Minderheiten
I. Minderheitenrechte
Abschnitt druckenDer Begriff der M.-Rechte findet sich in unterschiedlichen rechtlichen Zusammenhängen. Insb. im verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Kontext spricht man von M.-Rechten, wenn das (Verfassungs- oder Völker-)Recht bestimmten Gruppen, die sich im Verhältnis zu anderen in der M. befinden, bes. Rechte zuerkennt. Der Begriff der M.-Rechte wird allerdings auch im Gesellschaftsrecht verwendet, was im Folgenden außer Betracht bleibt.
In der demokratischen Ordnung eines Staates werden Entscheidungen grundsätzlich durch die Mehrheit (Mehrheitsprinzip) getroffen und sind durch sie legitimiert. Allerdings bedeutet Demokratie keine unbeschränkte Herrschaft der Mehrheit; vielmehr bilden M.-Rechte in verschiedenen Zusammenhängen ein Korrektiv ihr gegenüber. In inhaltlicher Hinsicht stellen die Grundrechte ein solches minderheitenschützendes Korrektiv gegenüber einer unbeschränkten Durchsetzung von Mehrheitsinteressen dar. Indem Grundrechte individuelle Personen schützen, unabhängig davon, ob sich ihre Meinungen, Lebensweisen oder Religionen mit denen der Mehrheit in einer Gesellschaft decken, gewährleisten sie Rechtspositionen des Einzelnen gegenüber staatlichen Entscheidungen. Bes. Bedeutung entfalten Grundrechte für jene Personen, die sich mit ihren Positionen in einer M. befinden (etwa Angehörige religiöser M. oder Personen, die der politischen Opposition angehören). Der Gleichheitssatz und Diskriminierungsverbote (Diskriminierung) wirken neben den Freiheitsrechten ebenfalls minderheitenschützend. In einem Grundrechtsstaat fungieren die Grundrechte auf diese Weise als Begrenzung der staatlichen Macht, die durch demokratische Mehrheitsentscheidungen ausgeübt wird. Das wird bes. augenfällig, wenn eine (verfassungs-)gerichtliche Normenkontrolle vorgesehen ist, die auch die mit parlamentarischer Mehrheitsentscheidung verabschiedeten Gesetze einer Kontrolle am Maßstab der Grundrechte unterwirft.
Zur Beschränkung der Macht der Mehrheit im Parlament, die in einem parlamentarischen Regierungssystem regelmäßig die Regierung stützt, sehen Verfassungen Rechte der parlamentarischen M. (Opposition) vor. I. S. d. Prinzips der Gewaltenteilung wird so die Kontrolle des Parlaments gegenüber der Regierung als Kontrolle der Parlaments-M. (bestehend aus einer oder mehrerer Oppositionsparteien) gegenüber der von der Parlamentsmehrheit (bestehend aus einer oder mehrerer Regierungsparteien) getragenen Regierung effektiviert. Zu diesem Zweck sind verfassungsrechtlich insb. parlamentarische Kontrollrechte vorgesehen, deren Einsatz keinen Mehrheitsbeschluss im Parlament voraussetzt. Dazu zählen im GG etwa das Recht, Untersuchungsausschüsse einzurichten und durchzuführen (Art. 44 GG), das Recht der Abgeordneten, Fragen an die Regierung zu stellen (hergeleitet aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), und das Zitationsrecht (Art. 43 GG) sowie die Antragsmöglichkeit an das BVerfG zur Kontrolle der Verfassungskonformität von Gesetzen (Art. 93 Abs. 1 Z. 2 GG). Letztlich dienen auch erhöhte Quoren, die für die Verabschiedung bestimmter Gesetze erforderlich sind (etwa von Verfassungsgesetzen, vgl. Art. 79 Abs. 2 GG), u. a. dem Schutz der parlamentarischen M.
