Stand
„S.“ wurde in seinem Artikel der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ mit „Klasse“ zusammengefasst. Darin kam nicht zuletzt zum Ausdruck, dass die Wiederkehr der funktionalen Nutzung von status im 10. Jh. in die Konzeptualisierung von Kriegern, Betenden und Arbeitenden durchaus auch ein Ausdruck der vollendeten Ausdifferenzierung herrschender spezialisierter Krieger und unterworfener (ländlicher, bäuerlicher) Bevölkerung war. Beide Komponenten, die funktionale Zuordnung und damit Begründung von Pflichten – und ihnen korrespondierenden, schließlich auch klagbaren, Rechten – in der christlichen Gesellschaft hienieden und die Beschreibung empirischer Unterschiede verschiedener Gruppen nach Tätigkeit, Wohlstand und Macht blieben zwischen dem Hochmittelalter und dem 19. Jh. miteinander verwoben. Dem entsprach, dass sich einerseits die – im Vergleich zur griechischen und römischen Antike – Wertschätzung körperlicher Arbeit und die Ablehnung ihrer perhorreszierenden Bewertung in der Antike durch das NT in der christlichen Kirche des Westens im Wesentlichen durchsetzte, zugl. aber die konträren antiken Bewertungen zum Zusammenhang von Herrschen, Ressourcen, Unterwerfung und (körperlicher) Arbeit „in die christliche Ständereflexion“ gleichwohl einflossen (Oexle 1990: 181 f.). Bedeutungsgehalte und Wortverwendungen von „S.“ blieben in der Folge doppelt gebrochen, zwischen systematischer philosophischer Durchdringung funktionaler gesellschaftlicher Zurechnungen und ihrer (in der von Gott geschaffenen Welt) ontologischen Begründung einerseits und empirischen Beschreibungen verschiedener beobachtbarer Gruppen andererseits, zwischen antiken Selbstverständlichkeiten der Legitimität von sozialer Ungleichheit und der politisch-rechtlichen Privilegierung der zur Muße durch Ressourcen Befähigten einerseits und christlichen Begründungs- und Relativierungsbedürfnissen irdischer materieller und rechtlicher Ungleichheit andererseits. Völlig im Widerspruch zur sozialen und rechtlichen Lage erklärt der klerikale Autor des Sachsenspiegels daher die Leibeigenschaft (Landrecht III 42) für Rechtsbruch, habe der Herr doch alle Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Die unterschiedlichen disziplinären Kontexte der Reflexion über Stände (S.e) und der Beschreibung von S.en müssen daher mitbedacht werden, um der Vielzahl der Konnotationen Herr zu bleiben. V. a. empirische Beschreibungen der Gesellschaft mit einem Fokus auf ihrer funktionalen Differenzierung – ein Beispiel unter vielen ist Johannes Ferrarius’ „Tractatus de re publica bene instituenda“ (Marburg 1533, 1556) und seine englische Übersetzung (London 1559) –, (christlich motivierte) erzieherische S.e-Didaxe zu den christlichen Pflichten jeder Person in ihrem bzw. seinem S., kritische Reflexion unchristlicher Unterschiede zwischen den allemal von Gott geschaffenen Menschen (darunter auch Satiren, Reformschriften wie die „Reformatio Sigismundi“), und rechtliche Reflexionen und Vorgaben zu den spezifischen klagbaren Rechtsansprüchen verschiedener Personengruppen entwickelten sich parallel zueinander und mit unterschiedlichen, z. T. widersprüchlichen Zielrichtungen. Im Wesentlichen blieb dabei bis zum Ausgang des Mittelalters das funktionale Drei-S.e-Schema bestimmend, obwohl es mit der empirischen Entwicklung der Städte und ihrem eigenen auch rechtlich privilegierten Stadtbürgertum nur mit Vorbehalt in Einklang zu bringen war.
Ob die protestantischen Reformationen mit ihrem Angriff auf den S. der Kleriker und ihren Versuchen einer Durchdringung des Alltagslebens und seiner Pflichten mit gelebter Frömmigkeit letztlich einer Säkularisierung des S.es-Begriffs vorgearbeitet haben, ist angesichts der vielfältigen Strömungen, die sich des Begriffs für unterschiedliche Ziele bedienten, keineswegs unumstritten. Neben der Aktualisierung der Drei-S.e-Lehre in einer eigenen Lehre durch Martin Luther bemächtigte sich die Gesetzgebung in zunehmendem Maße mit der Privilegierung und Instrumentalisierung von S.en für die Zwecke der Organisation von Herrschaft zu beschließen. Einig ist sich die Forschung, dass von den reflektierenden und beschreibenden Zuordnungen von Personen zu S.en die Kriterien zur Einladung von Personen zu Versammlungen durch den Herrscher (König, Kaiser oder Fürst) zu unterscheiden sind. In der Tat kam es im Reich bspw. erst gegen Ende des 15. Jh., in den Fürstentümern erst im Verlauf des 17. Jh. zu klaren rechtlichen Kriterien, wer zu solchen Tagen einzuladen sei, und zur Fixierung dieser Kriterien als Rechtsprivilegen der natürlichen Mitglieder einer bestimmten Gruppe, eben eines „S.es“.
