Gesundheit
I. Sozialethisch
Abschnitt drucken1. Begriff und Gegenstand
„Gesund“ meint urspr. „vollständig, ganz, heil“ (Vonessen 1974: 559), wie es im Lateinischen (salus), darüber hinaus auch im französischen oder hebräischen Gruß (salut bzw. schalom) anklingt. G. beschreibt den Zustand eines Menschen oder einer Bevölkerungsgruppe, der einerseits leiblich-körperliche, andererseits aber auch mentale, psychische und spirituelle Aspekte, also den „ganzen“ Menschen umfasst. Er enthält sowohl deskriptive als auch normative Anteile und ist nicht nur ein Zentralbegriff der Medizin, sondern auch Thema der Sozialwissenschaften, Künste, Philosophie, Ethik und Theologie. Die Redewendung des „gesunden Menschenverstandes“ oder die begriffliche und semantische Nähe der Begriffe „Heilung“ (medizinisch) und „Heil“ (soteriologisch, theologisch) bringen dies zum Ausdruck.
Umstritten ist die G.s-Definition der WHO von 1947, welche den G.s-Begriff in die Nähe des Glücks-Begriffs (Glück) rückt: „Gesundheit ist der Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche“ (Engelhardt 1998: 112). Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde damit ausgedrückt, was auch gegenwärtig im Zentrum des Interesses der G.s-Wissenschaften und der Alltagssemantik steht, nämlich, dass die G. mehr umfasse als die bloße Abwesenheit von Krankheit und dass die Sorge um die G. individuelle wie gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit verdiene. Im Verständnis von G. der WHO-Definition bleibt unklar, wer angesichts dieser Maximalkriterien überhaupt als gesund gelten darf, ob und inwiefern die G. mehr ist als eine nicht erreichbare Idealvorstellung und wie z. B. chronisch Kranke oder Menschen mit Behinderungen mit dieser für sie unerreichbaren Zielsetzung umgehen sollen.
Seit den 1980er Jahren ist in öffentlichen Diskursen eine zunehmende Sensibilität für die multifaktorielle Bedingtheit von G. und eine stärker an der G.s-Förderung als an der Krankheitsverhinderung orientierte G.s-Politik wahrzunehmen. Damit verbunden ist die Infragestellung der Alleinzuständigkeit der Medizin für die G. und eine zunehmende Bedeutung der multi- bzw. transdisziplinär arbeitenden G.s-Wissenschaften. Sozialpolitisch wird die Bestimmung von G. einerseits wichtig im Diskurs über Ressourcenknappheit (Prioritätensetzung und Rationierung); andererseits gewinnt er an Bedeutung hinsichtlich der Abgrenzung zu Maßnahmen der Verbesserung eigentlich gesunder Menschen durch Doping, gedächtnissteigernde Medikamente oder kosmetische Chirurgie (Enhancement, wunscherfüllende Medizin).
Der G.s-Begriff bleibt im Unterschied zum Krankheitsbegriff meist unterbestimmt, häufig wird er lediglich ex negativo als Abwesenheit von Krankheit konkretisiert. Menschen verstehen G. i. d. R. erst durch ein persönliches Krankheitserlebnis, daher schreibt Hans-Georg Gadamer auch von der „Verborgenheit der Gesundheit“ (Gadamer 1993). G.s-Definitionen aus Sicht der Sozialmedizin oder von Public Health gehen nicht mehr von einem beschreibbaren Zustand, sondern von einem multifaktoriell bedingten, dynamischen Prozess aus, der sich am Ziel eines ganzheitlich verstandenen Wohlbefindens orientiert und auf permanente Optimierung desselben ausgerichtet ist: G. wird als Fließgleichgewicht verstanden, „welches das Individuum ständig mit seiner Umwelt herzustellen versucht, um sein Wohlbefinden zu optimieren. In diesem Fließgleichgewicht beeinflussen vier Dimensionen den jeweiligen Gesundheitszustand, nämlich die biologisch-genetischen Gegebenheiten, die medizinisch-technischen Möglichkeiten (Gesundheitswesen) sowie der Lebensstil und die Umweltfaktoren“ (Gutzwiller/Jeanneret 1996: 23).
2. Gesundheit in wissenschaftlichen Diskursen
Während in der Antike zwischen Krankheit und G. die Existenz eines dritten Bereichs der Neutralität (neutrum = keines von beiden) angenommen wurde, den es mittels Diätetik, dem rechten Umgang mit Licht und Luft, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Essen und Trinken, Ausscheidungen und Gefühlen zu erhalten galt, wird G. im Rahmen der modernen Biomedizin binär und krankheitsorientiert, nämlich als Abwesenheit von Krankheit, verstanden. Im Rahmen dieses Verständnisses hat die Medizin keine Zuständigkeit für die G., sondern ausschließlich für Krankheit, die als ein Defekt oder eine Funktionsstörung verstanden wird, welche sich im Unterschied zur G. differenziert beschreiben lässt. Christopher Boorse versteht G. in seinem biostatischen Modell als das normale Funktionieren des körperlichen Organismus, wobei er Normalität statistisch und anhand typischer Referenzgruppen definiert. G. bleibt somit eine rein theoretische Vorstellung, losgelöst von der Erfahrungswelt und dem subjektiven Befinden eines individuellen Patienten. Praktisch erfahrbar ist dagegen die Krankheit. Im Gegensatz dazu definiert Lennart Nordenfelt G. subjektiv-relativistisch, nämlich als die Fähigkeit eines Individuums, unter vernünftigen Standardbedingungen in seinem gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen eigene vitale Ziele verfolgen zu können, die zur Erfüllung eines Minimums an Glück erforderlich sind. Der Medizin fällt nicht mehr die Aufgabe zu, einen krankhaften Umstand zu beenden, sondern die genannten Fähigkeiten wiederherzustellen.