Unter M.-Rechten versteht man außerdem bes. Rechte für bestimmte Bevölkerungsgruppen in einem bestimmten Staat. Diese Gruppen werden als nationale M. (Volksgruppen) bezeichnet; sie unterscheiden sich von der Mehrheitsbevölkerung des Staates typischerweise ethnisch und/oder kulturell (im Hinblick auf die Sprache, die Religion, die Sitten und Gebräuche). Solche M.-Rechte sind im innerstaatlichen Recht verfassungsrechtlich oder einfachgesetzlich verankert und werden in bestimmtem Maße auch völkerrechtlich abgesichert. Zwar gibt es auf internationaler Ebene Ansätze, eine Definition von „nationaler M.“ zu entwickeln, eine allgemein anerkannte Definition wurde bislang aber nicht gefunden. Im Rahmen des Europarates hat die „Parlamentarische Versammlung“ bei der Entwicklung eines ZP zur EMRK zum Schutz von nationalen M., das letztlich nicht zustande kam, als relevante Merkmale einer nationalen M. angenommen, dass es sich um eine Gruppe von Personen handelt, die auf einem Staatsgebiet ansässig ist und eine langjährige und dauerhafte Beziehung zu diesem Staat hat; die bes. ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Merkmale aufweist und den Willen besitzt, diese für ihre Identität prägenden charakteristischen Merkmale zu erhalten. Die Personengruppe muss ausreichend repräsentativ sein, obwohl ihre Zahl geringer ist als die der übrigen Bevölkerung dieses Staates oder einer Region dieses Staates. Ob es ein kennzeichnendes Merkmal ist, dass die betreffenden Personen die Staatsangehörigkeit des Staates besitzen, auf dessen Gebiet sie ansässig sind, ist umstritten. Die bisher entwickelten rechtlichen Instrumente des Schutzes von M.-Gruppen auf internationaler Ebene erfassen nur autochthone M. Bevölkerungsgruppen, die in jüngerer Zeit etwa als sogenannte Gastarbeiter oder als Flüchtlinge zugewandert sind, werden unabhängig davon, wie lange sie bereits in einem Staat leben, ob sie bestimmte Regionen in einem Staat bewohnen oder ob sie die Staatsangehörigkeit erworben haben, nicht von den genannten Regelungsregimen erfasst. Ansätze zur Ausweitung der Gruppe der geschützten Personen werden diskutiert.
Das „Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten“ sowie der „Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ (Sprachencharta), beide entwickelt im Rahmen des Europarates, bilden die wichtigsten rechtsverbindlichen Instrumente zum Schutz nationaler M. in Europa, die sich gegenseitig ergänzen. Das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler M. (zur Ratifikation aufgelegt 1995, in Kraft getreten 1998) enthält keine Definition von nationaler M., sondern überlässt die Festlegung der begünstigten Gruppen den Vertragsparteien. Die Zugehörigkeit zu einer M. ist nach dem Rahmenübereinkommen die persönliche Entscheidung eines jeden Einzelnen, die vom Staat nicht registriert, überprüft oder bestritten wird. Das Abkommen hat zum Ziel, den Bestand nationaler M. auf dem jeweiligen Staatsgebiet der Vertragsstaaten zu schützen. Dabei geht es zum einen um die Gleichstellung der nationalen M. gegenüber der Mehrheitsbevölkerung (Diskriminierungsverbot), zum anderen um die Schaffung von Bedingungen, die es ihnen ermöglichen, ihre Kultur zu erhalten und weiterzuentwickeln und ihre Identität zu wahren (Verbot der Assimilierungspflicht). Ferner verpflichtet es die Vertragsstaaten zum Schutz der Freiheitsrechte und zu umfänglichen Fördermaßnahmen zu Gunsten der nationalen M. Mit der Sprachencharta (zur Ratifikation aufgelegt 1992, in Kraft getreten 1998) sollen traditionell in einem Vertragsstaat gesprochene M.- und Regionalsprachen als bedrohter Aspekt des europäischen Kulturerbes geschützt und gefördert werden. Die geforderten Maßnahmen beziehen sich auf das Bildungswesen, insb. den Unterricht der Sprache und in der Sprache, die Verwendung der Regional- oder M.-Sprachen in Gerichtsverfahren und vor Verwaltungsbehörden, das Nutzen der Sprache in Rundfunk und Presse, bei kulturellen Tätigkeiten und Einrichtungen sowie im wirtschaftlichen und sozialen Leben. Beide Verträge sind in Deutschland im Jahr 1999 in Kraft getreten; sie gelten als Bundesgesetze (Gesetz vom 22.7.1997 zu dem Rahmenübereinkommen des Europarats vom 1.2.1995 zum Schutz nationaler Minderheiten, BGBl II: 1406; Gesetz zu der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europarats vom 5.11.1992 vom 9.7.1998, BGBl II: 1314).
