Würde
I. Moralphilosophisch
Abschnitt drucken1. Unterschiedliche Fassungen des Begriffs der Würde
Der Begriff der W. (lateinisch: dignitas, englisch: dignity, französisch: dignité) ist vieldeutig; erst relativ spät wird dieser Begriff zu einem zentralen Konzept auch in der Philosophie. Er bedarf der genaueren Klärung, um etwaige Ambiguitäten im Blick auf seine Bedeutung und seinen Gebrauch sowie daraus resultierende Missverständnisse zu vermeiden. Als dignitas verstanden bezeichnet der Begriff der W. zunächst die Tüchtigkeit einer Person, ihre Ehre, ihr Ansehen, aber auch ihre soziale Stellung oder ihren Rang in einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft (Menschenwürde). Neben der äußeren W. („extrinsische“ W.), die einzelnen Menschen partikularistisch und konditioniert einen Vorrang vor anderen Menschen zuspricht, kann Menschen auch eine nicht-partikularistische und nicht-konditionierte W. zugesprochen werden: So z. B. bereits in der antiken Philosophie bei Cicero, der dem Menschen auch eine innere W. zuerkennt („intrinsische“ W.). Sie resultiert aus bleibenden Anlagen und Eigenschaften, die allen Menschen zukommen, sofern sie Menschen sind. W. wird hier somit an bes. Gattungseigenschaften der „Spezies“ Mensch gebunden, wie etwa seinen aufrechten Gang, die ihn von anderen Lebewesen unterscheiden, v. a. aber an seine Vernunftbegabung sowie seine Sprach- und damit Verständigungsfähigkeit. Auch wenn diese Verwendung des Begriffs der W. des Menschen auf einen universalistischen und egalitären Sinn hin angelegt ist, wurden in der Geschichte der Philosophie bis in die Neuzeit und Moderne nicht die sich daraus ergebenden Konsequenzen gezogen, da von der Philosophie nicht allen Menschen auch die gleiche Fähigkeit zum aktuellen Gebrauch ihrer Vernunft (Vernunft – Verstand) zugesprochen wurde. Da in der Geschichte der Verwendung des Begriffs diese Einschränkungen in der Anwendung des Begriffs W. immer wieder vorgenommen wurden, blieb der auf eine universalistisch-egalitäre Bedeutung hin angelegte Begriff der W. des Menschen als Menschen für lange Zeit zugl. auf einen partikularistischen (Partikularismus) Gebrauch beschränkt. Nur so ist die erst spät einsetzende Verwendung des Begriffs der W. i. S. seines universalistischen Gehalts (Universalismus) zu verstehen, der sich auf alle Menschen in gleicher Weise bezieht. Wir können aber auch sehen, dass die restriktive Verwendung des Begriffs der W. des Menschen in der Sache zugl. mit einem rein evaluativen Sinn des Begriffsgebrauchs von W. verknüpft ist, der bis heute nach wie vor im Umlauf ist. Aus ihm aber resultieren seine Vieldeutigkeit und Ambiguität.
