat aufgrund Art. 1 GG (Garantie der Menschenwürde) i. V. m. dem Sozialstaatsgebot (Art. 20 und 28 GG; Sozialstaat) verpflichtet, allen Gesellschaftsmitgliedern das E. zu gewährleisten. Nach der Rechtsprechung des BVerfG bezieht sich diese Gewährleistungspflicht explizit auf das soziokulturelle E., denn „der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“ (BVerfG Urteil vom 9.2.2010, 1 BvL 1/09, 1 BvL3/09, 1 BvL 4/09, Rdnr. 135). Dieser Anspruch wird durch das System der Grundsicherung, also die Sozialhilfe (SGB XII) und die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), sichergestellt. Für Asylbewerber gelten leicht abweichende Vorschriften durch das AsylbLG. Nach dem SGB setzt sich das E. einer Person aus dem Regelbedarf und dem Bedarf für Unterkunft und Heizung zusammen. Im Regelbedarf sind die für notwendig erachteten Ausgaben für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens und der sozialen Teilhabe zusammengefasst. Kinder haben darüber hinaus Anspruch auf Leistungen zur Abdeckung spezifischer Bildungs- und Teilhabebedarfe.
Aufgrund des Sozialstaatsprinzips ist der Gesetzgeber darüber hinaus verpflichtet, nur dasjenige Einkommen zu besteuern, welches für den Steuerpflichtigen frei verfügbar („disponibel“) ist. Als nicht disponibel und somit nicht steuerpflichtig gelten der sozialhilferechtliche Sachbedarf sowie der Versorgungsbedarf für den Krankheits- und Pflegefall, insb. die entsprechenden Versicherungsbeiträge. Als ebenfalls indisponibel sind das sächliche E. unterhaltsberechtigter Kinder (Sachbedarf) sowie die kindbezogenen Vorsorgeaufwendungen anzusehen. Darüber hinaus wird die steuerliche Leistungsfähigkeit von Eltern durch den Betreuungs- und Erziehungsbedarf eines Kindes gemindert.
Die steuerliche Verschonung des E.s erfolgt für den Steuerpflichtigen durch den Grundfreibetrag des Einkommensteuertarifs (die sogenannte „tarifliche Nullzone“). Die Berücksichtigung der verminderten steuerlichen Leistungsfähigkeit von Eltern wird durch den Kinderfreibetrag und den Freibetrag für Betreuung und Erziehung sichergestellt. Die kindbedingten steuerlichen Freibeträge werden seit 1996 mit dem Kindergeld verrechnet, so dass für die meisten Familien die steuerliche Verschonung des E.s durch das Kindergeld erfolgt. Alle steuerlichen Freibeträge müssen regelmäßig an die Entwicklung des soziokulturellen E.s angepasst werden. Hierzu legt die Bundesregierung alle zwei Jahre einen E.-Bericht vor, in dem die Höhe des steuerfrei zu stellenden E.s und die Berechnungsgrundlagen dargestellt werden.
2. Berechnung
Das physische E. spielt v. a. in der internationalen Armutsberichterstattung eine Rolle. Als extrem arm bezeichnet die Weltbank Personen, welche kaufkraftbereinigt weniger als 1,90 US-Dollar täglich zur Verfügung haben. Diese sogenannte Hungergrenze wird seit 1985 berechnet und regelmäßig angepasst. Nach Berechnungen der Weltbank ist der Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Mussten im Jahr 1990 noch 2 Mrd. Menschen, das waren 44 % der Weltbevölkerung, mit einem Einkommen von weniger als 1,90 US-Dollar auskommen, so waren es 2015 noch 700 Mio. Menschen, das entspricht 9,6 % der Weltbevölkerung.
