Keynesianismus: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 14. November 2022, 05:57 Uhr

1. Die Theorie von Keynes

Der K. ist eine Richtung der Volkswirtschaftslehre, die Wirtschaftstheorie und -politik umfasst (Wirtschaftswissenschaften). Ihre Bezeichnung geht auf ihren Begründer, den britischen Ökonomen John Maynard Keynes zurück. J. M. Keynes stellte mit seiner 1936 in London und im selben Jahr in Deutsch veröffentlichten „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (2009) ein neues ökonomisches Paradigma auf. Das bis dahin allein herrschende neoklassische Paradigma untersuchte in seinem Kern, wie der vorhandene Bestand an Produktionsfaktoren am ertragreichsten im Produktionsprozess eingesetzt werden kann, und sah den Schlüssel zur Antwort in einem ungehinderten Wirken des Preismechanismus. J. M. Keynes dagegen fragte, welche Faktoren darüber entscheiden, ob ein Teil der Produktionsfaktoren nicht im Produktionsprozess eingesetzt wird, sondern ungewollt unbeschäftigt bleibt.

Der Schlüssel zur Klärung dieser Frage ist für J. M. Keynes die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Für deren Analyse fasst er die handelnden Akteure in vier Gruppen zusammen: Die Konsumenten (Konsum), die privaten Investoren, die staatlichen Organe und die Zentralbank (Geldpolitik). Seine Theorie ist gesamtwirtschaftlich (makroökonomisch) – im Gegensatz zur neoklassischen Theorie, die von den einzelnen Individuen ausgeht. J. M. Keynes hielt den Wechsel zu einer neuen Theorie für notwendig, weil in der Weltwirtschaftskrise (1929–33) die neoklassische Theorie nicht sagen konnte, wie dieser Depression entgegengesteuert werden könnte. Die auch von manchen Neoklassikern empfohlenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren mit ihrer Theorie nicht vereinbar.

Die fünf Kernpunkte der Analyse von J. M. Keynes sind:

a) Die Güternachfrage bestimmt das Niveau von Produktion und Beschäftigung – außer bei Vollbeschäftigung. Die Zahl der Beschäftigten wird von der Gesamtmenge an Gütern bestimmt, die die Unternehmen erwarten verkaufen zu können. Entspr. dieser erwarteten „effektiven“ Nachfrage, die die inländische und ausländische Nachfrage umfasst, produzieren sie und beschäftigen Arbeitskräfte. Davon zu unterscheiden ist die gewünschte Nachfrage bei gewünschten Einkommen der Haushalte, mit der die neoklassische Theorie operiert. Nur wenn alle Ressourcen einer Volkswirtschaft voll beschäftigt sind, begrenzt die Ressourcenausstattung Produktion und Beschäftigung.

b) Die Investitionen bestimmen Volkseinkommen und Ersparnis, nicht umgekehrt. Die Nachfrage der privaten Haushalte nach Konsumgütern ist zwar die umfangreichste Nachfragekategorie, sie folgt jedoch im Wesentlichen der wirtschaftlichen Entwicklung: sie wird v. a. vom aktuellen verfügbaren Einkommen bestimmt. Die entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Dynamik spielen dagegen die Sachinvestitionen. Diese hängen von der Differenz zwischen erwarteter Rendite und Marktzins ab. Ihre Abhängigkeit von den stark schwankenden Renditeerwartungen macht sie zur Quelle der Instabilität. Da sie sich auf veränderliche und unzuverlässige Evidenz stützen, sind sie plötzlichen und heftigen Änderungen unterworfen. Diese Unsicherheit der Erwartungen ist für J. M. Keynes zentral.

Die Schwankungen der Investitionsgüternachfrage breiten sich über die gesamte Volkswirtschaft aus; denn wenn die Produzenten von Investitionsgütern z. B. ihre Produktion reduzieren, dann verlieren dort Arbeitskräfte ihren Arbeitsplatz oder ihr Einkommen verringert sich durch kürzere Arbeitszeit. Sie können dann weniger Konsumgüter kaufen; folglich gehen die Nachfrage danach und anschließend die Produktion dieser Güter ebenfalls zurück. Dies löst eine Spirale nach unten aus, in deren Verlauf die Einbußen an Einkommen und Produktion größer werden als der urspr.e Nachfrageeinbruch. Diesen multiplikativen Prozess nach unten (bzw. nach oben) hat Richard Kahn (1931) erstmals präzise analysiert. In seinem Verlauf ändern sich Einkommen und Spartätigkeit der privaten Haushalte. Die Ersparnisse passen sich an die Investitionen so lange an, bis die Lücke zwischen Investitionen und Ersparnissen, die den Prozess ausgelöst hat, wieder geschlossen ist. Die Ersparnisse sind also eine Folge der Investitionen, nicht ihre Voraussetzung; die Investitionen können auch durch Kredite finanziert werden. Ist die Lücke beseitigt, kann die Produktion insgesamt abgesetzt werden und die Produktions- und Beschäftigungspläne der Unternehmen müssen nicht weiter nach unten (bzw. nach oben) revidiert werden.

