Innovation
I. Sozialwissenschaftliche Perspektive
Abschnitt druckenI.en sind eine bes. Form sozialen Wandels: Sie sind nach Zeit, Umfang und Wirkungsgrad oberhalb von nur modischen Neuerungen, zyklischen Modellverbesserungen oder regelmäßigen Reformen und unterhalb von technologischen, industriellen oder politischen Revolutionen einzuordnen. Sie überschreiten die Grenzen wirtschaftlichen Wandels, kommerziellen Unternehmertums und profitorientierter Bewertung ihres Erfolgs; es kommen politische, soziale und kulturelle Entrepreneure und I.en auf allen Feldern der Gesellschaft ins Spiel sowie eine Vielfalt von Wertreferenzen, wie etwa Gewinn an Macht, Einfluss und Sicherheit in sozialen Netzwerken oder Ansehen auf kulturellem Gebiet.
Bei einer gesellschaftlichen I. handelt es sich um die mehr oder weniger absichtsvolle Erfindung, engagierte Entwicklung und massive Verbreitung andersartiger und als neu wahrgenommener Praktiken, Prozesse und Produkte, die in einer relevanten Hinsicht als besser eingeschätzt werden und die tradierten Spielregeln und institutionellen Strukturen auf einem Feld und über dieses hinaus auch andere Felder der Gesellschaft maßgeblich und nachhaltig verändern. Sie wird häufig von gestalterisch kreativen, von gewohnten Regeln abweichenden und risikobereiten Akteuren ausgelöst, von sozialen Unterstützungs-Netzwerken oder kulturellen Neuerungs-Bewegungen gegen anfängliche Widerstände etablierter Gruppen getragen und letzlich durch Konflikt und Kompromiss, mediale Kommunikation oder soziale Nachahmung machtvoll durchgesetzt. Nach William Fielding Ogburn, dem Pionier des Technology Assessment, entstehen durch solche technischen wie auch „sozialen Erfindungen“ (Ogburn 1969: 56) auf bestimmten Feldern Lücken und struktureller Anpassungsdruck auf hinter der gesellschaftlichen Entwicklung herhinkende Felder.
In der Sache lassen sie sich nicht auf rein technische Neuerungen (sach- und verfahrenstechnische) einengen, wie etwa Nanomaterialien, Gen-Scheren oder digitalisierte Datensteuerung; ebenso relevant sind die nicht-technischen (institutionelle, konzeptuelle und alltagspraktische Neuerungen), wie etwa das Reformwerk der Sozialversicherung, der Auktionshandel mit Verschmutzungsrechten (Emmissionshandel), die Umwertung ästhetischen Erlebens durch intermediale Mischungen der Künste (von der Oper bis zum Teilen von Musikvideoclips) oder die Kreation neuer Formen der Finanzierung und Kooperation (crowd sourcing; open space) sowie ökologischer Wohn-, Mobilitäts- und Ernährungsstile (smart city; urban gardening; ökologische/vegetarische Produkte). In der Regel werden mit technischen I.en zugleich neue soziale Praktiken und institutionelle Einbettungen entworfen, wie auch umgekehrt gesellschaftliche I.en neuartiger sachlicher Mittel und Medien bedürfen.
In ihrer Wertreferenz sind gesellschaftliche I.en nicht mehr auf rein ökonomische I.s- Kriterien (Gewinnsteigerung und Marktverbreitung) zu beschränken; in der neueren I.s-Forschung werden zunehmend nicht-ökonomische Referenzen zur Erklärung herangezogen. Für die Unternehmen gewinnen etwa eigene I.s-Fähigkeit, Netzwerkkompetenz, öffentliches Image (fairer Handel, soziale Verantwortung) und Diversity Management an Relevanz. Auf der Ebene der EU wurde eine I.s-Strategie definiert, die sich ausdrücklich auf „responsible, sustainable, and integrative“ (von Schomberg 2012: 39), also auf „Soziale Innovationen“ (Howaldt/Jakobsen 2010) bezieht, wie neue Formen politischer Beteiligung, der Selbsthilfe bei Gesundheits- und Pflegediensten, des Ehrenamts und der Bürgerpanels für die lokale Umsetzung politischer Ziele.