2. Immanuel Kants normative Fassung des Konzepts von Würde
Dies ändert sich erst aufgrund der Einsicht von I. Kant, dass der Mensch als Träger oder Subjekt von W. grundsätzlich „über allen Preis erhaben ist“ (Kant 1968: 434). I. Kant gibt der Fassung des Begriffs W. in seinem Gehalt und in seinem Gebrauch eine neue Ausrichtung; denn I. Kant gibt dem Begriff eine neue, eine normative Bedeutung. So artikuliert der Begriff der W. nicht mehr primär einen Wert des Menschen, sondern er expliziert vorrangig eine Pflicht, die ein jeder Mensch sich selbst und zugl. jedem anderen Menschen als Menschen schuldet. Die Pointe der Rede von der W. des Menschen zielt bei I. Kant auf die unbedingte Aufforderung, einem jeden Menschen die eine gleiche Achtung zukommen zu lassen: „Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung“ (Kant 1968: 435), die für jeden Menschen gefordert ist. Diese Verpflichtung resultiert I. Kant zufolge auch nicht aus der Natur des Menschen oder aus bestimmten, wertgeschätzten und allen Menschen natürlich zukommenden Anlagen und Eigenschaften. Wie wir wissen, liegen gerade diese Eigenschaften bei jedem Menschen in unterschiedlichem Maß vor; sie sind somit graduell verschieden und nur temporär gegeben, in jedem Fall somit konditioniert. Eben dieser Umstand hatte in der Tradition vor I. Kant immer wieder zu einem partikularistischen Gebrauch des Konzepts von W. geführt. Es kommt hinzu, dass eine Sicht von W., in der die W. des Menschen aus Anlagen und Eigenschaften abgeleitet werden soll, sich nicht von einer heteronomen Verpflichtung unterscheiden lässt, bei der aus einer vorgegebenen Natur auf ein Sollen geschlossen wird. I. Kant geht hier einen anderen Weg: Mit dem Begriff der W. artikuliert sich für ihn die Einsicht in eine unbedingte Verpflichtung, die nicht „von außen“, also von der Natur oder den Gattungseigenschaften der Menschen vorgegeben ist, sondern die dem autonomen praktischen Gebrauch der Vernunft von uns Menschen selbst entspringt; denn wir können uns selbst als sittlich handelnde Wesen I. Kant zufolge nicht anders denken denn als Lebewesen, die sich in der Autonomie unseres Willens und in dem Gebrauch unserer praktischen Vernunft als unbedingt schützenswert und damit als Träger und Subjekte von W. sehen, die unter keinen Umständen beeinträchtigt werden darf. In diesem Sinn spricht I. Kant davon, dass der Mensch als ein „Selbstzweck“ geachtet werden muss. So sind alle Menschen ein „Objekt der Achtung“ (Kant 1968: 434), genauso wie das in der Vernunft des Menschen verankerte Sittengesetz, das uns nötigt, uns als freie Wesen zu begreifen („ratio cognoscendi“).
Mit dieser Wendung zu einem normativen Konzept der W., die in unserem praktischen Vernunftgebrauch den Grund ihrer Geltung besitzt, legt I. Kant die Grundlage für ein normatives Verständnis von W., das keine inneren Abstufungen und keine Modifikationen in ihrer Anwendung erlaubt. Es sind nicht länger bestimmte Eigenschaften, die die W. des Menschen bestimmen, sondern es ist umgekehrt die normative Einsicht in das Prinzip der W. und seine „Unhintergehbarkeit“, die festlegen, welche Eigenschaften die praktische Vernunft uns Menschen zuschreiben kann. Und es ist dieses normative Prinzip, das unbedingt auch eine universalistisch-egalitäre Verwendung verlangt, ohne Einschränkungen, Abstufungen oder Abwägungen mit anderen Gütern. Seine praktische Anwendung im Handeln ist am besten durch die (formal betrachtet) negative Fassung gewährleistet: Aus ihr geht hervor, dass die „Unantastbarkeit“ der W. eines jeden Menschen unbedingt geboten ist. Die Unterlassung der Verletzung und der Beeinträchtigung der W. des Menschen stellt eine Pflicht dar, die jeder Mensch in seinem Handeln auch tatsächlich einlösen kann. Für die Gültigkeit und die praktische Befolgung dieser Pflicht bedarf es auch keiner weiteren positiven „Anerkennung“ (recognition) des Menschen, auch keiner Ableitung aus gesellschaftlichen Praktiken, keines vorausgehenden „Selbstwertgefühls“ (self-esteem), wie manche Kommunitaristen (Kommunitarismus) meinen, die versuchen, die Geltung der W. aus einer sozialen Praxis abzuleiten, wobei sie in Kauf nehmen müssen, der W. den Rang einer im kantischen Sinn notwendigen, unbedingten Pflicht und obersten Norm abzusprechen. I. Kant selbst spricht in einer seiner frühen Formulierungen des kategorischen Imperativs in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1968) davon, dass die W. des Menschen darin bestehe, dass kein Mensch jemals „nur als ein Objekt“ behandelt werden dürfe: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit sowohl als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst“ (Kant 1968: 429), und in der späteren „Metaphysik der Sitten“ (1968) spricht er davon, dass die W. des Menschen nicht nur einen jeden Menschen dazu verpflichte, bestimmte Handlungen gegenüber allen anderen Menschen zu unterlassen, sondern auch Handlungen gegenüber sich selbst. Diese Einsicht entspricht dem zentralen Gedanken der „Autonomie“, die bei I. Kant als das oberste normative Prinzip der Sittlichkeit verstanden ist, und gleichermaßen von „Heteronomie“ wie von „Anomie“, also von Gesetzlosigkeit, d. h. von subjektiver Beliebigkeit oder Willkürfreiheit unterschieden ist.