Die sogenannte biopsychosoziale Medizin orientiert sich nicht mehr alleine an der Krankheit, sondern an einem ganzheitlichen, die gesamte Person in ihrem gesellschaftlichen Umfeld umfassenden G.s-Konzept. Neben die Bekämpfung von Krankheit tritt die Idee der Förderung und Erhaltung der G. Auf das in der Psychosomatik entstandene, in der Palliative Care, Präventivmedizin und Public Health weitergeführte Konzept hat die Theorie der Salutogenese von Aaron Antonovsky Einfluss ausgeübt. A. Antonovsky hatte beobachtet, dass viele Opfer des NS krank wurden, während andere gesund blieben. Ihn interessierten die Bedingungen, die dazu beitrugen, dass Menschen trotz extremer Belastungen gesund blieben. Auf dieser Basis entwickelte er sein salutogenetisches Modell: Es beschreibt Widerstandsressourcen, die krankmachende Einflüsse ausgleichen und überwinden können, z. B. Selbstwertgefühl, soziale Bindungen, Wissen oder Bewältigungsstrategien. Orientierung bietet dabei das sogenannte Kohärenzgefühl (sense of coherence), das aus drei Komponenten besteht: Verständlichkeit oder Überschaubarkeit (comprehensibility), um Krisen vorausahnen zu können, Machbarkeit oder Selbstvertrauen (manageability), um Krisen meistern zu können, und Sinnhaftigkeit (meaningfulness), die bewirkt, dass das Überwinden einer Krise als zielführend erfahren wird. Die Grundthese lautet: Je stärker das Kohärenzgefühl, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, sich in Richtung des G.s-Pols auf dem Krankheits-G.s-Kontinuum zu bewegen. Anstelle des binären Verständnisses von G. und Krankheit tritt somit eine Klassifikation auf einer kontinuierlichen Skala, anstelle der Diagnostik einer bestimmten Krankheit die Berücksichtigung der ganzen Person, anstelle der Medikamentenorientierung eine Ausrichtung an vorhandenen Bewältigungsressourcen.
Im Zuge der personalisierten Medizin, welche dem biomedizinischen Paradigma des G.s-Verständnisses folgt und an Krankheit orientiert ist, bildet sich gegenwärtig ein neues Medizinkonzept heraus, das Teile des biopsychosozialen Modells aufnimmt. Es werden individuelle Daten auf molekularer Ebene erhoben (Gendiagnostik) und diese mit Hilfe der IT im Hinblick auf eine individualisierte Prognosestellung und Therapie ausgewertet. Aufgrund genetischer Dispositionen werden neu gesunde Kranke identifiziert, welche zum Zeitpunkt der Diagnostik wohlauf sind, aufgrund des genetischen Befunds jedoch mit einer späteren Erkrankung zu rechnen haben und sich daher präventiv behandeln lassen. In der sogenannten P4-Medizin tritt an die Stelle eines reaktiven, auf Krankheit reagierenden Vorgehens eine proaktive, am Wohlbefinden bzw. an der G. orientierte Medizin, in welcher autonome Persönlichkeiten im Zentrum stehen, die sich weltweit zu Netzwerken zusammenschließen, diagnostisch tätig sind und Forschungsprojekte vorantreiben. P4 bezieht sich auf die vier Adjektive prädiktiv, personalisiert, präventiv und partizipatorisch.
In den transdisziplinär ausgerichteten G.s-Wissenschaften bzw. der gesundheitspolitisch ausgerichteten Public Health werden G. und Krankheit als soziale Konstruktionen verstanden: G. werde heute weitgehend individualisiert wahrgenommen, nämlich als Produkt des persönlichen Verhaltens und der Genetik. Das sei unvollständig. Übersehen würden dabei politische, wirtschaftliche, kulturelle, technische und ökologische Determinanten, die auf körperliche und psychische G. einwirkten und sie teilweise indirekt über das G.s-Verhalten mitbestimmten. Wie stark gesellschaftliche Faktoren auf die G. Einfluss ausüben, lässt sich an der durchschnittlichen Lebenserwartung in einer Gesellschaft erkennen: So besteht eine Korrelation zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie sozialer Gleichheit, Partizipationsmöglichkeiten und Bedingungen zur Führung eines selbstbestimmten Lebens, und der durchschnittlichen Lebenserwartung.
Psychologische Theorien von gesundheitlichem Wohlbefinden gewichten das subjektive Befinden, z. B. die Fähigkeit zur Stressbewältigung oder die Möglichkeit, externe und interne Anforderungen zu bewältigen, wobei als Leitbild die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Anstrengung und Erholung, Anspannung und Entspannung sowie aktuellem und habituellem Wohlbefinden gilt. In der ethnographischen Forschung werden G.s-Konzepte als soziokulturell verankerte Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster verstanden. In der sozialepidemiologischen Forschung werden standardisierte Erhebungsmethoden angewendet, in welchen die G. mit mehrdimensionalen Skalen erfasst wird; als Orientierungspunkte dienen dabei: Nicht-Fitsein v Fitness, Krankheit oder Behinderung v Freisein von Krankheit, Krankheitserfahrungen v keine Krankheitserfahrungen, psychosoziale Probleme v Wohlbefinden. Darüber hinaus finden Einkommen, Geschlecht sowie Beruf, Bildung und sozialer Status als G.s-Determinanten Beachtung.
Ein integratives G.s-Verständnis ist das Meikirch-Modell (Johannes Bircher, Shyama Kuruvilla, Eckhart Hahn): Hier wird G. als ein dynamischer Status des Wohlbefindens verstanden, der sich aus der Interaktion zwischen individuellen Möglichkeiten, den Herausforderungen des Lebens und sozialen sowie umweltbezogenen Determinanten ergibt. Wie im salutogenetischen Modell ist auch hier entscheidend, wie ein Mensch auf die Herausforderungen des Lebens reagiert. Darüber hinaus werden soziale G.s-Determinanten und Umweltbedingungen berücksichtigt: Der einzelne Mensch verfüge über ein biologisches G.s-Potential, das im Laufe des Lebens abnehme, daneben aber auch über ein persönlich erworbenes Potential zur Erhaltung der G., welches der Einzelne im Laufe des Lebens vergrößern könne (im Idealfall, um den biologischen Abbau zu kompensieren). Dieses Potential wird in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu sozialen G.s-Determinanten und Umweltbedingungen verstanden, welche auf gesellschaftspolitischer und systemischer Ebene verändert werden können.
3. Ausblick
Der stark zunehmende finanzielle Druck im Bereich der G.s-Versorgung, der sich auch im politischen Unwillen manifestiert, im Bereich der G.s-Prävention stärker zu investieren, dürfte sich voraussichtlich auch auf das G.s-Verständnis auswirken: Eine Möglichkeit, die Reichweite des Rechts auf eine gute G.s-Versorgung einzugrenzen, wäre eine Beschränkung des G.s-Verständnis auf grundlegende Funktionen oder Fähigkeiten und damit das Gegenteil der eingangs zitierten WHO-Definition.