Gegenwärtig beobachten wir einen „Innnovationsimperativ“ und die „Ausdehnung der Innovationszone“ (Rammert u. a. 2016: 3): I.en werden (a) „überall“ gefordert, nicht nur in der Wirtschaftszone, sondern auf jedem Feld und mit vielfältigen Wertreferenzen. Sie sind (b) „aller Art“, bestehen nicht nur aus materiellen und technischen, sondern auch aus symbolischen und institutionellen Komponenten und deren Neu-Kombination. Sie geschehen (c) „jederzeit“, bei der Antizipation von Nutzungsszenarien in der Grundlagenforschung, der Risikofinanzierung von Geschäftsmodellen und der politischen Infrastrukturförderung für die Verbreitung. Sie werden (d) „verteilt“ auf wirtschaftliche, wissenschaftliche und politische Akteure in heterogenen I.s-Netzwerken (Elektromobilität; Industrie 4.0) koordiniert. Dabei verhalten sich alle Beteiligten zunehmend (e) „reflexiv“, indem sie sich auf die jeweils zu erwartenden Handlungsbeiträge und Wertreferenzen der Anderen einstellen. Mit der Verallgemeinerung dieses reflexiven I.s-Regimes zeichnen sich die Konturen einer „Innovationsgesellschaft“ (Rammert u. a. 2016) ab, bei der es um die Erneuerungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft und ihrer vielfältigen Felder geht.
Literatur
W. Rammert: Technik und Innovation; in: A. Maurer (Hg.): Handbuch der Wirtschaftssoziologie, 2016, 415–441 • W. Rammert u. a.: Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, 2016 • C. Schubert: Technik, Politik und Gesellschaft: Ogburn, Mumford, Winner und Hughes; in: D. Lengersdorf/M. Wieser (Hg.): Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, 2016, 85–95 • European Commission (Hg.): Responsible Research and Innovation, 2012 • R. von Schomberg: Prospects for technology assessment in a framework of responsible research and innovation, in: M. Dusseldorp/R. Beecroft (Hg.): Technikfolgen abschätzen lehren, 2012, 39–61 • J. Howaldt/H. Jacobsen: Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, 2010 • H. Braun-Thürmann, Innovation, 2005 • W. F. Ogburn: Kultur und sozialer Wandel, 1969.
Empfohlene Zitierweise
W. Rammert: Innovation, I. Sozialwissenschaftliche Perspektive, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Innovation (abgerufen: 22.11.2024)
II. Wirtschaftswissenschaftliche Perspektive
Abschnitt druckenI.en sind Kinder des Wettbewerbs. Im Marktwettbewerbsprozess sind die innovativen „Verbesserungen“ bzw. „Neuheiten“ entscheidend, um Nachfrage zu halten bzw. auszuweiten. I.en sind erst einmal – im klassischen Verständnis – Produktverbesserungen (Variation) und Produktneuheiten. Joseph Alois Schumpeter war der erste, der die I.en als primäre Leistung der Unternehmer hervorhob. Er unterschied zwischen Inventionen (Erfindungen) und I.en. Die Invention oder Novation – die technische und die Design-Dimension – ist ökonomisch unerheblich, wenn sie nicht in Produktion und Verkauf gebracht wird. Erst das unternehmerische Wagnis, etwas Neues in den Markt zu bringen, weil man sich davon Umsatz und Profit verspricht, ist die I. im eigentlichen Sinne. Der Unternehmer (bzw. das Management) erweist sich als ein riskanter Akteur, der etwas, was noch niemand kennt und dessen Nachfrage ungewiss ist, mit Nachdruck und Überzeugung entwickeln und produzieren lässt. Er muss erstens davon selber überzeugt sein, zweitens Andere überzeugen (die Banker, die den Kredit geben, die Mitarbeiter, die Stakeholder, die Aufsichtsräte etc.) und letztlich und entscheidend die potentiellen Kunden.
Zuerst ist die Erfindung/Invention eine Idee, die vom Unternehmer/Manager als attraktive Erzählung aufgenommen wird, um andere zu überzeugen. Die I., als Prozess der Transformation der Invention in ein verkaufsfähige Produkte, ist wesentlich eine kommunikative, performative und persuasive Leistung der Führung des Unternehmens, die natürlich nach verschiedenen Verfahren geprüft, berechnet, auf Trendfähigkeit eingeschätzt und von Beratern analysiert wird. Sie bleibt solange aber eine bloße, wenngleich starke Fiktion, bis sich die Bewährung im Markt einstellt: der return on investment. Die Misserfolgsquote bei Konsumgüter-I.en liegt zwischen 35 und 60 %, bei Industriegütern zwischen 25 und 40 %.