c) Nicht der Zinssatz (Zins), sondern der Multiplikatorprozess bringt geplante Investitionen und Ersparnisse zum Ausgleich. Er bewirkt über die Änderungen des Volkseinkommens, dass an seinem Ende die Ersparnisse mit den Sachinvestitionen übereinstimmen. Damit lehnt J. M. Keynes das von der Neoklassik behauptete Saysche Gesetz ab, wonach der Zinssatz diesen Ausgleich herbeiführt. Vielmehr bringe der Zinssatz das Angebot und die Nachfrage nach Geld auf dem Geldmarkt zum Ausgleich. Überdies seien häufig die Schwankungen der Renditeerwartungen viel zu stark, als dass sie durch Variation des Zinssatzes kompensiert werden könnten.

d) Flexible Preise und Löhne helfen nicht gegen Unterbeschäftigung: Der private Sektor kann chronisch zu niedrige oder zu stark schwankende Investitionen und Beschäftigungsniveaus nicht endogen durch flexible Löhne und Preise ausgleichen, weil – im Gegensatz zur (neo-)klassischen Lehre – eine Senkung des allg.en Lohnniveaus Beschäftigungseffekte mit unsicheren und unbekannten Vorzeichen hat.

Der Unterschied zur damals herrschenden Lehre liegt nicht in der Vermutung, eine allg.e Senkung der Nominallöhne sei wegen des Widerstands der Gewerkschaften und der Arbeiter nicht durchsetzbar; diese Rigidität der Löhne nach unten war und ist die Grundlage für die neoklassische Erklärung der Arbeitslosigkeit. Der Unterschied liegt vielmehr darin, dass J. M. Keynes eine allg.e Lohnsenkung, selbst wenn sie möglich wäre, für ein ungeeignetes Mittel der Beschäftigungspolitik hält: „Die wirtschaftliche Ordnung kann auf diesen Wegen nicht zur Selbststeuerung gebracht werden“ (Keynes 2009: 225).

Dieses Ergebnis erzielt J. M. Keynes im 19. Kapitel der „Allgemeinen Theorie“, wo er die Wirkungen flexibler Preise und Löhne analysiert. Er nimmt dafür an, das Nominallohnniveau werde gesenkt und daraufhin sinke das Preisniveau, wenn auch in geringerem Umfang (u. a. deswegen, weil bei J. M. Keynes in mikroökonomischer Tradition die Unternehmen mit steigenden Grenzkosten produzieren), sodass die Reallöhne ebenfalls sinken, wenn auch weniger als die Nominallöhne.

Diese Veränderungen beeinflussen die Güternachfrage und die Beschäftigung teils positiv, teils negativ auf vielfältige Weise. Angesichts dieser gegenläufigen Effekte ist es nicht möglich, das Vorzeichen der Beschäftigungswirkung flexibler Preise und Löhne vorherzusagen. Dieses Ergebnis war für J. M. Keynes zentral, wie auch R. Kahn, Mitstreiter von J. M. Keynes, betont.

Ein historisches Beispiel für eine solche Entwicklung liefern in Deutschland die Brüningschen Notverordnungen von 1931, wonach alle Tariflöhne und alle Kartellpreise um 10 % gesenkt werden mussten. Da nur ein Teil der Preise von dieser Verordnung betroffen war, sank das Preisniveau weniger als das Lohnniveau und die Reallöhne gingen zurück. Ein positiver Beschäftigungseffekt trat nicht ein.