Die Offenheit dieser Entwicklung und die Verwobenheit der Entstehung größerer bezahlter Dienerapparate im Dienste der Könige und Fürsten und der Zuordnung rechtlicher Privilegien zu bestimmten Personengruppen durch Könige und Fürsten muss dagegen unterstrichen werden. Die perhorreszierenden Angriffe v. a. der späten Aufklärung auf die Ungleichheit der S.e im Ancien Régime zielten auf die Abschaffung eines vermeintlich falschen Alten, sie übersahen gezielt die tatsächliche Dynamik der S.e-Gesellschaft, sowohl im Hinblick auf die Möglichkeit sozialen Auf- oder Abstiegs in privilegierte S.e hinein (oder hinaus) als auch im Hinblick auf die dynamische Privilegierung von Persongruppen zu S.en durch Fürsten und Könige. Während es einerseits in der frühen Neuzeit zur massiven rechtlichen Fixierung ständischer Privilegien kam – und damit auch zur Entstehung oder Verfestigung von (neuen) sozialen und rechtlichen Differenzierungen, z. B. zum Ausschluss von Besitzern größerer ländlicher Güter von S.e-Versammlungen aufgrund ihrer mangelnden „S.es-Qualität“ – blieb die rechtliche Zuordnung solcher Privilegien in der Hand von Kronen und Fürsten doch zugl. ein Merkmal der gesellschaftlichen Formung im Interesse der Krone. Dänemark und Russland schufen im 17. Jh. entspr.e Rangtabellen und Privilegienordnungen neu, weil ohne spezifische privilegierte Gruppen die Beherrschung des Gemeinwesens eben nicht oder nur schwierig möglich war. Das napoleonische Kaiserreich schuf eine eigene Adelsordnung unter Integration des Alten Adels. So sehr Fürsten und Könige nachhaltig darauf hinwiesen, ständische Privilegien in ihren Landen könnten niemand von seiner Gehorsamspflicht entbinden oder seien letztlich nur unter Zustimmung des Königs oder Fürsten möglich, und insofern der moderne Begiff der Souveränität auch in der Rechtsprechung und Gesetzesgebung, und damit auch bei der Privilegienvergabe, potentiell in Spannung zu hergebrachten Privilegien eines bestimmten S.es treten konnte, so operierten praktisch alle Fürsten und Kronen im gesamten 18. und über weite Teile des 19. Jh. mit der Vergabe von Privilegien, deren Besitz S.e begründen sollte. Der Druck und die Herausgabe von Hofkalendern mit den Personengruppen der Privilegierten florierte durch das gesamte 18. und 19. Jh. hindurch. So weit der Begriff „S.“ und die Vorstellung einer funktional begründeten (auch Rechts-) Ungleichheit unter den Menschen in die Antike auch zurückreichte, muss von der Vorstellung eines frühmodernen absolutistischen Anstaltsstaates (Absolutismus), der den S.en letztlich seit der Mitte des 17. Jh. mit dem neuen Naturrecht als Schwert den Garaus gemacht hatte, Abstand genommen werden.
Das ändert nichts daran, dass die auch rechtlich zementierte Ungleichheit v. a. auch als Folge der (erfolgreichen) Revolution in den britischen Kolonien Nordamerikas und der zunehmenden Perhorreszierung des Ancien Régime in Frankreich zunehmend zum Skandalon der Aufklärung wurde. Rechtsprivilegien der Geburt sollten auf den Prüfstand der allg.en Vernunft kommen. Die Spannung zwischen dieser Fundamentalkritik, den Rechtsansprüchen der bereits Privilegierten und dem W unsch der monarchischen Regierungen, durch Privilegierung Anhänger zu rekrutieren, durchzog das gesamte 19. Jh.
Im Grunde wurde der „S.es“-Begriff in seinen vielfältigen Funktionen erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. im Zuge der zunehmenden Ersetzung durch den Klassenbegriff in seiner Bedeutung eingeschränkt, und auch dann noch spielte der Begriff des „S.es“ nicht zuletzt im deutschen Sprachraum angesichts der weitgehenden Ablehnung einer „Normalität einer Klassengesellschaft“ (Nolte 2000: 82) im späteren 19. und 20. Jh. im deutschsprachigen Mitteleuropa noch lange eine wichtige Rolle. Konzentriert man sich aus der langen rund 1 000 Jahre währenden Geschichte der Wechselwirkung gesellschaftlichen Seins und seiner Reflexion zu „S.“ zwischen dem 10. Jh. und unserer Gegenwart nur auf das späte 18. und die ersten zwei Drittel des 19. Jh., mag die These vom generellen Übergang vom „S.“ zur „Klasse“ nicht zuletzt unter dem erheblichen Eindruck der Fabrikindustrialisierung (Industrialisierung, Industrielle Revolution) verständlich sein. Sie verkürzt jedoch die Vielfalt der Bedeutungen und Funktionen von „S.“ und überschätzt die Langlebigkeit von Phänomen wie des Industrieproletariats (Proletariat) der 1850er bis 1950er Jahre. Die Legitimation von materieller wie rechtlicher Ungleichheit durch Funktionen für die Gesellschaft ist so aktuell – und kontrovers – wie eh und je.
Literatur
R. von Friedeburg/J. Morrill (Hg): Monarchy Transformed. Princes and Their Elites in Early Modern Western Europe, 2017 • P. Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, 2000 • L. Schorn-Schütte: Die Drei-Stände-Lehre im reformatorischen Aufbruch, in: B. Moeller (Hg.): Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, 1997, 435–461 • W. Conze/O. G. Oexle/R. Walther: Stand, Klasse, in: GGB, Bd. 6, 1990, 155–284.
Empfohlene Zitierweise
R. Friedeburg: Stand, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Stand (abgerufen: 22.11.2024)