Die gleichzeitig forcierten Möglichkeiten zur Verbesserung eigentlich Gesunder durch kosmetische Chirurgie, Neuro-Enhancement, pränatale Diagnostik und gene editing erhöhen den Druck auf die einzelne Person, ihre G. permanent zu optimieren. Es besteht die Gefahr, dass die G. zum höchsten Gut im Leben wird, was zu Enttäuschungen führen muss, insofern die G. lediglich ein Bedingungsgut bzw. eine Disposition zur Verwirklichung anderer Güter ist.
Je erfolgreicher die Medizin ist, desto mehr nehmen chronische Krankheitszustände zu. Aus Sicht des einzelnen Menschen wird darum wichtig bleiben, die sogenannte kleine G. wahrzunehmen und wertzuschätzen: Die Fähigkeit, mit Einschränkungen, Schmerzen oder Behinderungen leben zu können. Am Ende der „Fröhlichen Wissenschaft“ schreibt Friedrich Nietzsche von der „großen Gesundheit“, einer „stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren“. Damit stellt er den G.s-Wahn infrage und skizziert gleichzeitig die Vorstellung von „gefährlich-gesunden“ Menschen, die in der Lage seien, Ziele jenseits etablierter G.s-Ideale zu verfolgen (Nietzsche 1999: 636).
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
M. Zimmermann: Gesundheit, I. Sozialethisch, Version 03.08.2024, 14:45 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesundheit (abgerufen: 23.11.2024)
II. Pädagogisch
Abschnitt drucken1. Begriffsfeld
G.s-Pädagogik thematisiert das ganzmenschliche Wohlergehen des Einzelnen als elementare lebenslange Bildungsaufgabe. Voraussetzung für diese Sichtweise waren freilich die Ausweitungen des G.s-Verständnisses im Zuge der interdisziplinären Fassung der „G.s-Wissenschaften“ i. S. v. public health einerseits sowie die gesundheitspädagogischen Forschungsbemühungen der letzten Jahrzehnte mit der Überwindung einer im Dienst der kurativen Medizin befindlichen „Rumpfpädagogik“ (vgl. nur die sprichwörtlichen Zahnarztbesuche in der Grundschule) andererseits. So konnte bspw. Gerhard Schäfer, einer der Pioniere eines umfassenden Verständnisses von G.s-Bildung, aufzeigen: Die alle personalen Regionen des Menschseins umspannende positive Konnotation von „G.“, wie sie bereits etymologisch (gasunda: stark, kräftig, heil) grundgelegt ist, findet sich auch im internationalen Vergleich, nicht zuletzt in den Entwicklungsländern, wieder, wo – im Unterschied zur Negativzentrierung um den Krankheitsbegriff (Krankheit) hierzulande – mit dem Wort health Aspekte wie Lebenskraft, Energie, Nahrung, Freude, Schlaf usw. assoziiert werden. „G.“ zielt dann gleichsam als Systemeinheit auf das Wohlsein des ganzen Menschen einschließlich seiner seelisch-geistigen Stabilität und seines sozial-ökologischen Aufgehobenseins ab. Demgegenüber vermochte das ehemalige Konzept der G.s-Erziehung, schulmeisterlich und individuenzentriert wie es war, in seiner Ausrichtung primär auf fallweise individuelle Krankheitsvermeidung, nicht einmal im Ansatz das Prädikat verdienen, eine veritable pädagogische Theorie zu präsentieren. Diese beginnt vielmehr erst dort, wo pädagogisches Handeln auf die Anregung zu ureigenen Aktivitäten des Individuums, also auf Bildungsprozesse, abzielt; eben dort, wo mit G.s-Bildung die Ausformung eines kultivierten Lebensstils in den Blick kommt, kraft dessen der Mensch inmitten seiner situativen Lebensweltbezüge, und sei es als Rollstuhlfahrer in anstrengendem Berufsleben, an seinem Wohlergehen verantwortlich mitwirkt. G.s-Bildung hebt somit in einem lebenslangen dynamischen Prozess auf die „Fähigkeit (ab), am Leben mit möglichst vielen Facetten teilzunehmen“ (Schäfer 1998: 26).
2. Das Bildungskonzept der Diätetik im Rahmen der Gesundheitsförderung
2.1 Grundlinien
Ähnlich hatte sich ja schon die klassische „Diätetik“ (griechisch díaita: gesunde Lebensführung im Dienst des Heilungsprozesses) in positiver Einstellung am Wohlergehen des Menschen orientiert. Auch eröffnete sie dem Patienten hinsichtlich seines Wohlergehens einen beträchtlichen Freiheits- und Gestaltungsspielraum, ja, sie wies ihm dabei die Hauptaktivität zu. So hatte der Einzelne innerhalb des Systems gesunder Lebensführung bis in deren mittelalterliche Version von regimen sanitatis hinein sechs Lebensbereiche in Ordnung zu halten:
a) die Luft (aer),
b) Arbeit und Muße (motus et quies),
c) Speise und Trank (cibus et potus),
d) Schlafen und Wachen (somnus et vigilia),
e) Entleerung und Füllung (inanitio et repletio),
f) die Gemütsbewegung (affectus animi).
In diesem austarierten System intendierte die Diätetik ein „Gleichgewicht der wohlausgewogenen Proportionen“ (Hörmann 1998: 115), das „der Kultivierung der individuellen Lebensführung im Sinne einer harmonischen Gesamtpersönlichkeit diente“ (Schipperges 2003: 12 f.). Was jedoch diesem idealistisch-elitären Bildungsgedanken abging, war die Realität erdenschwerer sozialer Gegebenheiten.
Während nämlich die privilegierte griechische Oberschicht ihr Augenmerk auf eine wohlgeordnete Rhythmik ihres Alltagslebens zwischen Körperübung, Baden, Schlafen und Anspannen richtete, „brachten die Sklaven in gebückter Stellung, bei rauchigem Schein der Öllampen, unter der Frohn der Aufseher, bis zu zehn Stunden am Tag tief unter der Erde beim Abbau der Erze zu“ (Henkelmann/Karpf 1983: 27).
Vergleichsweise aktualisiert gesagt wäre es wohl zynisch, einer alleinerziehenden Mutter, die zwischen schwerem Berufspensum, Haushalt und Kindererziehung hin und her hetzt, den Ratschlag zu erteilen, sich doch mehr Zeit für regelmäßige Spaziergänge einzuräumen.
Soll also das Opfer nicht zum Täter stilisiert werden, so gilt es, das Konzept der G.s-Bildung in den umfassenden Rahmen der G.s-Förderung (health promotion) zu integrieren. Danach wird die Mitgestaltung des Einzelnen an seinem Leib-seelisch-sozialen Wohlergehen gesellschaftlich situiert (Familie, Nachbarschaft, Bekannte, Freundeskreis, Gemeinde, Unternehmen etc.) und durch sozio-strukturelle Maßnahmen (Produktions-, Arbeits- und Wohnbedingungen, Umweltgestaltung) im Kleinen wie im Großen sozial und politisch unterstützt.