In Deutschland leben vier anerkannte autochthone nationale M./Volksgruppen: die Dänen in Südschleswig, die Friesen, die deutschen Sinti und Roma und die Lausitzer Sorben. Auf Grundlage der Sprachencharta werden in Deutschland die Sprachen der vier nationalen M. (Dänisch, Nord- und Saterfriesisch, Ober- und Niedersorbisch sowie Romanes) geschützt. Auch die Regionalsprache Niederdeutsch (Plattdeutsch) ist durch die Charta geschützt, auch wenn die Sprecher des Plattdeutschen keiner nationalen M. angehören. Im Einzelnen werden die entsprechenden Rechte der nationalen M. im Landesrecht der Länder geregelt, in dessen Gebiet sich die traditionellen Siedlungsgebiete der M. befinden (Dänen und Friesen: Schleswig-Holstein; Sorben: Brandenburg und Sachsen). Da die Sinti und Roma kein spezifisches Siedlungsgebiet in Deutschland aufweisen, haben die jeweiligen Landesverbände mit verschiedenen Landesregierungen Staatsverträge oder Rahmenvereinbarungen abgeschlossen. Des Weiteren wird die politische Partizipation der nationalen M. durch Bestimmungen im Wahlrecht abgesichert. Nach § 6 Abs. 3 S. 2 BWahlG findet die Fünf-Prozent-Hürde für die Berücksichtigung bei der Verteilung der Mandate im Bundestag auf die von nationalen M. eingereichten Listen keine Anwendung. Diese Ausnahmeregelung ist insb. für den „Südschleswigschen Wählerverband“ als Partei der dänischen M. relevant; für diese M. besteht eine entsprechende Regelung im Wahlrecht zum Landtag von Schleswig-Holstein. Andere Modelle der Sicherung der politischen Partizipation von nationalen M. im Wahlrecht sind etwa die Reservierung bestimmter Plätze auf den Kandidatenlisten oder einer bestimmten Anzahl von Abgeordneten für nationale M.
Literatur
S. Oeter: Conventions on the protection of national minorities, in: S. Schmahl/M. Breuer (Hg.): The Council of Europe, 2017, 542–571 • S. Wolf: Zur sozialen und politischen Lage der anerkannten nationalen Minderheiten in Deutschland, in: APuZ 67/11–12 (2017), 16–22 • R. Hofmann u. a. (Hg.): Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Handkommentar, 2015 • P. M. Huber: Regierung und Opposition, in: HStR, Bd. 3, 32005, § 47.
Empfohlene Zitierweise
K. Pabel: Minderheiten, I. Minderheitenrechte, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Minderheiten (abgerufen: 21.11.2024)
II. Soziologische Aspekte
Abschnitt drucken1. Allgemeines
Aus soziologischer Sicht ist M. ein relationaler Klassifikationsbegriff, der sich auf numerische und hierarchische Verteilungsverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen bezieht: „Zustand des Minderseins (in Zahl, Stärke oder Würde)“ (Grimm/Grimm 1984: 2228). Zur Bestimmung einer Gruppe als M. bedarf es daher immer der Definition einer Mehrheit als Referenzgruppe, d. h. M. und Mehrheiten bestimmen sich im Hinblick auf numerische und wesensmäßige Charakteristika wechselseitig. Grundsätzlich muss zwischen Macht- und Teilhabeverhältnissen einerseits und numerischen Relationen andererseits unterschieden werden. Numerische M. bilden den zahlenmäßig kleineren Teil einer Gesamtmenge, ohne dass sich aus dem Zustand des Minderseins soziale Benachteiligungen oder Privilegien ableiten ließen. Bezogen auf Machtverhältnisse bezeichnen M. in der Regel kräftemäßig und zahlenmäßig unterlegene Gruppen (z. B. Abstimmungs-M. in Relation zu -mehrheiten im Kontext demokratischer Willensbildung) im Gegensatz zu kräftemäßig unterlegenen quantitativen Mehrheiten (z. B. Beherrschte oder Untertanen in autokratischen Systemen). Im Kontext der Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen und Anerkennung bezeichnet M. vornehmlich disprivilegierte, diskriminierte bzw. exkludierte Kollektive, die mit Verweis auf Kategorien, welche sozialstrukturell als relevant angesehenen werden (z. B. Geschlecht, Rasse, soziale Herkunft, Staatsbürgerschaft) gegenüber privilegierten, hegemonialen oder dominanten Mehrheiten benachteiligt werden. Geschlechterverhältnisse sind numerisch egalitär, doch sind Frauen im Hinblick auf die Verteilung von Macht, sozialen Positionen und gesellschaftlichen Ressourcen gegenüber Männern numerisch unterrepäsentiert. Der M.-Begriff findet dennoch selten Anwendung, um geschlechtsspezifische soziale Ungleichheits- bzw. Macht- und Dominanzverhältnisse zu klassifizieren. Umgekehrt werden auch Gruppen, die in numerischer Hinsicht unterlegen, bzgl. der Verteilung von Macht, Anerkennung und gesellschaftlichen Ressourcen jedoch als privilegiert gelten (Eliten) meist nicht als M. bezeichnet. Aus soziologischer Perspektive ist M. mithin eine Un-/Gleichheitskategorie, die gesellschaftliche Kräfteverhältnisse sowohl in numerischer, als auch in sozialstruktureller Hinsicht bestimmt. Sie schafft gleichzeitig Ungleichheit zwischen M. und Mehrheitsangehörigen und Egalität im Binnenverhältnis der bezeichneten Einheiten.
