Gesellschaftsvertrag

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Der sozialphilosophische Begriff des G.es ist dem Spektrum der Vertragstheorien zuzuordnen und lässt sich von Staats- und Herrschaftsverträgen sowie der rationalen Rechtfertigung moralischer Grundsätze unterscheiden, obwohl der Sprachgebrauch hier nur unpräzise differenziert. Weitgehend analog zum G. wird das Konzept des Sozialkontrakts bzw. des social contract verwendet. Inhaltlich befassen sich einschlägige Ansätze mit der Grundfrage politischer Legitimität, womit die Basis für Gerechtigkeit sowie – im fließenden Übergang zur Vertragstheorie allg. – die Autorisierung von Gesetzen und Entscheidungsträgern angesprochen sind.

1. Ideengeschichtliche Anfänge

Die Idee der Vergesellschaftung wurde schon in der Antike mit dem Vertragsgedanken verknüpft. Bezeugt wird z. B. in Xenophons Memorabilien, wie der Sophist Hippias im 5. Jh. v. Chr. die positiven Gesetze als schriftliche Übereinkünfte der Polisbürger deutete, was im Gemeinwesen erlaubt und verboten sei. Bei Hippias wie auch in Antiphons Frag. über die Wahrheit, bei Protagoras oder Lykophron, den die aristotelische „Politik“ (1280b 8–12) erwähnt, wird diesbezüglich der Gegensatz zwischen dem göttlichen Naturrecht sowie dem für ein konkretes Gemeinwesen nach dem Prinzip der Nützlichkeit von Menschen gesetzten Recht qua vertraglicher Abmachung betont. Die Begriffe Recht und Gerechtigkeit werden hier nahezu synonym verwendet. Die sophistische Entmystifizierung und Relativierung des Gesetzes (nomos) thematisiert ebenso Platons „Politeia“ (358–359). Diese antizipiert – im Kontrast zur eigenen Ideenlehre – die epikureische Idee des Vertrages, wonach das einsichtige Ziel der Gewaltvermeidung eine soziale Konvention erfordert, die das Begehen von Unrecht unter Strafe stellt und das Erleiden von Unrecht verhindert. Jene historische Verortung von Recht und Gerechtigkeit als Vertrag argumentiert nicht nur zugunsten einer demokratischen Gesetzgebungslogik, sondern stellt durch den Fokus auf den rationalen Vorteil des Einzelnen auch ein metaphysisches Fundament des Gemeinwesens in Frage. Damit weist die antike Idee des Sozialkontrakts auf die Prämissen der bürgerlichen Gesellschaft der Moderne voraus.

2. Hochphase in der Neuzeit

Während im Mittelalter die Figur des Herrschaftsvertrages dominiert, den Volk und Fürsten eingehen, um ein reziprokes Vertrauensverhältnis zu konstituieren, wird die Idee des G.es in der frühen Neuzeit zunächst v. a. von Johannes Althusius aufgegriffen. Er verbindet die Machtbegrenzung durch Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip (Subsidiarität) mit einem gestuften Aufbau des Staates von unten nach oben. Die konsozial gebildete Gesellschaft (consociatio), verstanden als organischer Volkskörper, der Familien und Stände integriert, avanciert so zur Inhaberin einer eigenen Form der (dualen) Souveränität. Die Vertragspartner, die sich zur politischen Entität zusammenschließen, sind hier indes noch nicht Individuen, sondern Städte, Gemeinden und Provinzen.