2.2 Exemplarische Konkretionen
a) Neben diesen sozial-ökologischen Faktoren ist ferner auf die bio-ökologischen Einflussgrößen abzuheben, wie sie die klassische Diätetik in ihrer herausragenden Bedeutung für leib-seelisches Wohlergehen hervorgehoben hat. Was da nämlich mit aer angesprochen worden ist, das meint heute Natur und natürliche Umwelt. Hier müsste Natur in einer Kultur der sinnlich-ästhetischen Begegnung wieder erfahrbar gemacht werden als gestaltenreiches Ausdrucksfeld und schöpferische Quelle für menschliches Wohl und Gedeihen.
b) Arbeit und Muße (motus et quies) bedeuten sicherlich zunächst eine Humanisierung der Arbeitswelt (inkl. Arbeitsplatzphysiologie, Leistungspathologie), näherhin ein Gleichgewicht von Stress und Freizeit, Arbeit und Muße. In unserem gegenwärtigen Zivilisationskontext sollte motus jedoch auch einmal wörtlich verstanden und ausgelegt werden als Bewegung. So sollten in einer „sitzenden Zivilisation“ G.s-Bildungsmaßnahmen in ihren Angeboten zu ihren vielfältigen motorischen Formen zwischen Leistungs- und Ausdrucksbewegung anregen und dabei körperliche Ertüchtigung zur Erfahrung der innerlichen Zentrierung verhelfen.
c) Damit zeichnet sich schließlich auch die personnahe Zone einer Regulation des individuellen Affekthaushaltes (affectus animi) ab. Dem Aufbau einer kultivierten Psychohygiene gebührt gegenwärtig wohl die zentrale Aufmerksamkeit auf einem Bildungsfeld, das vom Leib ausgeht und über das Psychische letztlich der kraftvollen Wahrnehmung unserer geistigen Lebensaufgabe dient. So könnte die Diätetik in einer vom Stress gezeichneten globalisierten Gesellschaft in transformierter Fassung durchaus als ein Strukturschema für vielfältige Angebote in Schule und Erwachsenenbildung fungieren.
3. Gesundheitsbildung im Konzept der Salutogenese
3.1 Konzeptaufbau
Ihre entschiedenste Ausrichtung am Heil- und Wohlsein des Menschen erhielt G.s-Bildung schließlich von außerhalb der Pädagogik, nämlich durch die Theorie der Salutogenese des Soziologen, Epidemiologen und Stressforschers Aaron Antonovsky. Anlässlich empirischer Erhebungen über in Israel lebende Frauen, war er auf die Entdeckung gestoßen, dass 29% einer Gruppe von Überlebenden des KZs eine gute psychische G. zuerkannt wurde. Diese dramatische Erfahrung bewegte ihn dazu, das Salutogenetische Modell zu formulieren („Health, stress and coping“, 1979). Statt der üblichen pathogenetischen Fragen nach den Ursachen von Krankheit stellt sich in salutogenetischer Orientierung jetzt die andere Frage: Was sind die Bedingungen und Kräfte, unter denen sich G. entwickelt?
Tragend sind hier generalisierte Widerstandressourcen, die als heilsame Widerstandspotentiale einer Person dazu befähigen, gut mit Anspannung umzugehen und die Kraft verleihen, Stressoren in Richtung Heilsein und Wohlergehen umzulenken. Sie münden in der mentalen Steuerungsinstanz des Kohärenzgefühls (sense of coherence) als ein „alles durchdringendes, dauerhaftes, dynamisches Gefühl der Zuversicht“ (Antonovsky 1997: 16), dass
a) schwierige Situationen doch irgendwie einzuordnen und zu verstehen sind (comprehensibility), dass sie
b) zu bewältigen sind (manageability) und dass sich
c) diese Anstrengung auch lohnt (meaningfulness).
3.2 Pädagogische Applikationen
Die Komponenten des sense of coherence sind nicht gleichsam „vom Himmel gefallen“, sondern sie erwachsen ein Leben lang und bilden sich heran aus Erfahrungen, die weitestgehend pädagogisch bestimmt sind.
Ad a): Verstehbarkeit (das Vertrauen, auch schwierige Situationen einordnen zu können) setzt die Erfahrung von Konsistenz voraus, von stabiler Zuwendung bei entsprechendem angemessenem Regelverhalten.
Ad b): Handhabbarkeit (die Überzeugung, mit Schwierigkeiten fertig werden zu können) basiert auf der Erfahrung von ausgewogener Belastung, die vom Einzelnen tatsächlich zu bewältigen ist.
Ad c): Bedeutsamkeit (die Überzeugung von Menschen, dass ihnen manche Lebensbereiche sehr am Herzen liegen) erwächst aus der Erfahrung der Sinnhaftigkeit durch Teilhabe/verantwortliche Partizipation im Umgang mit nahestehenden Menschen und der Mitwirkung an den für den Einzelnen wichtigsten Tätigkeiten.
3.3 Fazit
Ungeachtet der empirischen Validität des sense of coherence-Modells könnte eine derartige Ressourcen-Konzeption sich pädagogisch befreiend auswirken: auf die Stärkung der Zuversicht des Einzelnen, in einer fragmentierten Welt der Brüche und Widersprüche sinnstiftend tätig werden zu können. Von der Kindertagesstätte an bis ins Berufsleben hinein bedürfen wir zu unserem Glück und sinnhaften Gelingen dieses Vertrauensvorschusses, jeweils auf unserem ureigenen Feld verantwortlich mitwirken zu dürfen.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
G. Mertens: Gesundheit, II. Pädagogisch, Version 03.08.2024, 14:48 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesundheit (abgerufen: 23.11.2024)
III. Soziologisch
Abschnitt drucken1. Entwicklungen zur Gesundheitssoziologie
Zuerst stellt sich die Frage nach einer Definition von G.s-Soziologie. Im „Roche Lexikon Medizin“ 2003 wird von einer „Beziehungslehre“ gesprochen zwischen Gesellschaft, G. und Krankheit. Ein leitender Gedanke dieser „mehrperspektivischen Definition von Gesundheit“ (Hurrelmann 2013: 115) ist, dass gesundheitliche Probleme und Krankheiten in diesem Zusammenhang auch sozial verursacht sind. Dabei kommen zum Tragen (Hurrelmann 2013: 116):
a) „generelle Handlungs- und Bewältigungsfähigkeit;
b) Leistungsfähigkeit für Beruf, Sport und andere Lebensbereiche;
c) Stärke, Kraft und Energie auf körperlicher und seelischer Ebene;
d) Körperliches und psychisches Wohlbefinden;
e) Harmonie und Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt“.