Für die Berechnung des soziokulturellen E.s existieren zwei Verfahren: das Warenkorb- und das Statistikmodell. Beim Warenkorbmodell werden von einer Kommission zunächst jene Güter und Dienstleistungen bestimmt, welche für ein menschenwürdiges Leben erforderlich sind. Diese Güter und Dienstleistungen werden anschließend mit Preisen bewertet, die sich im unteren Bereich des Marktpreisspektrums bewegen. Die Summe dieser Aufwendungen stellen den sogenannten Regelbedarf dar, der zusammen mit den Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (dem „Wohnbedarf“) das soziokulturelle E. ergibt. An diesem Verfahren wird kritisiert, dass sich der Bedarf nicht an einer objektivierbaren Größe orientiert, sondern durch ein externes Gremium subjektiv festgelegt wird. Dieser Kritik versucht das Statistikmodell zu begegnen. Nach diesem Modell werden die Leistungen nach den tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben unterer Einkommensgruppen bemessen. Um Zirkelschlüsse zu vermeiden, werden bei dieser Berechnung die Bezieher von Grundsicherungsleistungen ausgeklammert. Das Konsumniveau dieser Gruppen ergibt dann den Regelbedarf. Beim Statistikmodell wird v. a. die Durchschnittsbildung bei der Ermittlung der Verbrauchsausgaben kritisiert. Wenn bspw. die Ausgaben für einen Internet-Zugang als bedarfsrelevant angesehen werden, ein günstiger Internetanschluss 40 Euro monatlich kostet und 70 % der einkommensschwächsten Haushalte über einen entsprechenden Internetanschluss verfügen, so beträgt der nach dem Statistikmodell ermittelte Regelbedarf 28 Euro. Dies ist jedoch unzureichend, um den als existenzminimal anerkannten Kommunikationsbedarf abzudecken.
In Deutschland erfolgte die Ermittlung der sozialhilferechtlichen Regelbedarfe bis 1990 nach dem Warenkorbmodell. Derzeit findet ein sogenanntes modifiziertes Statistikmodell Anwendung (§ 28 SGB XII i. V. m. RBEG). Dabei werden auf der Grundlage der EVS des StBA zunächst Referenzhaushalte gebildet. Die EVS ist eine bevölkerungsrepräsentative Haushaltsbefragung, die alle fünf Jahre durchgeführt wird. Für Einpersonenhaushalte werden die 15 % einkommensärmsten, für Familienhaushalte die 20 % einkommensärmsten Haushalte (ohne Bezieher von Grundsicherungsleistungen) als Referenzgruppe herangezogen. Anschließend werden gemäß dem Statistikmodell die Verbrauchsausgaben dieser Personengruppen empirisch ermittelt. Von diesen Aufwendungen werden jedoch bestimmte Ausgaben als nicht regelsatzrelevant ausgeklammert; lediglich die als regelsatzrelevant anerkannten Konsumausgaben werden zur Bestimmung des E.s herangezogen. Während der Regelsätze für Kinder und Jugendliche ursprünglich als ein bestimmter Prozentsatz des Regelsatzes von Erwachsenen bestimmt wurde (sogenannte abgeleitete Regelsätze), werden seit 2010 für Kinder und Jugendliche eigenständige Bedarfssätze ermittelt. Bestimmte Personengruppen wie Alleinerziehende oder Menschen mit Behinderung erhalten entsprechende Mehrbedarfszuschläge. Zwischen den Erhebungen der EVS werden die Regelsätze mittels eines Indexverfahrens fortgeschrieben. Die so ermittelten Regelbedarfe werden auch den Beziehern von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende (SGB II) zugrunde gelegt.
Die nachstehende Tab. 1 gibt die Entwicklung des sozialhilferechtlichen und des steuerrechtlichen E.s für alleinstehende Erwachsene auf Basis der E.-Berichte und des Einkommensteuerrechts wieder.
Regelsatz (monatlich) | Wohnbedarf (monatlich) | Heizkosten (monatlich) | Sächliches Existenzminimum (jährlich) | Grundfreibetrag (§ 32a EStG) | |
2001 | 278 | 179 | 36 | 6 402 | 6 681 |
2005 | 347 | 216 | 50 | 7 356 | 7 664 |
2010 | 364 | 210 | 64 | 7 656 | 7 664 |
2015 | 399 | 249 | 58 | 8 472 | 8 354 |
2018 | 414 | 283 | 53 | 9 000 | 8 652 |
Tab. 1: Entwicklung des sozialhilferechtlichen und des steuerrechtlichen E.s für alleinstehende Erwachsene auf Basis der E.-Berichte. (Quellen: Bundesfinanzministerium; § 32 a EStG; Angaben in Euro)
Am modifizierten Statistikmodell wird v. a. die intransparente Bereinigung der statistisch ermittelten Konsumausgaben kritisiert. Der Gesetzgeber besitzt zwar einen gewissen Entscheidungsspielraum bei der Einschätzung des notwendigen Bedarfs. Dieser Regelbedarf muss jedoch zeit- und realitätsgerecht festgelegt werden und tragfähig begründbar sein.