Selbst wenn sie bereits hochwertige Produkte anbieten, sind die Unternehmen im Wettbewerb genötigt, ständig innovativ über neue Produkte bzw. Variationen nachzudenken und sie in Vertrieb zu bringen. Denn andere können sonst eher reüssieren als man selber. Was J. A. Schumpeter früher als „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter 1980: 138) beschreibt, ist heute mit dem Begriff der disruption zu fassen. Disruption heißt, die eigene – durchaus auch die positive – Entwicklung der Firma in Frage zu stellen, bevor es andere tun. Je volatiler und wettbewerbsintensiver die Märkte werden, desto eher ist es angebracht, das eigene Programm selbst dann in Frage zu stellen, wenn es gerade noch gut läuft. Einige Firmen lagern eine eigene unit aus, die ein neues Programm entwirft, unabhängig vom laufenden Unternehmensprozess. D. i. insb. in den digitalen Märkten auffällig. Wir haben es inzwischen mit Entwicklungen zu tun, in denen branchenfremde Firmen I.en lancieren, die die Branche nicht erwarten konnte. Es geht nicht mehr nur um technische oder Produkt-I.en, sondern um intelligente Geschäftsmodelle.
Der Prozess der Einschätzung neuer Märkte ist vielfältig zu gestalten. Es geht nicht nur um I.en, sondern um die strategische Transformation der eigenen Unternehmung: wieweit ist sie in der Lage, innovative Trends und Potentiale nicht nur einzuschätzen, sondern auch umzusetzen? Inwieweit ist die Firma selber transformations- und realisationsfähig? Diese „I. der ganzen Firma“ läuft auf ihre strategische Neuausrichtung hinaus, auf ihren schnellen organisational change.
Das hat Auswirkungen auf die Organisation der Organisation (organisational change): Wie werden die eigenen I.s-Potentiale genutzt? Welche Impulse können die Mitarbeiter, die oft hohe Kompetenzen haben, eintragen? Welche Restriktionen und mentalen Barrieren müssen behoben werden, um ständig I.s- und entspr.e Umsetzungsprozesse eingehen zu können? Dazu sind nicht nur eigene Kompetenzen und spezifische Branchenkenntnisse nötig, sondern Einschätzungen der Konsumänderungen: strategic foresight. Ohne Wissen und Einschätzungen aus dem gesellschaftlichen Bereich (aus der Semiosphäre, den Zeichen, Bedeutungen, Trends, Kommunikationen in der Gesellschaft) kann man Kundenwünsche nicht erreichen.
In der zunehmenden Dynamik volatilerer Märkte bilden sich start-up-Avantgarden aus, deren I.s-Energie Konzerne z. B. nicht ohne weiteres aufbringen (weshalb sie die start-ups kaufen müssen, statt eigener Innovativität (I.s-Kauf by merger). I. wird zu einem zentralen Modus unternehmerischer Bewegung. Die anlaufende Digitalisierung der Wirtschaft entwickelt völlig neue Mustererkennungssysteme (Big Data-economics), die die I.en in personalisierte Varietäten treiben. Wir gehen in eine neue Marktkultur, die nicht nur die modischen Brüche forciert, sondern die I.s-Schübe an kreative Muster koppelt, die zunehmend individuelle Angebotsvariationen bescheren und die über die System-I.en der Industrie 4.0 leistbar werden (mass customization). Die I.s-Frequenz erhöht sich.
Literatur
C. M. Christensen/F. von den Eichen: The Innovators Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, 2015 • F. Liebl/T. Füllo: Strategie als Kultivierung, 2015 • B. P. Priddat: Economics of Persuasion. Ökonomie zwischen Markt, Kommunikation und Überredung, 2015 • D. Vahs/A. Brem: Innovationsmanagement: Von der Idee zur erfolgreichen Vermarktung, 2015 • B. P. Priddat: Homo Dyctos. Netze, Menschen, Märkte. Über das neue Ich: market-generated identities, 2014 • P. Thiel: Zero to One: Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet, 2014 • B. von Stamm/A. Trifilova: The Future of Innovation, 2009 • L. Immerthal: Der Unternehmer. Zum Wandel von Ethos und Strategie des Unternehmertums im Ausgang der Moderne, 2007 • O. Gassmann/E. Enkel: Open Innovation: Externe Hebeleffekte in der Innovation erzielen, in: zfo 75/3 (2006), 132–138 • J. A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1980.