3. Das Würdeprinzip bei I. Kant und seine Folgen für die Praxis
Der Begriff der W. ist diesen Überlegungen zufolge kein Wert, der uns Menschen vorgegeben ist oder uns aufgetragen wäre, indem er entweder irgendwo in der Welt vorgefunden oder auf den Menschen durch eine Vereinbarung übertragen wird. Er bezeichnet auch keine subjektive Präferenz, keine positive Bewertung bestimmter Eigenschaften, ohne die das menschliche Leben „weniger wert“ wäre, und auch kein Vorrecht von Menschen gegenüber anderen Lebewesen, da der Begriff der W. bei I. Kant in sich selbst keinen Bezug auf andere Arten oder den Umgang mit anderen Lebewesen enthält. Damit ist auch der manchmal erhobene Vorwurf eines sog.en „Speziesismus“ gegenüber dem Konzept einer W. des Menschen hinfällig. Auch ist der Begriff der W. selbst nicht primär oder zuerst ein Rechtsbegriff. Vielmehr expliziert er den vernünftigen Grund für jedwede Form von Normativität und d. h. von sittlicher Verpflichtung. Erst die in der W. des Menschen wurzelnde Idee von Normativität, die wir als Ausdruck von Autonomie und praktischer Freiheit begreifen müssen, gestattet es, überhaupt von Rechten und Pflichten, sei es im moralischen, sei es im juridischen-rechtlichen Sinn sprechen zu können. Auch die begründete Rede von Menschenrechten folgt erst aus der W. als normativem Prinzip. Deshalb muss die W. des Menschen auch von den Menschenrechten unterschieden werden. Beide Begriffe miteinander zu kontaminieren, führt zu systematischen Unklarheiten in der weiteren Argumentation, die nicht akzeptable Folgen nach sich ziehen.
Der von I. Kant vorgelegte Begriff der W. geht der Rede von ethischen, rechtlichen oder politisch-sozialen Pflichten begründend voraus. Daher widerspricht es auch seiner Funktion und seinem Gehalt, wenn vorgeschlagen wird, dass der Geltungsanspruch der W. mit den Menschenrechten, die anders als die W. auch stets im Plural auftreten, oder gegen bestimmte Lebensgüter oder gegen berechtigte Interessen abgewogen werden soll oder kann. Aus guten Gründen wird hier unter dem Begriff der W. ein normatives Prinzip verstanden, dessen Geltung über einen rein evaluativen Gebrauch der klassischen Wertbegriffe der Moral und der abgestuft modifizierbaren Weise ihrer Anwendung auf den jeweiligen Einzelfall hinausgeht. Als ein normativer Begriff erweist sich das Konzept von W. geeignet, die entscheidende vernunftbasierte Grundlage für Kriterien des moralischen Handelns und des legitimen Rechts ausdrücklich zu machen und für den weiteren Gebrauch freizulegen. Dabei werden die Forderungen der Ethik und des Rechts ihrerseits aus dem Begriff der W. nicht material, also inhaltlich abgeleitet; sehr wohl aber müssen sie geltungstheoretisch (Geltung) den formalen Vorgaben der Rede von der W. des Menschen entsprechen, und das ist der Fall, wenn sie dem W.-Konzept – in seiner negativen, unbedingten und nicht konditionierbaren Fassung – nicht widersprechen.