Literatur
C. Dudel u. a.: Regelbedarfsermittlung für die Grundsicherung. Perspektiven für die Weiterentwicklung, in: Sozialer Fortschritt 66/6 (2017), 433–450 • R. Schüssler: Sozialrechtliche Regelbedarfsleistungen. Kritik und Reformbedarf, in: WD 95/1 (2015), 63–67 • I. Becker/R. Schüssler: Das Grundsicherungsniveau. Ergebnis der Verteilungswirkung und normativer Setzungen, in: Hans Böckler Stiftung (Hg.): Arbeitspapier 298, 2014 • F. Thießen/C. Fischer: Die Höhe der sozialen Mindestsicherung. Eine Neuberechnung „bottom up“, in: ZfW 57/2 (2008), 144–173 • T. Thormählen/R. Schmidtke: Zehn Jahre Existenzminimumbericht – eine Bilanz, in: WD 85/5 (2005), 304–311 • Bundesfinanzministerium (Hg.): Bericht über die Höhe des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Erwachsenen und Kindern (Existenzminimumbericht), ab 1994.
Empfohlene Zitierweise
J. Althammer: Existenzminimum, I. Wirtschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Existenzminimum (abgerufen: 22.11.2024)
II. Rechtlich
Abschnitt drucken1. Begriff
Das E. bezeichnet die materiellen Voraussetzungen, die für das Dasein eines Menschen notwendig sind. Sein Inhalt und Umfang sind dynamisch, sie hängen ab von den gesellschaftlichen Anschauungen sowie den wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten. Seit Gründung der BRD haben sich die menschlichen Lebensbedingungen kontinuierlich verbessert, was zu seiner steten Erhöhung geführt hat. War ursprünglich allein die physische Existenz des Einzelnen maßgebend und so nur sein Bedarf an Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit umfasst (sächliches, physisches E.), so ändern sich die Maßstäbe mit dem GG, das alle Staatsgewalt zu Achtung und Schutz der Menschenwürde verpflichtet. Gewährleistet sein müssen hiernach auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (soziokulturelles, kulturelles, soziales E.). Rechtspolitisch wird zudem ein ökologisches E. i. S. d. Garantie eines für menschliches Leben notwendigen Mindestbestandes an fundamentalen Lebensgrundlagen diskutiert. In der Logik des Begriffs angelegt ist auch eine Senkung des Niveaus, wenn sich gesellschaftliche Anschauungen und allgemeiner Lebensstandard zurückentwickeln.
2. Abgrenzung
Das E. ist abzugrenzen von verwandten Fragestellungen. Die Kategorie der Armut bemisst sich nicht nach einem für ein menschenwürdiges Dasein notwendigen materiellen Mindestbedarf, sondern nach dem Nichterreichen eines hiervon unabhängigen Durchschnittseinkommens der Bevölkerung. Das Konzept des Mindestlohns zielt auf die Absicherung des E.s abhängig Beschäftigter und ihrer Familie durch die staatliche Festsetzung von Löhnen; Personen, die mit ihrer beruflichen Tätigkeit ein Einkommen unterhalb des E.s erzielen, gewährt das Sozialrecht einen Anspruch auf ihr Einkommen ergänzende staatliche Leistungen (sogenannte Aufstocker).