Empfohlene Zitierweise
B. P. Priddat: Innovation, II. Wirtschaftswissenschaftliche Perspektive, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Innovation (abgerufen: 22.11.2024)
III. Rechtswissenschaftliche Perspektive
Abschnitt drucken1. Innovation als Teil gesellschaftlicher Veränderungsdynamik
I. ist positiv besetzt. So gibt die Europäische Kommission auf ihrer Website als Ziel eine „Innovation Union“ aus. Diese „is the strategy to create an innovation-friendly environment to make it easier for great ideas to be turned into products and services that will bring our economy growth and jobs“. Im Forschungsrahmenprogramm „Horizon 2020“ (VO [EU] 1291/2013) wird daher auch auf Forschung und I. abgestellt und der I.s-Begriff auf gesellschaftliche Herausforderungen erweitert (vgl. Art. 5 Abs. 1, 2 VO [EU] 1291/203). In der Tat wird die Zukunftsfähigkeit der modernen Gesellschaft über deren I.s-Fähigkeit beschrieben und I.s-Initiativen bestimmen nicht selten die politische Agenda.
2. Gegenstand und Perspektive
Rechtswissenschaftliche I.s-Forschung ist als zusammenhängender wissenschaftlicher Diskurs nach wie vor eher schwach ausgebildet, auch wenn es seit Jahrzehnten beständig vorangetriebene Versuche gibt, sie zu forcieren und durch Schriftenreihen und Zeitschriften auch institutionell abzusichern. Mit dem Akzent auf Wandel und Beharrung wird letztlich ein Themenfeld erheblicher Breite eröffnet, das Herausforderungen an theoretischer Durchdringung stellt. Dies gilt, wenn man I. auf gesellschaftliche Änderungen im weitesten Sinne, und noch mehr, wenn man sie auf das Recht bezieht. Stets geht es letztlich um Veränderung. Diese ist zwar nicht objektiv bestimmbar, aber ubiquitär. Die rechtswissenschaftliche I.s-Forschung bezieht sich auf I. als solche, wodurch ein weiterer Gegenstandsbereich eröffnet wird. Die Vielfalt der dann einzubeziehenden Phänomene macht einen theoretischen Ansatz nicht einfacher. Eingrenzungen erfolgen durch sekundäre Kriterien wie „neuartig“ und „signifikant“ oder durch den Verweis auf das I.s-Verständnis anderer Wissenschaften. Dem Problem als solchem entgeht man dadurch nicht. Nicht verwunderlich, dass eine Vielzahl von Themen und Fragestellungen auch von anderen Ansätzen aus zu beobachten sind, die andere Leitdifferenzen verwenden.
Das Recht ist eng mit dem Prozess der Gestaltung und Diffusion signifikanter Neuerungen befasst. Im Vordergrund steht dabei v. a. sein Verhältnis zu gesellschaftlichen, d. h. sozialen, ökonomischen, technischen, wissenschaftlichen und kulturellen I.en anhand von Leitgesichtspunkten zu deren Förderung, Abstützung, Eingehung und Begrenzung. Die lange beobachtbare Konzentration auf technologische I.en ist vorüber. In einer Gesellschaft, die Zukunftsfähigkeit als I.s-Fähigkeit beschreibt, ist das ebenso wenig verwunderlich, wie Fragen an das Recht hinsichtlich seiner Fähigkeit, I.en zu begleiten. Die zumal im öffentlichen Recht über lange Zeit beförderte Debatte über entspr.e Steuerungswirkungen und Wirkungsorientierungen ist ungeachtet theoretischer Schwierigkeiten dafür durchaus fruchtbar. Selbstreflexive Rechtswissenschaft wird auch die Frage nach I.en im Recht aufwerfen. Beide Dimensionen sind nicht unabhängig voneinander: Gesellschaftliche stoßen I.en im Recht an, rechtsinterne Entwicklungen können zu gesellschaftlichen I.en führen.
3. Netzwerke der Innovation und Regelungsstrukturen
Liegt der Schwerpunkt der Fragestellung in den im weitesten Sinne gesellschaftlichen I.en und bezieht sich das Interesse rechtswissenschaftlicher I.s-Forschung auf eben diese wissenschaftlichen und technologischen Prozesse, dann muss das I.s-Geschehen die Fragestellung leiten. Insoweit sind das Netzwerk der Akteure (das keineswegs national begrenzt sein muss) und das System sowie die jeweils hoch arbeitsteiligen, teils kooperativen, teils kompetitiven Prozesse Gegenstand. Rechtswissenschaftliche Forschung ist nicht auf singuläre Punkte des I.s-Geschehens zu fokussieren, sondern hat die jeweils unterschiedlich komplexe sektorale, regionale, nationale, europäische oder internationale Regelungsstruktur zum Gegenstand. Ebenso kann der Netzwerkbegriff zu einem wichtigen Grundbegriff werden. Die Komplexität des I.s-Geschehens teilt sich dem Regelungsrahmen mit und verlangt eine angemessen abstrakte Form der Analyse.