Dabei ist der Rede von einer „W. des Menschen“ der Vorzug vor einer Rede von einer „W. der Person“ zu geben, da der Begriff der Person, ausweislich der Geschichte seiner vielfältigen Bedeutungen, ggf. Konditionierungen oder Fassungen erlaubt, die dem Begriff der W. widersprechen. Es kommt hinzu, dass der Begriff der Person in seinem Gebrauch nicht nur auf Menschen beschränkt ist, sondern auch Institutionen umfassen kann. Die W. von Institutionen wie Staaten oder Unternehmen ist aber durch den Begriff der W. im Anschluss an I. Kant nicht „unantastbar“. Ebenso wenig wäre es mit dem Begriff von W. vereinbar, wenn in seinem Namen Menschenrechte oder Grundrechte des Menschen wie etwa seine Freiheit oder sein Lebensrecht aktiv eingeschränkt würden. In den politischen Debatten betrifft dies insb. das Verbot einer staatlichen Todesstrafe oder der Folter – Verbote, die im Namen des normativen Prinzips von W. unbedingt gelten sollen. Auch wäre es mit dem hier vertretenen W.-Konzept nicht vereinbar, mit ihm einen Rechtsanspruch auf eine freiwillige Aufgabe der eigenen Freiheit oder des eigenen Lebens zu verbinden. Die W. des Menschen schließt nämlich nicht nur jede Form einer freien Selbstunterwerfung unter den fremden Willen anderer aus, also jede Form der freiwilligen Selbstversklavung oder einer Unterwerfung unter ein Recht, das dem Menschen seine W. nimmt, sondern sie schließt I. Kant zufolge auch ein Recht auf eine vorsätzliche Selbstverstümmelung oder auf einen die Freiheit des Menschen beendenden Suizid aus. Von diesem Ausschluss ist auch die Rede von einem vermeintlichen Rechtsanspruch auf staatliche Beihilfe zum Suizid betroffen. Die Begründung für I. Kants Argumentation folgt dem Gedanken, dass ihm zufolge ein Selbstwiderspruch entsteht, wenn sich im Namen der Handlungsfreiheit der Träger dieser Freiheit selbst Schaden zufügt oder eliminiert, da sich hier die Freiheit gegen sich selbst wendet. Da mitunter auch die Auffassung vertreten wird, dass die Rede von einer „Achtung der W“. auf ein Leben bezogen sei, das als „wertvoll“, „sinnvoll“ oder „gelungen“ bezeichnet werden kann, ist es wichtig zu beachten, dass sich der Begriff der W. gerade nicht auf die subjektiv immer als wertvoll und erstrebenswert qualifizierten „Vollendungsbedingungen des Menschseins“ (oder auf das „gute Leben“ i. S. einer aristotelischen Ethik) bezieht, sondern gewissermaßen nur auf „die Anfangsbedingungen“ eines Lebens von Menschen zusammen mit anderen Vertretern ihrer Art (Höffe 2002: 113).
Dieser wichtige Unterschied indiziert noch einmal die Differenz, die zwischen einem evaluativen und einem normativen Gebrauch der Rede von der W. des Menschen besteht. Das Wissen um diese Differenz macht es möglich, einen beliebigen, geradezu inflationären Gebrauch des W.-Begriffs in der Gegenwart kritisch zu hinterfragen.
In diesem Sinn zeichnet das hier skizzierte Konzept von W. zugl. die grundlegende Bedingung dafür aus, dass es uns Menschen gelingen kann, zusammen mit anderen Menschen im Raum der Gesellschaft, des Rechts und der Politik wirklich „Mensch zu werden und Mensch zu sein“ (Höffe 2002: 113). Die W. des Menschen besteht darin, wie I. Kant es ausdrückt, dass kein Mensch jemals nur als Objekt einer fremden Willkürfreiheit behandelt werden darf. So ist die formal-negative Fassung des normativ verstandenen Konzepts von W. auch die angemessene Form einer Definition von W. i. S. eines in der Vernunft des Menschen begründeten Prinzips von Legitimität. Als ein solches praktisches Prinzip verstanden geht das Konzept der W. allen inhaltlichen Auffassungen von Moral, dem System des Rechts und der Verfassung der Politik sowie den Institutionen des Lebens von Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Es trägt dazu bei, diese Ordnungen normativ zu begründen, ihren Gestaltungsanspruch aber zugl. auch zu begrenzen und auf das negativ-praktische Prinzip der „Unantastbarkeit“ der W. des Menschen als Menschen zu verpflichten.