„Was heißt Gesundheit heute“ (Adam/Herzlich 2010: 18) ist eine essentielle Frage der G.s-Soziologie: Leben wir in einer „societé médicalisée“ (Adam/Herzlich 2010: 36)? Um die Entwicklungen der G.s-Soziologie besser zu verstehen, zeigen sich mehrere Entwicklungsstränge. Festzuhalten ist, dass die G.s-Soziologie sowohl eine spezielle Soziologie wie eine junge Disziplin der G.s-Wissenschaften ist.
Orientiert sich das klassische Krankheitsverständnis einer societé médicalisée an einem bio-medizinischen Modell, so ist das G.s-Verständnis der G.s-Soziologie orientiert an einem ganzheitlichen Modell, verbunden mit der G.s-Definition der WHO: G. bedeutet das absolute Wohlbefinden in körperlicher, sozialer, psychischer, ökonomischer und ökologischer Hinsicht. In der Ottawa Charta von 1986 wird „Gesundheit […] als die Fähigkeit bzw. Kompetenz des Individuums beschrieben, die eigenen Gesundheitspotentiale auszuschöpfen und damit angemessen auf die Herausforderungen der Umwelt zu reagieren“ (Uhle/Treier 2015: 8).
Methodologisch forscht die G.s-Soziologie empirisch-analytisch, empirisch-qualitativ, handlungsbezogen, systemisch wie auch anwendungsorientiert. Es ist das wissenschaftliche Ziel, die soziologischen Voraussetzungen, Chancen und Perspektiven zur Erhaltung und Förderung einer „G. heute“ als auch entsprechende Beeinträchtigungen und Verletzungen verstehen und erklären zu können.
Des Weiteren bedeutsam ist die medizinische Soziologie. Untersucht werden psychosomatische Krankheiten wie Adipositas, Demenzen, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Rückenleiden und Suizide. Zweifelsfrei hat die Medizinsoziologie zur kopernikanischen Wende in den medizinischen Wissenschaften beigetragen. Problembezogen geht es um die Klärung gesellschaftlicher Disparitäten, mangelnde soziale Kohäsion, soziale Konflikte, gesundheitsschädlicher Lebensstil und die Wirkungen auf die G. Diese Themen haben Eingang gefunden in eine Soziologie in der Medizin. Ebenso etablierte sich eine Soziologie von der Medizin. Hervorgehoben werden organisationale Einflüsse auf G. und Krankheit in Verbindung mit mangelnder Gratifikation und Arbeitsstress, so auch im Krankenhaus. Die „medizinische Deutungsmacht“ (Labisch/Spree 1989) wurde durch eine soziologische und sozialwissenschaftliche G.s-Forschung maßgeblich korrigiert.
2. Soziale Epidemiologie
Auch etablierte sich eine soziale Epidemiologie: Mikrosoziologisch geht es um Copingprozesse zur Bewältigung von Krankheiten oder Arbeitsstress wie eine substantielle Verbesserung der Arzt-Patient-Beziehung. Mesosoziologisch stehen bürokratische Strukturen, Prozesse und Verwerfungen im Vordergrund. Gerade die Entdeckung einer Krankenhaussoziologie ebnete den Weg für ein strukturelles Verständnis von Organisationsverläufen. Die gesundheitssoziologische Betrachtungsweise ist der Fund einer „gesunden Organisation“ (Badura u. a. 2010: 31). Makrosoziologisch wurde der Einfluss der Sozialstruktur als soziologische Analyse von Armut, Bildung, Gender, Lebensstile wie sozialer Ungleichheit auf die psycho-soziale G. und die Genese von Krankheiten untersucht. Wird Ungleichheit als ungerecht empfunden, so kann der Umstand nicht nur zu politischen und sozialen Reaktionen führen wie Rückzug, Gewalt und Kriminalität, sondern auch zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Bevölkerungsgruppen, die sich nicht anerkannt und integriert fühlen, empfinden sich als zurückgesetzt. Sie können ihre gesundheitlichen Potentiale nicht hinreichend entfalten. Es werden ungünstige Muster des G.s-Verhaltens entwickelt mit der Neigung zu G.s-Störungen. Eine Überbeanspruchung der Anpassungsfähigkeit des Menschen als bio-psycho-soziales System mit einer „Verletzlichkeit der Persönlichkeit“ (Hurrelmann 2013: 104) kann die Folge sein.
3. Von der Pathogenese zur Salutogenese
G. und Krankheit stehen auch im Kontext der Medizingeschichte. Aaron Antonovsky vollzog einen paradigmatischen Wandel von der Pathogenese zur Salutogenese bzw. von der medizinischen Soziologie zur G.s-Soziologie. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Quellen der G. Das bio-medizinische Modell wird durch ein bio-psycho-sozio-ökologisches Modell überwunden. Ebenso wird die Dichotomie krank v gesund aufgebrochen. Es wird von einem Kontinuum zwischen beiden Polen ausgegangen, d. h. mehr oder weniger krank oder gesund. Die Entwicklung eines Kohärenzgefühls erfordert, dass die Akteure gut über die Sachverhalte informiert sind, handlungsfähig bleiben und ihr Handeln subjektiv für sinnvoll erachten. Konkret bedeutet Salutogenese, die Verfügung über soziale, personale und organisatorische Systemressourcen. Soziale Ressourcen umfassen ein Sozialkapital durch soziale Unterstützung, sozialen Rückhalt und Solidarität. Personale Ressourcen schließen hohe Kohärenz, Selbstwirksamkeit und Widerstandsfähigkeit ein. Organisatorische Ressourcen umspannen Tätigkeitsinhalte, Handlungsspielraum und soziale Teilhabe. Um dem Druck von Belastungen zu widerstehen, sollten diese Systemressourcen die G. unterstützen. Insofern können sie als „Strategien zur Optimierung der Gesundheitsverhältnisse“ (Hurrelmann 2013: 155) wie als „Strategien zur Stärkung des Gesundheitsverhaltens“ (Hurrelmann 2013: 193) interpretiert werden. Gesundheitssoziologische Ansätze zur Optimierung der G.s-Verhältnisse sind eine gesundheitsrelevante Sozialpolitik, Arbeitsweisen der G.s-Systemgestaltung, Handhabungen zur Gestaltung kommunaler und familialer Lebensräume und zur G.s-Förderung in Sozialorganisationen. Praktiken zur Stärkung des G.s-Verhaltens gründen in der G.s-Kommunikation, G.s-Erziehung und G.s-Bildung, G.s-Beratung und Patientenschulung, G.s-Aufklärung und Festigung der G.s-Kompetenz.