4. Interdisziplinarität des Zugriffs
Schon dies erhellt, dass das Verhältnis von I. und Recht nur interdisziplinär zu beschreiben ist und rechtswissenschaftliche I.s-Forschung zu erheblichen Teilen interdisziplinär gedacht werden muss. Dies ist kein einfacher Rezeptionsvorgang, bei dem man sich ohne weiteres auf die Beschreibungen anderer Wissenschaften stützen könnte. Vielmehr trifft das Recht immer schon auf Beschreibungen anderer Wissenschaften, die es nach seinen eigenen Kriterien integrieren muss. Ein einfach handhabbarer I.s-Begriff lässt sich daher mit Referenz auf rechtsexterne Faktoren auch nicht gewinnen. Jedenfalls aber setzt die Referenz auf die rechtlichen Rahmenbedingungen des I.s-Geschehens voraus, dass disziplinübergreifende Zusammenhänge (diskursiver und projektbezogener Art) ausgebildet werden, auf die sich rechtswissenschaftliche Analysen stützen können und die zugl. die rechtlichen Aspekte in die disziplinübergreifenden Zusammenhänge vermitteln. Von Seiten der I.s-Forschung anderer Disziplinen wird allerdings wenig oder gar nicht auf das Recht eingegangen; wenn doch, wird es offenkundig zumeist als Hemmnis der Entwicklung und als Bürokratiebeschleuniger wahrgenommen. Das sagt freilich mehr über die dortige Befassung mit dem Recht aus als über dieses selbst – theoretisch wie praktisch. Z. B. sind die Grundrechte ja gerade wichtige Garanten (jedenfalls wenn sie mit einer wirksamen Verfassungsgerichtsbarkeit verbunden sind) individueller und kollektiver I. und nicht etwa Entwicklungshemmnisse. Im Übrigen sind rechtliche Abstützung von I.en und Bewältigung ihrer sozialen Folgen auch für den Erfolg des I.s-Prozesses und der Erwartungssicherheit der Innovatoren von erheblicher Bedeutung.
5. Die Ambivalenz von Innovationen
I.en sind ambivalent, ihre Wirkung kann im Zeitablauf schwanken. Selten ist sie umfassend absehbar. Schwierigkeiten erhöhen sich insofern, als I.en regelmäßig in eine durch mehrere Ziele und insb. verfassungsrechtliche Positionen gekennzeichnete Rechtsordnung eingepasst werden müssen. Einerseits vergrößert dies die Unsicherheit der Bewertung, anderseits gibt es Anlass zur Konstruktion von allerlei Zukunftsszenarien, die entweder utopisch oder dystopisch sind. Beides muss der gesellschaftlichen Akzeptanz von I.en nicht förderlich sein, wie etwa neuere Entwicklungen der grünen Gentechnik oder der Nanotechnologie zeigen. Das Konzept der I.s-Forschung reagiert hierauf mit den Begriffen der I.s-Offenheit und der I.s-Verantwortung, sowie dem Zusammenspiel beider. Der Sache nach geht es darum, I.en in ihren Wirkungen, soweit sie analysiert werden können, an den normativen Werten der Gesellschaft zu messen und positive wie negative Aspekte zu bewerten. Dies kann nicht im Sinne einfacher Alternativen, sondern muss i. S. v. Förderung, Einbettung und Einhegung gedacht werden. Die Ungewissheit der Wirkungen ist nicht hintergehbar und kann nicht durch illusorische Vorstellungen der Bindung von Ungewissheit durch mehr Wissen aufgehoben werden. Die I.s-Offenheit repräsentiert dabei die positive Variante, die letztlich strukturell schon in den Grundrechtsgarantien und der durch sie repräsentierten Eigenlogik und dezentralen Wissensordnung zum Ausdruck kommt, die es den Individuen und Organisationen nach Maßgabe der eigenen Vorstellungen erlaubt, I.en zu generieren und zu nutzen. Insoweit verweist der Begriff der I.s-Offenheit auf das Potential und die Chancen der Neuerungen, jedenfalls auf ihre Tolerierung im Verständnis eines verantwortbaren Freiheitsgebrauchs (Freiheit). Der Begriff der I.s-Verantwortung fokussiert die möglichen negativen Wirkungen und Beeinträchtigungen, die Entwertung vorhandener Positionen, also die Einhegung unerwünschter Nebenfolgen, ggf. aber auch die Inhibierung von I.en. Sie kann in ganz unterschiedlichen Dimensionen aktualisiert werden und in ganz unterschiedlichen Phasen der I. ansetzen.