e) Da ein endogener Stabilisierungsmechanismus fehlt, der die starken Schwankungen der Investitionstätigkeit ausgleichen könnte, folgert J. M. Keynes: „Die Aufgabe, den laufenden Umfang der Investitionen zu regeln, kann nicht ohne Gefahr in privaten Händen gelassen werden“ (Keynes 2009: 320). Diese Aufgabe obliegt vielmehr den öffentlichen Trägern der Wirtschaftspolitik. Der eine Träger ist die Zentralbank, die mit ihren Instrumenten (Geldmenge und Zins) v. a. auf die Investitionen einwirkt. Die Geldpolitik werde jedoch nicht immer in der Lage sein, diese Aufgabe erfolgreich zu übernehmen: In der Depression sei der Versuch, durch bloße Vermehrung der Geldmenge Produktion und Einkommen zu steigern, mit dem Versuch vergleichbar, dadurch dicker zu werden, dass man sich einen längeren Gürtel kauft. Entscheidend sei es vielmehr, dass von dieser Geldmenge auch Gebrauch gemacht und mehr Geld für Güter ausgegeben wird.

Wegen dieser Grenzen der Geldpolitik müssen auch die Staatsausgaben und -einnahmen eingesetzt werden, um Einkommen und Beschäftigung zu steuern. Diese wirtschaftspolitische Forderung erhebt J. M. Keynes freilich nicht als erster. Ganz im Gegenteil befürworteten damals viele Ökonomen öffentliche Ausgabenprogramme zur Senkung der Arbeitslosigkeit. Das Problem war jedoch, dass diese Forderung sich vor J. M. Keynes nicht aus der ökonomischen Theorie ableiten ließ, sondern ihr eher widersprach. Mark Blaug formuliert daher die Quintessenz des Beitrags der Keynesschen Theorie zur Wirtschaftspolitik so: „The Keynesian Revolution succeeded because Keynes produced the policy conclusions most economists wanted to advocate anyway, but it produced these conclusions as logical inferences from a tightly knit if not always consistent theory, and not as endless epicycles on a full employment model of the economy“ (Blaug 1978: 690 f.). Kreditfinanzierten Staatsausgaben wird entgegengehalten, es wurde nicht berücksichtigt, dass kreditfinanzierte Staatsausgaben Bürger und Unternehmer verunsichere, weil sie höhere Schulden des Staates (Staatsverschuldung) für bedenklich halten, und das belaste Konsum- und Investitionsausgaben. Dieser Effekt ist schwer zu quantifizieren und es ist ihm entgegenzuhalten, dass Untätigkeit des Staates in einer Krise die Privaten ebenfalls verunsichern dürfte.

Durch die Steuerung des Investitionsvolumens mittels Geld- und Fiskalpolitik soll das kapitalistische System (Kapitalismus) mit seiner privaten Verfügungsmacht über die Produktionsmittel erhalten werden, indem es für den Kampf zur Überwindung der Arbeitslosigkeit leistungsfähiger gemacht wird. Daher fordert J. M. Keynes die Erweiterung der Staatsaufgaben „sowohl als das einzige durchführbare Mittel, die Zerstörung der bestehenden wirtschaftlichen Formen in ihrer Gesamtheit zu vermeiden, als auch als die Bedingung für die erfolgreiche Ausübung der Initiative des Einzelnen“ (Keynes 2009: 321). Die Steuerung soll sich auf die Globalgrößen privater Konsum, private Investitionen und eventuell Exporte sowie Importe beziehen und sie soll mit indirekten Mitteln erfolgen, die den privaten Entscheidungsträgern Anreize geben oder Belastungen auferlegen (Subventionen, Prämien, Steuern), sie aber nicht „direkt“ zu einer bestimmten Verhaltensweise verpflichten.

J. M. Keynes möchte das kapitalistische System mit seinen individuellen Entscheidungsrechten wegen seiner Effizienzvorteile erhalten, die aus der Dezentralisierung der Entscheidungen und dem „Spiel des Eigeninteresses“ resultieren. V. a. aber sei das individualistische System der beste Garant der persönlichen Freiheit, indem es – verglichen mit jedem anderen System – einen größeren Freiraum für die Ausübung persönlicher Entscheidungen bietet.

Vor dem Hintergrund der dauerhaften hohen Arbeitslosigkeit in England zwischen den beiden Weltkriegen hält J. M. Keynes dabei eine bloße Dämpfung der Fluktuationen, die die durchschnittliche Höhe der Gesamtnachfrage unverändert lässt, nicht für ausreichend. Vielmehr fordert er eine gleichmäßigere Einkommensverteilung, also eine Einkommensumverteilung zugunsten der Bezieher niedriger Einkommen mit hoher Konsumquote, und eine Reduzierung des Zinsniveaus und warnt: „If capitalist society rejects a more equal distribution of incomes and the forces of banking and finance succeed in maintaining the rate of interest somewhere near the figure which ruled on the average during the nineteenth century […], then a chronic tendency towards the underemployment of resources must in the end sap and destroy that form of society“ (Keynes 1937: 132).