4. WHO-Ziele der Gesundheit – Herausforderungen für die Gesundheitssoziologie
Die Realisierung eines optimalen G.s-Systems bedarf epidemiologischer Kenntnisse über gesundheitliche Erschwernisse, Wissen über die Infrastruktur und ökonomische Mittel als auch Einblicke in Ziele und Orientierungen. Der Diskurs über G.s-Ziele geht von einem bio-psycho-sozio-öko-Modell aus. Die WHO hat diese Figuration entscheidend mitgeprägt, durch G.s-Ziele operationalisiert und auf der Welt-G.s-Versammlung von 1986 als Entwurf der „Gesundheit für alle“ verbreitet. Der Diskurs zu den G.s-Zielen hat als Curriculumsbeitrag für die G.s-Soziologie auch einen didaktischen Wert. 1978 wurde dieser Plan auf der Konferenz von Alma-Ata besprochen. Enthalten sind 38 Ziele, gegliedert in „Endziele für eine bessere Gesundheit“ (Ziele 1–12) und „Strategien für eine bessere Gesundheit“ (Ziele 13–38). Mit Blick auf die Endziele sind gesundheitssoziologisch gewichtig die allgemeine G., Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) und Lebensqualität, die G. bestimmter Bevölkerungsgruppen wie günstigere Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung, Altern in G., G. von Kindern, Jugendlichen und Frauen wie die Prävention und Bekämpfung von Krankheiten und G.s-Problemen. Mit Blick auf die „Strategien für eine bessere Gesundheit“ geht es um die Anwendung der Endziele. Gesundheitssoziologisch beachtlich ist die Sozialisation mit dem Ziel eines gesundheitsförderlichen Lebensstils v. a. mit Blick auf die Förderung von G.s-Kompetenz, einer gesunden Umwelt einschließlich der arbeitenden Bevölkerung, bedarfsgerechter qualitätsvoller Versorgung auf dem Hintergrund des G.s-Managements in den stationären und ambulanten Hilfestrukturen, den Ausbau der Strategien einer „Gesundheit für alle“ wie die Erörterung ethischer Angelegenheiten.
5. Fazit
„Was heißt Gesundheit heute“ (Adam/Herzlich 2010: 18) war der Anstoß für die G.s-Soziologie. Im Lichte einer „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) mit machtvollen sozialen Strukturen und epidemiologischen Herausforderungen ist der Paradigmenwechsel von der Pathogenese zur Salutogenese eine Chance, Vulnerabilitäten durch den Ausbau von G.s-Förderung, Prävention und Rehabilitation abzuwenden. Die G.s-Soziologie leistet einen wissenschaftlichen und anwendungsorientierten Beitrag, um die gesundheitswissenschaftlichen Herausforderungen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene ins Bewusstsein zu rücken. G.s-Soziologie begründet die Basis für G.s-Strategien im Verbund mit Public-Health-Entwicklungen und dem „Befähigungs- und Verwirklichungsansatz“ des Nobelpreisträgers Amartya Kumar Sen (Sen 2007: 52) um auf einer, von A. Sen so definierten dynamischen Basis von Einkommen, Familie, Bildung, Arbeitgeber, Vereine, Kirchen etc. das Gemeinwohl wie die G.s-Kompetenz zu stärken.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
B. Mann: Gesundheit, III. Soziologisch, Version 03.08.2024, 14:49 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesundheit (abgerufen: 23.11.2024)
IV. Wirtschaftlich
Abschnitt druckenDie eigene G. ist für den Einzelnen, aber auch für Arbeitgeber, Sozialsystem und letztlich für die Gesellschaft als Ganzes von zentraler Bedeutung. G., Leistungs- und Arbeitsfähigkeit sind untrennbar miteinander verwoben. Ein Mindestmaß an G. ist daher nicht nur Grundvoraussetzung für ein erfülltes Leben jedes Einzelnen, sondern sichert langfristig auch das Funktionieren der Sozialversicherungssysteme (Sozialversicherung) sowie das Fortbestehen ganzer Volkswirtschaften. Die Förderung und der Erhalt sowie die Wiederherstellung der G. der Bevölkerung ist zentrale Aufgabe des G.s-Wesens. Es ist nicht nur einer der größten Kostenfaktoren für die Sozialsysteme, sondern zugleich auch einer der bedeutendsten Wirschaftssektoren in Deutschland. Die Betrachtung der wirtschaftlichen Bedeutung des Sektors muss daher sowohl die Ausgaben- als auch die Wertschöpfungsseite beleuchten.
1. Ausgaben- bzw. Kostenbetrachtung
Basis für Aussagen über die Entwicklung der G.s-Ausgaben bildet die G.s-Ausgabenrechnung des Bundes. Die G.s-Ausgaben werden hier nach Ausgabenträgern, Leistungsarten und Einrichtungen ausgewiesen. Die Entwicklung der G.s-Ausgaben lässt sich bis zu den Anfängen der G.s-Berichtserstattung im Jahr 1992 zurückverfolgen. Die Definition von G.s-Ausgaben folgt dabei der Logik des sogenannten System of Health Accounts, einem von der WHO, der OECD und dem Eurostat gemeinsam entwickelten Konzept. Ergänzt wird die G.s-Berichterstattung in Deutschland durch die Krankheitskostenrechnung des StBA. Hier werden die Kosten nach Krankheiten bzw. Krankheitsgruppen, Alter, Geschlecht und Einrichtung ausgewiesen. Man erhält somit einen Einblick in die wirtschaftliche Bedeutung einzelner Krankheitsgruppen. Die Krankheitskostenrechnung wurde letztmalig für das Jahr 2008 aktualisiert. Im Unterschied zur G.s-Ausgabenrechnung werden Investitionen aufgrund der Zuordnungsproblematik zu einzelnen Krankheitsbildern nicht extra ausgewiesen. Die in der Krankheitskostenrechnung des StBA ausgewiesenen Krankheitskosten sind daher niedriger als die in der G.s-Ausgabenrechnung ausgewiesenen G.s-Ausgaben.