Literatur
M. Lutz-Bachmann: Werte und Normen, in: R. Forst/G. Günther (Hg.): Normative Ordnungen, 2021, 250–277 • M. Herdegen: Art. 1 Abs. 3 GG, in: T. Maunz/G. Dürig (Hg.): Grundgesetz-Komm., 92. Erg.-Lfg., Stand August 2020, Rdnr. 1–119 • A. Nascimento/M. Lutz-Bachmann (Hg.): Human Dignity. Perspectives from a Critical Theory of Human Rights, 2018 • W. Brandhorst/E. Weber-Guskar (Hg.): Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, 2017 • P. Becchi: Das Prinzip Menschenwürde, 2016 • D. von der Pfordten: Menschenwürde, 2016 • M. Lutz-Bachmann: Menschenwürde und Menschenrechte, in: J. König/S. Seichter (Hg.): Menschenrechte. Demokratie. Geschichte, 2014, 41–49 • C. McCrudden (Hg.): Understanding Human Dignity, 2013 • M. Rosen: Dignity, 2012 • P. Schaber: Menschenwürde, 2012 • W. Schweidler: Über Menschenwürde, 2012 • P. Schaber: Instrumentalisierung und Würde, 2010 • D. von der Pfordten: Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, 2009 • P. Tiedemann: Was ist Menschenwürde?, 2006 • K. Seelmann (Hg.): Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2004 • O. Höffe: Menschenwürde als ethisches Prinzip, in: ders. u. a. (Hg.): Gentechnik und Menschenwürde, 2002, 111–141 • A. Margalit: The Decent Society, 1996 • K. Bayertz: Die Idee der Menschenwürde. Probleme und Paradoxien, in: ARSP 81/4 (1995), 465–481 • D. Birnbacher: Mehrdeutigkeit im Begriff der Menschenwürde, in: Aufklärung und Kritik 2/Sonderheft 1 (1995), 1–13 • R. Spaemann: Über den Begriff der Menschenwürde, in: ders. (Hg.): Das Natürliche und das Vernünftige, 1987, 77–106 • I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA, Bd. IV, 1968, 385–464 • Ders.: Metaphysik der Sitten, in: AA, Bd. VI, 1968, 201–549 • W. Maihofer: Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968.
Empfohlene Zitierweise
M. Lutz-Bachmann: Würde, I. Moralphilosophisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/W%C3%BCrde (abgerufen: 27.11.2024)
II. Rechtsphilosophisch
Abschnitt druckenDer W. des Menschen kommt in der Verfassungsordnung ein herausragender Stellenwert zu. Art. 1 GG stellt ihren fundierenden Charakter für die Rechtsordnung sowie für den internationalen Rechtsfrieden klar heraus. Die „unantastbare“ Menschenwürde verweist demnach auf „unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Diese Formulierung erinnert nicht zufällig an die AEMR von 1948. Die Präambel der AEMR setzt ein mit der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft inhärenten Würde“. Von dort her schlägt sie die Brücke zu „gleichen und unveräußerlichen Rechten“ aller Menschen. Dieser Wortlaut ist in anderen Menschenrechtsdokumenten der UN wiederholt aufgenommen und bekräftigt worden. Die EuGRC orientiert sich hingegen am Wortlaut des GG, wenn sie feststellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“
In den genannten Dokumenten wird die W. strikt universalistisch und egalitär aufgefasst. In der alltäglichen Rede von der W. zeigen sich allerdings auch partikularistische Lesarten, wonach die W. von bestimmten Funktionen oder Vorleistungen abhängt. Die Semantik der W. erweist sich daher oft als unscharf. Dies gilt auch für gängige Postulate, etwa die populäre Forderung, „in W. sterben“ zu können. Sie kann darauf abzielen, die W. des Menschen bis zuletzt als unverbrüchliche Vorgabe zu respektieren; sie kann aber auch zum Plädoyer dafür werden, professionelle Suizidassistenz (Suizid) zu ermöglichen, bevor der Mensch etwaige „W.-Verluste“ in Gestalt nachlassender körperlicher oder geistiger Selbstkontrolle erleidet. Die Semantik der W. changiert häufig zwischen Universalismus und Partikularismus. Klarstellungen erweisen sich daher immer wieder als erforderlich.