2. Minderheiten und gesellschaftliche Differenzierung
M.-Mehrheitsverhältnisse sind Resultate von Operationen sozialer Differenzierung. Diese Operationen können auf unterschiedlichen Ebenen und nach spezifischen Logiken gleichzeitig verlaufen und sich in ihren potentiellen (Dis-)Privilegierungswirkungen auf Individuen und soziale Gruppen wechselseitig verstärken oder schwächen. Zu unterscheiden sind hier erstens Kategorien der Humandifferenzierung (Geschlecht, Nationalität, Ethnizität, Leistungsklasse), welche Individuen durch Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, Positionen und Verhaltensweisen als Exemplare einer oder mehrerer Kategorien typisieren; zweitens Typen gesellschaftlicher Differenzierung, etwa segmentäre Differenzierung in gleiche Teilsysteme (z. B. Clans, Dörfer) oder funktionale Differenzierung in spezialisierte Teilsysteme (z. B. Politik, Wirtschaft) und diesen zugeordneten Berufsgruppen und Spezialwissensgebieten; drittens stratifikatorische Differenzierung in mehr oder weniger durchlässige Positionen entlang einer gesellschaftlichen Sozialstruktur, die mit je unterschiedlichen Möglichkeiten der Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen bzw. des Erwerbs von Anerkennung verbunden und einander hierarchisch zugeordnet sind. Stratifikatorische Differenzierung kann nach meritokratischem Prinzip in Abhängigkeit von individueller Leistung (Leistungssport), nach Abstammungsprinzip aufgrund familialer Zugehörigkeit (Erbschaftsrecht) bzw. Staatsangehörigkeit (Bürgerschaftsrecht) legitimiert werden. Bes. das Zusammenwirken von Human- und stratifikatorischen Differenzierungsformen moduliert M. und Mehrheitsverhältnisse. Kennzeichnend für die moderne Gesellschaft, verstanden als primär funktional differenzierte, kulturell globalisierte und individualisierte Gesellschaft ist erstens, die Priorisierung gleichzeitiger In- und Exklusion in Teilsysteme mit je eigenen Differenzierungslogiken; zweitens, die Multiplizierung von Optionen der Selbst- und Fremdkategorisierung, die einerseits dynamische Konkurrenzen zwischen potentiell relevanten Zugehörigkeitsmarkern erzeugt (Karrierefrau und Mutter, Deutscher und Türke), andererseits die Sinnhaftigkeit binärer Kategorisierungsschemata (schwarz-weiß, männlich-weiblich, englisch-pakistanisch) infrage stellt und insgesamt zur Kulturalisierung von Kategorien der Humandifferenzierung tendiert. Damit wird die qualitative Bestimmung von (identitätspolitisch relevanten) Mehrheiten erschwert. Der moderne freiheitlich-demokratische Rechtsstaat sieht qua Verfassung keine stratifikatorische Differenzierung vor, sondern garantiert prinzipielle Rechtsgleichheit, koppelt diese jedoch an den Bürgerschaftsstatus. Damit wird eine grundlegende Differenz produziert zwischen Bürgern, für die staatsspezifische Bürgerrechte gelten und Nichtbürgern, die, abhängig vom Aufenthaltstitel (z. B. Duldung versus Blaue Karte EU), mehr oder weniger von den Bürgerrechten des Residenzstaates ausgeschlossen sind (z. B. Wahlrecht) und mehr oder weniger eingeschränkt an dessen Ressourcen (z. B. Arbeitserlaubnis) partizipieren können. Die Widersprüche und Paradoxien, die sich aus den Wechselwirkungen zwischen kategorialer Humandifferenzierung sowie funktionaler und stratifikatorischer Differenzierung der Weltgesellschaft ergeben, erzeugen eine Vielzahl komplexer M.-Mehrheitsverhältnisse, auch als „Superdiversität“ bezeichnet, die sich nicht auf identitätspolitische Anerkennungsforderungen reduzieren lassen.