1.1 Gesundheitsausgaben
2014 wurden in Deutschland insgesamt knapp 328 Mrd. Euro für G. ausgegegeben. 321,7 Mrd. Euro sind dabei den laufenden G.s-Ausgaben zuzurechnen, 6,2 Mrd. Euro entfielen auf Investitionen in Anlagegüter und Gebäude. Seit 1992 haben sich die G.s-Ausgaben nominal mehr als verdoppelt. Das entspr. einem Anstieg von ca. 3,3 % pro Jahr. 2012 wurde erstmalig die 300-Mrd.-Euro-Marke überschritten. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich auch bei den Ausgaben pro Kopf. Während 1992 noch 1 972 Euro je Einwohner ausgegeben wurden, waren es 2014 4 050 Euro. Auch in Relation zur Wirtschaftsleistung ist ein ansteigender Trend zu erkennen. Wurden 1992 noch 9,4 % des BIP für G. ausgegeben, so sind es heute 11,2 %. International liegt Deutschland damit an der Spitze der OECD-Staaten. Lediglich die USA, die Schweiz und Japan geben mehr Geld in Relation zu ihrer Wirtschaftsleistung aus. Bei den Ausgaben pro Kopf liegt Deutschland hingegen eher im unteren Mittelfeld der OECD-Staaten.
Der größte Ausgabenträger ist die gesetzliche Krankenversicherung. Mit 191,8 Mrd. Euro kam die gesetzliche Krankenversicherung 2014 für 58,5 % der Ausgaben auf. Auf die privaten Haushalte und Organisationen ohne Erwerbszweck fielen 43,2 Mrd. Euro, auf die private Krankenversicherung 29,3 Mrd. Euro und auf die soziale Pflegeversicherung 25,5 Mrd. Euro. Die öffentlichen Haushalte bzw. Arbeitgeber kamen für 14,8 Mrd. Euro bzw. 13,9 Mrd. Euro auf. Dabei zeigten sich in den letzten Jahren deutliche Verschiebungen zwischen den einzelnen Ausgabenträgern. Während die öffentlichen Haushalte im Jahr 1992 beispielsweise für rund 11,1 % der Gesundheitsausgaben aufkamen, waren es im Jahr 2014 nur noch 4,5 %. Die Soziale Pflegeversicherung hingegen kam 2014 für 7,7 % der Gesundheitsausgaben auf, 1995, im Jahr ihrer Einführung, waren es lediglich 2,8 %. Der Ausgabenanteil der gesetztlichen Krankenversicherung sank im gleichen Zeitraum von 61,9 % im Jahr 1992 auf 58,5 % im Jahr 2014. Diese Verschiebungen sind im Wesentlichen das Ergebnis zahlreicher gesundheitspolitischer Reformen sowie Umverteilungsmaßnahmen.
Die Ausgaben verteilten sich 2014 dabei wie folgt auf die einzelnen Leistungsarten: Der größte Ausgabenblock entfiel auf Waren (90,3 Mrd. Euro). Allein für Arzneimittel wurden 51,1 Mrd. Euro ausgegeben. Für ärztliche bzw. pflegerische Leistungen wurden 89,2 Mrd. bzw. 82,9 Mrd. Euro ausgegeben. Vergleichsweise gering hingegen sind die Ausgaben für Prävention und G.s-Schutz (11,5 Mrd. Euro) sowie Verwaltung (15,3 Mrd. Euro). Der größte Anstieg der Ausgaben in den vergangenen Jahrzehnten ist im Bereich der pflegerischen und therapeutischen Leistungen zu verzeichnen. Die Ausgaben in diesem Bereich stiegen von 1992 bis 2014 um 50,1 Mrd. Euro. Das entspr. einem Plus von 4,3 % pro Jahr. 1992 machten die Ausgaben für pflegerische bzw. therapeutische Leistungen lediglich 20,6 % der Gesamtausgaben aus, heute sind es 25,3 %. Zum Vergleich: Die Ausgaben für ärztliche Leistungen stiegen im gleichen Zeitraum um lediglich 3,1 % pro Jahr.
Bezogen auf die Einrichtungen wurde 2014 mit 163,5 Mrd. Euro (49,9 %) der größte Teil im Bereich der ambulanten Einrichtungen ausgegeben. Allein die Ausgaben für Arztpraxen und Apotheken summierten sich auf 95,0 Mrd. Euro. Mit 123,4 Mrd. Euro stellen die stationären und teilstationären Einrichtungen den zweitgrößten Kostenblock dar. Seit 1992 sind die Ausgaben im ambulanten Bereich um 105 % und im stationären Bereich um 112 % gestiegen. Insb. in der ambulanten und auch der stationären bzw. teilstationären Pflege waren dabei überdurchschnittliche Zuwachsraten zu verzeichnen. Der überdurchschnittliche Ausgabenanstieg (> 9 % pro Jahr) in diesem Bereich ist im Wesentlichen auf die Einführung der Pflegeversicherung sowie durch die demographische Entwicklung und die damit verbundene steigende Anzahl Pflegebedürftiger zu erklären.
1.2 Indirekte Kosten
Neben der Entstehung von direkten Kosten ist Krankheit oftmals auch mit erheblichen indirekten Kosten verbunden. Indirekte Kosten stellen gewissermaßen den Produktivitätsverlust dar, der einer Volkswirtschaft durch krankheitsbedingte Fehlzeiten, eine reduzierte Produktivität am Arbeitsplatz bzw. vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben durch Inanspruchnahme von Frühruhestandsregelungen oder Tod von Erwerbstätigen entstehen.
Schätzungen der BAuA zufolge führten krankheitsbedingte Fehlzeiten 2014 volkswirtschaftlich zu einem Produktionsverlust in Höhe von rund 57 Mrd. Euro bzw. einem Ausfall an Bruttowertschöpfung (Verlust an Arbeitsproduktivität) von 90 Mrd. Euro. Ein Großteil der Fehlzeiten ist dabei auf chronisch-degenerative Erkrankungen zurückzuführen, welche zudem zu den häufigsten Ursachen für einen vorzeitigen Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit zählen. Produktivitätsverluste entstehen aber auch, wenn Beschäftigte aufgrund gesundheitlicher Beschwerden in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt und damit weniger produktiv sind. Dieses gemeinhin als Präsentismus bezeichnete Phänomen ist international gut bekannt und untersucht. Die Produktivitätsverluste, die durch dieses Verhalten entstehen, sind enorm. Je nach Literatur werden die Kosten auf ebenso groß bzw. ein Vielfaches der Verluste beziffert, die Unternehmen bzw. der Gesellschaft durch das Fernbleiben vom Arbeitsplatz (Absentismus) entstehen.