Partikularistische Assoziationen von W. sind nicht nur ein Reflex traditioneller Vorstellungen, in denen die volle W. für bestimmte, durch Geburt oder Statusposition ausgezeichnete „W.n-Träger“ reserviert war. Auch im modernen Denken gibt es Ansätze, die W. partikularistisch, nämlich in Abhängigkeit zu bestimmten Funktionen, Fähigkeiten, Leistungen oder Verdiensten zu verstehen. So sieht Friedrich Schiller die (eher männlich konnotierte) „W.“ in Analogie zur (eher weiblich konnotierten) „Anmut“ als eine persönliche Leistung, die gelingen, aber eben auch misslingen könne. Niklas Luhmann vertritt ebenfalls einen kontingenten Begriff (Kontingenz) von W., die er als erfolgreiche kommunikative Selbstdarstellung des Individuums auffasst.
Auch in der Ideengeschichte zeigt sich vielfach ein Nebeneinander bzw. Ineinander von universalistischen und partikularistischen Vorstellungen. Dies gilt etwa für Cicero, der den Begriff der W. zumeist für bestimmte traditionelle Statuspositionen in der Gesellschaft vorbehält. Daneben kommt die W. bei ihm allerdings auch als Prädikat des Menschen vor, der sich dadurch von den Tieren unterscheidet. In der Renaissance, paradigmatisch etwa bei Giovanni Pico della Mirandola, steht die W. in einem elitär-ästhetisierenden Zusammenhang, so dass sich Zweifel an ihrer universalistischen Reichweite nahelegen. Wenn Immanuel Kant die W. von der sittlichen Autonomie des Menschen her versteht, folgt daraus hingegen gerade kein exkludierender Leistungsbegriff der W. Vielmehr repräsentiert die W. die prinzipielle Berufung jedes Menschen zur sittlichen Verantwortung. Der kategorische Imperativ, unter dessen Anspruch der Mensch sich nach I. Kant vorfindet, manifestiert sich folglich auch als Gebot, jeden Menschen immer auch als Selbstzweck und niemals ausschließlich als Mittel zu externen Zwecken zu behandeln. Somit erweist sich die W. als „über allen Preis erhaben“ (Kant 1968: 434), wie I. Kant betont. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung zur W. immer wieder Anleihen bei Formulierungen I. Kants gemacht, so etwa mit der „Objekt-Formel“, der gemäß der Mensch nie zu einem bloßen Objekt, also zu einer vertretbaren Größe, degradiert werden dürfe.