Die Anklänge der (korporatistischen) Volkssouveränität bei J. Althusius, die sich gegen Jean Bodins absolutistische Souveränitätsidee richtet, wurden später bei John Locke fortgesetzt und von Jean-Jacques Rousseau zur systematischen Theorie des G.es erweitert, die ihren Antipoden in Thomas Hobbes fand. Schon bei J. Locke ist die Distanz zum „Leviathan“ (Hobbes 1651) entscheidend, spricht der „Second Treatise“ (Locke 1690) doch explizit von der Gründung einer politischen Gesellschaft (political society), die Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip fällt und die legislative und exekutive Gewalt nur unter Vorbehalt einer Regierung anvertraut. In T. Hobbes monistischer Theorie (Monismus) hatte hingegen der Herrschaftsvertrag den G. absorbiert, indem die Menge der Individuen nur qua Repräsentation durch den Souverän eine handlungsfähige Rechtsperson bilden und eine der Herrschaft vorgeschaltete, basisdemokratische Gründung der Gesellschaft – wie sie etwa Baruch de Spinozas, Samuel von Pufendorfs oder Johann Gottlieb Fichtes Zweistufentheorie vorsah – entfällt. In J-J. Rousseaus „Contrat social“ (1762) geht dann spiegelbildlich zu T. Hobbes der Herrschaftsvertrag im G. auf, indem die Individuen durch ihre Selbstveräußerung als Kollektiv zu Inhabern der unteilbaren und unveräußerlichen Souveränität, als Subjekte zu Bürgern und als Objekte der Gesetze zu Untertanen werden (Rousseau 1762: I 6). Als Mixtur der Prämissen von T. Hobbes und J.-J. Rousseau, den (Gesellschafts-)Vertrag jedoch von der Aufgabe der Begründung des staatlichen Gemeinwesens entlastend, präsentiert sich schließlich der Sozialkontrakt bei Immanuel Kant. In dessen zentralen politiktheoretischen Schriften – „Gemeinspruch“ (1793) und „Metaphysik der Sitten“ (1797) – fungiert der Vertrag als normative Richtschnur für die Gesetze.

Im Ganzen spiegelt die Konjunktur des G.es in der Neuzeit die in Europa voranschreitenden Säkularisierungs- und Demokratisierungsprozesse (Säkularisierung, Demokratisierung) wider, in deren Gefolge der Gedanke eines rational handelnden, autonomen Individuums als Motor der Vergesellschaftung und Referenzpunkt des Politischen sich erst entfalten konnte. Strittig blieb, ob es sich beim G. um ein rein hypothetisches Konstrukt (T. Hobbes, B. de Spinoza, J.-J. Rousseau, I. Kant u. a.) oder um eine Faktizität handelte, worauf v. a. Sidney Algernons „Discourses concerning Government“ (1698) pochten und was sein Zeitgenosse J. Locke immerhin andeutete. Der Einfluss der Letztgenannten auf die amerikanische Revolution 1776 dürfte daher ihrer Konkretisierung des G.es als reale Verfassungswirklichkeit geschuldet sein und initiierte in den USA – wie Hannah Arendts „On Revolution“ (1963) unterstrich – ein völlig neuartiges Vertragsdenken.

3. Weitere Entwicklungen und aktuelle Bedeutung

Nachdem der G. – unter Einfluss des v. a. von David Hume und Georg Wilhelm Friedrich Hegel lancierten Vorwurfs eines ahistorischen Zugangs – im 19. Jh. massiv an Bedeutung sowie bes. seinen universalen Anspruch verlor, erlebte er in Form der neokantischen Variante von John Rawls ab den 1970er Jahren eine Renaissance. J. Rawls’ kontraktualistische Idee politischer und sozialer Gerechtigkeit im Staat löste eine intensive Debatte aus, in der die Kommunitaristen (z. B. Michael J. Sandel, Charles Taylor; Kommunitarismus) Kritik an einem reanimierten Atomismus übten, während neoliberalen und libertären Denkern (z. B. James Buchanan, Robert Nozick) die von J. Rawls’ „Theory of Justice“ in Aussicht gestellte Redistribution von Gütern zu weit ging. Kritisiert wurde zudem die generelle Vernachlässigung der Geschlechtergerechtigkeit in der Tradition des Sozialkontrakts. Im Schatten des Siegeszugs des Neoliberalismus und des Drucks der Globalisierung auf national organisierte Sozialstaaten wurden bis heute Forderungen nach einem neuen G. (englisch: New Deal) laut. Diese betonen die Notwendigkeit, die politische Legitimität kollektiv verbindlicher Entscheidungen neu zu verhandeln und neben der Regulierung des Marktes auch ökologische und demographische Herausforderungen (Stichwort: Generationenvertrag) ins Visier zu nehmen. Allerdings wurden ebenso Zweifel geäußert, die seit J.-J. Rousseau bekannt sind, nämlich, dass die Logik des Vertrages den Imperativen der bürgerlichen Gesellschaft zu sehr unterliegt, als dass von dort Ressourcen des sozialen Zusammenhalts zu erwarten wären.