3. Historische Grundlagen
Der Begriff E. entstammt den Wirtschaftswissenschaften und wurde dort erstmals in der Mitte des 19. Jh. verwandt. Die Versorgung der Bedürftigen mit dem Lebensnotwendigen ist dagegen ein kontinuierliches Grundproblem menschlicher Vergesellschaftung. Ursprünglich wurde sie als Armenhilfe von der Gesellschaft getragen, in Europa mit dem Aufkommen des Christentums in erster Linie von den Kirchen. Im Zuge des Aufstiegs weltlicher Ordnungsgewalten seit dem 13. Jh. nahmen sich auch städtische und territoriale Potenzen der Bedürftigenversorgung an, bis diese sich zum Ausgang des 18. Jh. hin schrittweise zu einer staatlichen Aufgabe entwickelte (§ 5 II PrALR). In der Folgezeit wurde das E. geregelt in Fürsorgegesetzen der Länder und später auch des Reichs. Die „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ vom 4.12.1924 (RGBl. I, 765) galten in der BRD fort bis zu deren Ablösung zum 1.6.1962 durch das BSHG. Mit der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe in den Gesetzen zur Reform des Arbeitsmarktes zur Umsetzung des Programms der „Agenda 2010“ findet sich die Bedürftigenversorgung seit dem 1.1.2005 im SGB II als „Hilfe für Arbeitsuchende“ (Arbeitslosengeld II, sogenannt Hartz IV) sowie im SGB XII als „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“. Die Ermittlung des monatlichen Bedarfs erfolgte unter Geltung des BSHG zunächst nach dem Warenkorbmodell, dessen Grundlage ein vom „Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V.“ konzipierter Warenkorb bildete, der sich an den Lebens- und Verbrauchsgewohnheiten unterer Einkommensgruppen orientierte; seit dem Jahre 1990 wird ein auf Einkommens- und Verbrauchsstichproben basierendes Statistikmodell verwandt.
4. Verfassungsrechtliche Vorgaben
Unter dem GG ergibt sich aus der Garantie der Menschenwürde i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip (Sozialstaat) ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen E.s. Diese Gewährleistung ist durch einen gesetzlichen Anspruch zu sichern, der stets den gesamten existenznotwenigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt. Zur genauen Bezifferung des Anspruchs trifft das GG keine Aussagen, sondern überantwortet seine Festlegung dem parlamentarischen Gesetzgeber. Dieser verfügt über einen Gestaltungsspielraum, solange seine Entscheidungen über die „unbedingt erforderlichen“ Mittel nicht evident unzureichend sind. Der Gesetzgeber hat sich am jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens zu orientieren und zur Ermittlung des Anspruchsumfangs alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen und stetig zu aktualisieren. Bedarfe können gruppenbezogen erfasst, typisiert und pauschaliert werden, wobei für einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarf ein zusätzlicher Leistungsanspruch vorzusehen ist. Die Verwirklichung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen E.s ist ein Anwendungsfall der Idee des Grundrechtsschutzes durch Verfahren.
Der Staat darf seine Hilfen in Form von Geld-, Sach- oder Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Er braucht die Leistungen auch nicht notwendig selbst zu erbringen, sondern kann andere Akteure, etwa Träger der freien Wohlfahrtspflege, in die Realisierung seiner Aufgabe einbeziehen; ihn trifft lediglich eine Gewährleistungs-, keine Erfüllungsverantwortung. Die selbstverantwortliche Sicherung der eigenen und familiären materiellen Existenz durch eigene Erwerbstätigkeit, den Einsatz des eigenen Vermögens oder Zuwendungen Dritter hat immer Vorrang vor der Hilfe der Gemeinschaft; es gilt der Grundsatz der Subsidiarität. Das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens möchte demgegenüber jedermann einen Anspruch gegen die Gemeinschaft auf Gewährung des E.s zuerkennen, der von seiner Bedürftigkeit wie auch seinen Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt durch eine eigene Beschäftigung selbst zu verdienen, unabhängig sein soll.
Die Versorgung von bedürftigen Personen mit dem für ihre Existenz Notwendigen wurde bis in die Mitte des 20 Jh. unter dem Aspekt der öffentlichen Ordnung als eine allein objektiv-rechtliche Pflicht des Staates verstanden. Unter dem GG hielt das BVerwG hingegen von Beginn an nur eine Auslegung des Fürsorgerechts für mit der Verfassung vereinbar, die dem Bedürftigen ein subjektives Recht auf Hilfe zuerkennt. Das BVerfG hat einen verfassungsunmittelbaren Anspruch des Einzelnen auf die Gewährleistung des E.s erst spät im Jahre 2010 in seiner Entscheidung über die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe anerkannt. Das dort formulierte Grundrecht ist aufgrund seiner Fundierung in der Menschenwürde ein Jedermann-Grundrecht und steht so deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der BRD aufhalten, gleichermaßen zu.