1.3 Krankheitskosten
Für das Berichtsjahr 2008 (Krankheitskostenrechnung des StBA) wurden insgesamt Krankheitskosten in Höhe von 254 Mrd. Euro ausgewiesen. Mit insgesamt rund 37,0 Mrd. Euro stellten Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems den größten Kostenfaktor dar. Dicht gefolgt wurden diese von Krankheiten des Verdauungssystems (34,8 Mrd. Euro), psychischen und Verhaltensstörungen (28,7 Mrd. Euro) sowie Krankheiten des Muskel-Skelett-Apparats und des Bindegewebes (28,5 Mrd. Euro). Diese vier Diagnosegruppen machten 2008 zusammen etwa die Hälfte der Krankheitskosten aus. An fünfter Stelle folgten Neubildungen mit 18,1 Mrd. Euro. Dabei lassen sich z. T. deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen. Die größten Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigten sich bei den psychischen und Verhaltensstörungen, bei den Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes sowie bei Krankheiten des Urogenitalsystems. Im Allgemeinen entfallen auf Frauen höhere Krankheitskosten als auf Männer. Ein Großteil der Differenz ist dabei auf die höhere Lebenserwartung der Frauen und die damit verbundenen Mehrkosten im höheren Alter zurückzuführen. Auch Schwangerschaft und Geburt, geschlechtsspezifische Erkrankungen (z. B. Brustkrebs) und Pflegekosten spielen eine Rolle. Während Männer im Alter häufig von ihren Frauen gepflegt werden, übernimmt dies bei Frauen oft eine Pflegeeinrichtung, was zusätzliche Kosten verursacht. Rechnet man diese Kosten anteilig heraus, so sind bereits auf der Basis der genannten Daten kaum noch Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verzeichnen. Berücksichtigt man ferner, dass die Lebenserwartung der Männer im Vergleich zu der der Frauen in den letzten Jahren überproportional anstieg, so ist damit zu rechnen, dass die Krankheitskosten langfristig immer mehr konvergieren. Mit Ausnahme der Altersgruppe der 85Jährigen und Älteren, steigen die Krankheitskosten mit zunehmendem Alter. Die Reihenfolge der kostenintensivsten Krankheiten variiert dabei geringfügig je nach Altersklasse. In der Gruppe der über 85Jährigen bspw. fanden sich psychische und Verhaltensstörungen an erster Stelle. Auch in den Jahren 2002, 2004 und 2006 kristallisierten sich die genannten Diagnosegruppen als kostenintensivste Krankheiten heraus. In Zukunft sollte daher vermehrt in die Prävention dieser kostenintensiven Erkrankungen investiert werden.
2. Wertschöpfung
Die G.s-Ausgabenrechnung des StBA erlaubt eine detaillierte Analyse des Ausgabengeschehens inkl. dessen Entwicklung. Sie macht jedoch keinerlei Aussage zur Wertschöpfung, die durch diese Ausgaben erzeugt wird. Dies ist zentraler Inhalt der gesundheitswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Die G.s-Wirtschaft wird hier nicht als Kostenfaktor, sondern vielmehr als Wachstums- und Beschäftigungsmotor für die Gesamtwirtschaft gesehen. Im Mittelpunkt der Wertschöpfungsperspektive stehen die positiven Effekte der G.s-Wirtschaft auf die deutsche Volkswirtschaft. Im Gegensatz zur G.s-Ausgabenrechnung ist der G.s-Bereich hier umfassender definiert und beinhaltet bspw. auch Bereiche wie Sport und Ernährung, die zwar keinen direkten Bezug zur gesundheitlichen Versorgung, wohl aber zu G. im Allgemeinen haben. Auch das Preiskonzept, das der gesundheitsökonomischen Gesamtrechnung zugrunde liegt, ist ein anderes. Die beiden Rechenwerke sind daher nur bedingt vergleichbar.
2014 betrug die Bruttowertschöpfung 279 Mrd. Euro bzw. 11,1 % der Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft. Seit 2000 verzeichnete die Bruttowertschöpfung der G.s-Wirtschaft ein positives reales Wachstum von durchschnittlich 2,2 % pro Jahr. Die Bruttowertschöpfung der Gesamtwirtschaft ist im gleichen Zeitraum um lediglich 1,3 % pro Jahr angestiegen. V. a. aber sind die Entwicklungen stabiler. Dies zeigte sich letztmalig während der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009, in denen das Wachstum der G.s-Wirtschaft knapp 1 % betrug, während die Gesamtwirtschaft und insb. das verarbeitende Gewerbe einen deutlichen Einbruch hinnehmen musste. Die positive Entwicklung der G.s-Wirtschaft wirkte hier einer gesamtgesellschaftlichen Rezession entgegen. Die G.s-Wirtschaft gilt daher gemeinhin auch als Stabilisator in Krisenzeiten. Ferner hat die Bruttowertschöpfung der G.s-Wirtschaft auch anteilsmäßig zugenommen. Während sie 2000 nur 9,6 % der Gesamtwirtschaft ausmachte, waren es 2014 11,1 %.
Neben den positiven Effekten auf das Wachstum, gilt die G.s-Wirtschaft auch als Beschäftigungstreiber. 2014 waren 6,2 Mio. Menschen und damit jeder siebte Erwerbstätige in Deutschland in der G.s-Wirtschaft beschäftigt. Selbst in den Jahren während und nach der Wirtschafts- und Finanzkrise stieg die Anzahl der Beschäftigten in der G.s-Wirtschaft weiter an, was die stabilisierende Wirkung dieses Bereichs auf den Arbeitsmarkt unterstreicht. Die Prognosen deuten auch für die nächsten Jahre auf eine zunehmende Bedeutung der G.s-Wirtschaft für Wachstum und Beschäftigung hin.
3. Fazit
In Deutschland werden jährlich rund 300 Mrd. Euro und damit rund 10 % der Gesamtwirtschaftsleistung für G. ausgegeben. Damit zählen die G.s-Ausgaben zu den bedeutendsten Kostenfaktoren für unser Sozialsystem. Zugleich ist aber auch die stabilisierende Wirkung und enorme Bedeutung der G.s-Wirtschaft als Beschäftigungs- und Wachstumsmotor der deutschen Volkswirtschaft hervorzuheben. Zuletzt bleibt zu konstatieren, dass es sich bei den Ausgaben um Investitionen in das höchste Gut des Menschen handelt.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
N. Amler, O. Schöffski: Gesundheit, IV. Wirtschaftlich, Version 03.08.2024, 14:50 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Gesundheit (abgerufen: 23.11.2024)