6. Ungewissheit als zentrales Element
Rechtswissenschaftliche I.s-Forschung richtet sich auf Ungewissheit, wiederum nicht einfach als Ungewissheitsvermeidungsrecht, sondern zugl. darauf, Ungewissheit als Chance zu sehen. Hier liegt im Themenkomplex Recht-Wissen-Nichtwissen der Schnittpunkt zum Risikorecht, das der Einbettung riskanter Technologien in die Gesellschaft dient. Die (rechtliche) Perspektive kann nicht darin liegen, durch weitere Forschung und Entwicklung Ungewissheit zu entgehen. Die moderne Wissenschaft, zumal in ihrer rekursiven Verschleifung mit Technologie, produziert mit jedem Wissenszuwachs zugl. immer auch einen breiten Schatten des Nichtwissens. Unverkennbar geht es vielfach um „unknown unknowns“, in denen nicht klare Entwicklungsszenarien zu beobachten sind, sondern mit der Selbstmodifikation der Technologien im Prozess ihrer Entwicklung zu rechnen ist. Umso schwieriger sind geeignete Strategien der Einbettung zu entwickeln, die jedenfalls nicht auf eine einfache Version des Vorsorgeprinzips gestützt werden können. Dieses wird vielmehr selbst riskant und muss entspr. komplexer gefasst werden. Versucht wird allerdings, es gegenüber neuen Experimenten und Technologien in sog.en starken Varianten zur Anwendung zu bringen, die letztlich auf mehr oder weniger undifferenzierte Bindungen hinauslaufen, ohne die eigenen Wissensgrenzen im Blick zu behalten.
Zudem wird hier – leicht zu zeigen am Beispiel der Wissenschaftsfreiheit – durch eine Ethisierung des Grundrechtsgebrauchs jenseits der mit Einschränkungen von Grundrechten verbundenen Rechtfertigungsnotwendigkeiten eine retardierende gesellschaftliche Praxis sichtbar. Dies überzieht die Leistungsgrenzen der Ethik, die in institutionalisierten Ethisierungsdiskursen nicht zureichend reflektiert werden.
Der Paradoxie der Beeinflussung des Nichtbekannten durch Recht lässt sich nur begegnen durch ein in der Zeit operierendes Recht, das sich der Veränderung der Wissensgrundlagen beständig versichert, flexibel und lernfähig ist und institutionell auf die Beobachtung seiner eigenen Entscheidungen und Prämissen für die Entscheidungen anderer ausgelegt wird. Dies erfordert vielfältige institutionelle und prozedurale Formen der laufenden Wissensgenerierung und Institutionalisierung von Wissensinfrastrukturen.
7. Anwendungsfelder
Die jeweils neuesten Felder wissenschaftlicher und technologischer I.en werden die künftigen Exerzierfelder rechtswissenschaftlicher I.s-Forschung sein: etwa Big Data-Anwendungen, algorithmisierte Wissensgenerierung, Formen oder Anwendungen künstlicher Intelligenz, um nur einige der Beispiele zu nennen. In ihnen werden jetzt schon reflexhafte Abwehrstrategien erkennbar, etwa in Form der Ausweitung des Datenschutzrechts (Datenschutz), der Erstreckung bekannter medienrechtlicher Regulierung auf in ihren Konturen noch wenig erkennbare Kommunikationsformen. Im Übrigen finden sich im Kartell- und Regulierungsrecht, Umweltrecht, insb. Chemikalienrecht, Informations- und Kommunikationsrecht, geistigem Eigentum (Immaterialgüterrecht); Gesundheitsrecht und Wissenschaftsrecht Beispiele für Anwendungsfelder.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
H.-H. Trute: Innovation, III. Rechtswissenschaftliche Perspektive, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Innovation (abgerufen: 22.11.2024)