5. Beachtung in der gesamten Rechtsordnung
Das sich aus dem GG ergebende Grundrecht des Einzelnen auf Gewährleistung eines menschenwürdigen E.s ist in der gesamten Rechtsordnung zu beachten. So schützt das Zivilrecht das E., indem es familienrechtliche Unterhaltspflichten begrenzt (§ 1603 BGB), Abtretungen und Aufrechnungen verbietet (§§ 394, 400 BGB) sowie in den Verfahren der Zwangsvollstreckung Gegenstände von der Pfändung (§§ 765a, 811, 850 ZPO) und der Insolvenz aus der Masse ausnimmt (§ 36 InsO). Das Steuerrecht darf dem Einzelnen nur so viel nehmen, dass ihm und seiner Familie das E. verbleibt; das Gesetz muss dabei das E. von Kindern nicht notwendig durch einen Abzug von der Bemessungsgrundlage der ESt, sondern kann dieses auch durch die Gewährung eines Kindergeldes an die Eltern berücksichtigen. Ein Abstandsgebot, wonach das steuerfrei verbleibende Einkommen über dem E. zu liegen hat, ist verfassungsrechtlich nicht zwingend, sondern allein eine Forderung praktischer Vernunft. Seit dem Jahre 1995 erstattet die Bundesregierung zuerst im Abstand von drei, seit dem Jahre 1999 im Abstand von zwei Jahren einen E.-Bericht, um dem Bundestag für die Bemessung des von der ESt freizustellenden E.s eine Grundlage zu bieten.
6. Europäisierung und Internationalisierung
Die EU anerkennt und achtet nach Maßgabe ihrer und der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften das Recht auf eine soziale Unterstützung die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen (Art. 34 Abs. 3 EuGRC). Selbst kann die EU lediglich Mindeststandards zum Schutz von Arbeitnehmern setzen (Art. 153 Abs. 1 c AEUV); im Übrigen ist sie auf eine Koordinierungsfunktion beschränkt (Art. 156 Abs. 1 AEUV). Völkerrechtlich hat sich Deutschland in einer Reihe von Abkommen dazu verpflichtet, das Recht auf Gewährung des E.s eines jeden anzuerkennen (z. B. Art. 11 Abs. 1 IPwskR, Teil I Nr. 13 und Teil II Art. 13 Nr. 1 ESC). Der Europäisierung und Internationalisierung der Sozialpolitik sind durch das GG insgesamt Grenzen gesetzt, da die wesentlichen Entscheidungen, namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen, unter seiner Geltung unaufgebbar primäre Aufgabe der Mitgliedstaaten zu bleiben haben.
Literatur
P. Axer: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und die Sicherung sozialer Grundrechtsvoraussetzungen, in: M. Anderheide (Hg.): Verfassungsvoraussetzungen. Gedächtnisschrift für Winfried Brugger, 2013, 335–353 • S. Rixen: Was folgt aus der Folgerichtigkeit? „Hartz IV“ auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, in: SGb 57/4 (2010), 240–245 • C. Seiler: Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, in: JZ 65/10 (2010), 500–505 • A. von Arnauld: Das Existenzminimum, in: ders./A. Musil (Hg.): Strukturfragen des Sozialverfassungsrechts, 2009, 251–307 • M. Wallerath: Zur Dogmatik eines Rechts auf Sicherung des Existenzminimums, in: JZ 63/4 (2008), 157–168 • W. G. Leisner: Existenzsicherung im Öffentlichen Recht, 2007 • M. Stolleis: Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2000 • M. Lehner: Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, 1993 • H. Zacher: Die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den ersten zehn Jahren, 1980 • K. Umpfenbach: Lehrbuch der Finanzwissenschaft. Erster Theil, 1859.
Empfohlene Zitierweise
S. Müller-Franken: Existenzminimum, II. Rechtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Existenzminimum (abgerufen: 22.11.2024)