3. Minderheiten und Nationalismus
In Europa sind M.-Diskurse, bes. M.-Schutz unmittelbar mit dem Aufkommen des Nationalismus verbunden und haben seit dem Ersten Weltkrieg im Kontext der Neuziehung von Völkergrenzen (Grenze) dramatisch an Dringlichkeit gewonnen. Waren zunächst Volksgruppen bzw. ethnische Gruppen i. S. v. Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaften als authochthone ethno-kulturelle M. definiert, d. h. als solche, die sich durch den Willen zum Erhalt ihrer ethnischen bzw. sprachlichen Merkmale und eines im Staatsgebiet bzw. angrenzenden Territorien befindlichen angestammten Gebiets („Heimat“) auszeichnen, wird in der Gegenwart der M.-Begriff vermehrt auch zur Klassifizierung von migrationsinduzierten (Migration) natio-ethno-kulturellen M., i. S. v. Personengruppen gebraucht, die sich qua fremder Herkunft von der als authochthon angenommenen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Bezogen auf die kulturelle Verfassung einer Gesellschaft sind M. mithin Gruppen, die bes., im Vergleich zur Majorität als abweichend klassifizierte, Eigenschaften oder Merkmale (z. B. Sprache, Ethnie, Kultur) aufweisen, die entweder bewahrt (i. S. d. Multikulturalismus) oder getilgt (i. S. d. Herstellung eines kulturell homogenen Nationalstaats) bzw. von den Angehörigen der M. aufgegeben (Assimilation) werden sollen. Letzteres wird jedoch aus verschiedenen Perspektiven nicht nur als unangemessene Zumutung, sondern v. a. als unerfüllbare Anforderung kritisiert. Begründet wird dies mit der Wirkmächtigkeit tradierter bes. rassistischer und sexistischer Wahrnehmungsmuster, die in Verbindung mit nationalstaatlichen Homogenitäts- und Herkunftsnarrativen phänotypisch kodierte Vorstellungen von Herkunft, Zugehörigkeit, Fremd und Eigen erzeugen, durch die M.-Angehörige anhand ihrer äußeren Erscheinung identifizierbar und folglich diskriminierbar seien. Kritik an der Begriffskategorie ethnische bzw. nationale M. bezieht sich deshalb u. a. auf den Vorwurf der Invisibilisierung sozialer Ungleichheitsrelationen durch die Hervorhebung kultureller Differenzen.
Literatur
S. Hirschauer: Humandifferenzierung. Modi und Grade sozialer Zugehörigkeit, in: ders./T. Boll (Hg.): Un/Doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, 2017, 29–53 • A. Wimmer: Ethnische Grenzziehungen in der Immigrationsgesellschaft. Jenseits des Herder’schen Commonsense, in: F. Kalter (Hg.): Migration und Integration, 2008, 57–80 • S. Vertovec: Super-diversity and Its Implications, in: ERS 29/6 (2007), 1024–1054 • W. B. Michaels: The Trouble with Diversity, 2006 • M. Tißberger u. a. (Hg.): Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus, 2006 • R. Shamir: Without Borders? Notes on Globalization as a Mobility Regime, in: ST 23/2 (2005), 197–217 • G. Kneer: Nationalstaat, Migration und Minderheiten. Ein Beitrag zur Soziogenese von ethnischen Minoritäten, in: A. Nassehi (Hg.): Nation, Ethnie, Minderheit. Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte, 1997, 85–102 • D. Nibert: Minority Group as Sociological Euphemism, in: Race, Gender & Class 3/3 (1996), 129–136 • S. Hall: Rassismus und kulturelle Identität, 1994 • J. Grimm/W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, 1984, 2228.
Empfohlene Zitierweise
H. Greschke: Minderheiten, II. Soziologische Aspekte, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Minderheiten (abgerufen: 21.11.2024)