Bei der Begründung der W. stehen bis heute religiöse neben säkularen Positionen. Bekanntestes Beispiel einer religiösen Deutung ist die Idee der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, wie sie im ersten Schöpfungsbericht der Genesis präsentiert wird. Die Frage, ob die W. des Menschen mit dem Sündenfall – ganz oder teilweise – verloren sei oder ob sie immer noch fortbestehe, wurde in der christlichen Theologie lange Zeit kontrovers debattiert. Religiöse Motive, die sich als Begründungen der Menschen-W. lesen lassen, gibt es auch außerhalb der jüdisch-christlichen Traditionslinie. So werden im islamischen Kontext (Islam) verschiedene Koranverse angeführt, die die bes. Ehrenstellung des Menschen in der Schöpfung herausstreichen. I. Kants Aufweis der Menschen-W. steht dagegen exemplarisch für einen säkularen Ansatz, der ohne Gottesbezug auskommt. Als weiteres Beispiel für eine säkulare Konzeption der W. lässt sich die Diskursethik anführen, die den wechselseitigen Respekt der Menschen in ihrer W. als unhintergehbare Prämisse sinnvoller kommunikativer Interaktion herausarbeitet. Sowohl das deutsche GG als auch die AEMR halten den Begriff der Menschen-W. für unterschiedliche religiöse oder weltanschauliche Deutungen offen und verzichten deshalb bewusst darauf, den Sinngehalt der W. inhaltlich umfassend festzuschreiben. Damit verschiebt sich der Fokus in Richtung der praktischen Konsequenzen, die sich aus der Menschen-W. ergeben. Die Achtung der W. bewährt sich im pfleglichen Umgang mit den Menschenrechten, deren universaler Geltungsanspruch und bes.r Rang als „unveräußerliche Rechte“ durch das Bekenntnis zur Menschen-W. aller zugl. plausibilisiert werden.
Für politische Kontroversen sorgt nach wie vor die Frage nach dem Status vorgeburtlichen menschlichen Lebens. An der Klärung dieser Frage hängen nicht nur die normative Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs, sondern auch zahlreiche bioethische Fragen, etwa nach den Bedingungen von Präimplantationsdiagnostik sowie Möglichkeiten und Grenzen von Eingriffen in die menschliche Keimbahn. Während z. B. Ernst-Wolfgang Böckenförde an der ungeteilten Menschen-W. vom Zeitpunkt der Empfängnis an festhält, plädiert Matthias Herdegen für einen nach Entwicklungsstadien gestuften Rechtsschutz des vorgeburtlichen Lebens, dem er die volle Menschen-W. daher nicht von Anfang an zuerkennt. Eine vermittelnde Position vertritt Jürgen Habermas, wenn er zwischen „Menschenwürde“ und „Würde des menschlichen Lebens“ (Habermas 2005: 56) begrifflich differenziert. Um die biographische Integrität der geborenen Menschen zu sichern, will er auch das ungeborene Leben von Anfang an vor Manipulationen schützen und etwaige Eingriffe unter strenge Bedingungen stellen.
Neue Fragen wirft die Bewegung des „Transhumanismus“ auf, die davon ausgeht, dass der homo sapiens sich durch technische Selbstoptimierung zu einer neuen posthumanen Spezies entwickeln wird. Vertreter des Transhumanismus wie Nick Bostrom spekulieren bereits über eine künftige „posthumane Würde“ (Bostrom 2005). Dies birgt die Gefahr, dass sich neue Abstufungen innerhalb des W.-Begriffs etablieren und die Idee einer universalen und egalitären Menschen-W. überschatten.
Literatur
J. Waldron: Dignity, Rank, Rights, 2015 • H. Bielefeldt: Auslaufmodell Menschenwürde?, 2011 • P. Bahr/H. M. Heinig (Hg.): Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006 • N. Bostrom: In Defense of Posthuman Dignity, in: Bioethics 19/3 (2005), 202–214 • J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 22005 • E.-W. Böckenförde: Bleibt die Menschenwürde unantastbar?, in: Blätter 49/10 (2004), 1216–1227 • M. Herdegen: Art. 1 Abs. 1 GG, in: T. Maunz/G. Dürig (Hg.): Grundgesetz-Komm., 42. Erg.-Lfg., Stand Februar 2003, 1–58 • N. Luhmann: Grundrechte als Institution, 41999 • J. Morsink: The Universal Declaration of Human Rights, 1999 • K. Bayertz: Die Idee der Menschenwürde. Probleme und Paradoxien, in: ARSP 81/4 (1995), 465–481 • I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA, Bd. IV, 1968, 385–464.
Empfohlene Zitierweise
H. Bielefeldt: Würde, II. Rechtsphilosophisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/W%C3%BCrde (abgerufen: 27.11.2024)