2. Varianten des Keynesianismus

Die Reaktionen auf J. M. Keynes’ Theorie waren sehr unterschiedlich; sie reichten von begeisterter Zustimmung über Versuche, ihre Widerlegung der neoklassischen Theorie teilweise auszuhebeln, bis zu totaler Ablehnung. Diese Reaktionen waren auch von Werturteilen und Ideologien geprägt: Ersparnis muss eine Tugend bleiben; der Staat darf nicht in die Wirtschaft eingreifen; gleichmäßigere Einkommensverteilung dämpft das Wirtschaftswachstum.

Schon John Hicks nannte die Theorie von J. M. Keynes, nachdem er ihren Kern korrekt dargestellt hatte, willkürlich eine Theorie der Depression. Andere behaupten, sie gelte nur für die kurze Frist, für die lange dagegen die Neoklassik. J. M. Keynes dagegen hatte dies nur für die Vollbeschäftigung akzeptiert, solange diese durch aktive Geld-und Fiskalpolitik gesichert werde. Eine weitreichende Uminterpretation bedeutete die Verbindung des Güter- und Geldmarkts (Geld- und Kapitalmarkt) mit einem neoklassischen Arbeitsmarkt, der – dank einiger Kunstgriffe – in neoklassischer Tradition das Beschäftigungniveau bestimmt. Dieses Konstrukt ging in viele Lehrbücher als K. ein. Bernhard Felderer und Stefan Homburg z. B. erwähnen J. M. Keynes’ eigentliche Theorie nur nebenbei.

Ein Zerrbild der „Allgemeinen Theorie“ zeichnet Milton Friedman, der Begründer des Monetarismus, indem er behauptet, J. M. Keynes habe übersehen, dass eine Steigerung der Nachfrage dann, wenn es keine Arbeitslosen aufgrund von Nachfragemangel gibt, nicht zu mehr Beschäftigung, sondern zu Inflation führe.

Einen weit verbreiteten neueren Ansatz, wenigstens die wirtschaftspolitische Botschaft von J. M. Keynes zu bewahren, liefern die „New Keynesian Economics“ (Mankiw/Romer 1991). Für sie würden zwar flexible Preise und Löhne zur Vollbeschäftigung führen, aber sie liefern Gründe dafür, dass diese nicht flexibel sind, und kommen so zu wirtschaftspolitischen Empfehlungen, die der „Allgemeinen Theorie“ entsprechen. In der Makroökonomie dominiert jedoch derzeit (insb. in den USA) ein Konsensmodell, das neoklassisch fundiert ist, dennoch z. B. von Peter Spahn als neukeynesianisch bezeichnet wird.

3. Rückbesinnung und Weiterentwicklung

Für die Bewahrung des Kerns der „Allgemeinen Theorie“, für eine stärkere Berücksichtigung von Einkommensverteilung und Preisbildung (in der Tradition von Michał Kalecki) sowie für ihre Erweiterung zu einer Konjunktur- und Wachstumstheorie setzen sich immer mehr Ökonomen ein. Viele von ihnen bezeichnen sich als Post-Keynesianer. Ihre Zahl und ihr Einfluss haben nach der Finanzmarktkrise von 2008 deutlich zugenommen. Auch die Keynes-Gesellschaft engagiert sich in diese Richtung. Die Ergebnisse dieser Theorien stellt sie auf ihrer Website dar. Außerdem sei auf das Lehrbuch von Michael Heine und Hansjörg Herr, insb. Kap. 5 und 6, verwiesen. Keynesianer sind überzeugt, dass es für die Analyse konkreter wirtschaftspolitischer Fragen nicht ausreicht, nur Produktions- und Wachstumspotentiale zu betrachten, sondern dass in deren Ausschöpfung häufig der Kern des Problems liegt. Außerdem ist für sie die lange Frist nur eine Abfolge von kurzen Fristen, sodass es verfehlt ist, für die lange Frist Ergebnisse zu behaupten, die ohne nähere Erklärung von anderen „Gesetzen“ bestimmt werden als die kurze Frist.