Islam

1. Begriff und Verbreitung

Mit aktuell rund 1,7 Mrd. Muslimen ist der I. gegenwärtig weltweit die zweitgrößte Religion nach dem Christentum. Die Mehrheit der Muslime lebt in Indonesien, Pakistan, Indien, Bangladesch, Ägypten, Nigeria, Iran und der Türkei. In zahlreichen anderen Ländern bilden die Muslime wachsende religiöse Minderheiten. Die Gesamtheit der Muslime bezeichnet sich selbst als Umma. Im Koran ist das Wort i. S. v. „Gemeinde, Gemeinschaft“ belegt; im modernen arabischen Sprachgebrauch bedeutet es auch „Nation“. Neben der Einheit im Glauben werden die Muslime dadurch vereint, dass für sie Arabisch, als Sprache des Korans, zentrale Bedeutung im rituellen Gebet besitzt. Aufgrund der Diversität der Kontexte, in denen sich der I. von Beginn an entfaltet hat, kann er kaum als ein monolithisches Gebilde aufgefasst werden. Vielmehr weisen die muslimisch geprägten Gesellschaften eine große Vielfalt auf.

Das arabische Wort islām bedeutet „Ergebung, Unterwerfung“. Auf Gott bezogen bedeutet islām die völlige Hingabe des Gläubigen, einen Zustand uneingeschränkter Ergebenheit Gott gegenüber. In diesem Sinne kommt das Wort mehrfach in verschiedenen Formen im Koran vor (als Substantiv etwa in Sure 6:125, aber auch z. B. als Verb in Sure 2:131). Erst in späteren Suren kristallisiert sich die Bedeutung von islām als der von Muhammad verkündeten Religion heraus (wie bspw. in Sure 5:3: „Heute habe ich euch eure Religion vollständig gemacht und meine Gnade an euch vollendet und habe daran Gefallen, dass der Islam eure Religion ist.“).

2. Die heiligen Texte des Islam: Koran und Sunna

Der Koran (arabisch: qurʾān) ist die Heilige Schrift des I.s. Als Offenbarungswerk aufgefasst, ist er das theologische Fundament dieser Religion und seit seiner Entstehung von zentraler Bedeutung für theologische, philosophische und mystische Überlegungen. Um ihn herum hat sich schon seit dem 8. Jh. eine umfangreiche exegetische Literatur entwickelt. Außerdem bildet er die wichtigste Grundlage des islamischen Rechts. Die Entstehung und Weiterentwicklung der arabischen Philologie ist ebenfalls mit der Rezeption seines Textes eng verflochten. Die Koranlesung stellt einen wichtigen Bestandteil des islamischen Gebets in individueller und gemeinschaftlicher Form dar. Als Gegenstand melodischer Rezitation oder kreativer Kalligraphie präsentiert sich der Koran zudem als Objekt ästhetischer Wahrnehmung des Göttlichen. Seit seiner Entstehung zieht sich die Wirkung des Korans wie ein roter Faden durch die islamische Religion und die arabische Sprache unvermindert konservativ hindurch.

Der Koran besteht aus 114 Suren (arabisch, Singular: sūra; Passage, Abschnitt), die nach gängiger Zählung 6 236 Verse (arabisch, Singular: āya; im doppelten Sinne von Vers und Zeichen) umfassen. Das Ende eines Koranverses wird mit einem Endreim markiert. Abgesehen von der Eröffnungssure al-Fātiḥa und den letzten zwei Suren sind die Koransuren, bis auf einige Ausnahmen, im Standardkodex absteigend nach Länge geordnet. Die zweite Sure ist die mit Abstand längste.

Das Wort qurʾān ist mit großer Wahrscheinlichkeit syrisch-aramäischer Herkunft und bedeutet, wie im Koran selbst belegt, urspr. „Rezitation, Vorlesung“ sowohl i. S. d. Performanz (z. B. Sure 75:17–18), des vorgelesenen Abschnitts (Sure 84:21) oder der Summe rezitierter Passagen (Sure 17:82). Erst im späteren Verlauf der Verkündigung beansprucht der Koran, ein für die Araber herabgesandtes Buch zu sein und reiht sich somit unter Thora, Psalter und Evangelium ein (z. B. Sure 3:3–4). Eigentlich lässt sich der arabische Charakter des Korans (siehe z. B. Sure 12:2, 41:3) nicht nur auf die Sprache beschränken; vieles von dem, was in diesem Buch steht, kann nur unter Berücksichtigung seines arabischen Entstehungskontexts richtig verstanden werden.

Die Ursprünge des I.s liegen auf der arabischen Halbinsel. Der islamischen Tradition zufolge begann Muhammad um das Jahr 610 n. Chr. in seiner Geburtsstadt Mekka Offenbarungen zu empfangen und zu verkünden. Er und die kleine Gemeinschaft seiner frühen Anhänger mussten im Jahre 622 n. Chr. in die Stadt Yaṯrib auswandern. Dieses als al-hiǧra (Auswanderung) bekannte Ereignis ist gleichzeitig der Beginn der später festgesetzten islamischen Zeitrechnung. In seiner neuen Wirkungsstätte, in Medina (urspr.: Madīnat an-nabī; Stadt des Propheten) umbenannt, betrat Muhammad die Weltbühne nicht nur als Prophet, sondern auch als Oberhaupt der Gemeinde und Heerführer.

Im Gegensatz zu der bis in die jüngste Vergangenheit hinein vertretenen Behauptung, der Koran sei in einem kulturell leeren Raum verkündet worden, bestätigen neuere Forschungen, dass sich die koranische Verkündigung in einem religions- und ideengeschichtlich komplexen Kontext ereignete. Im spätantiken Arabien, im unmittelbaren Umfeld des Korans, existierten nicht nur heidnische, sondern auch jüdische und christliche Gemeinschaften mit jeweils heterogenen Glaubensinhalten. So vermitteln islamische, allen voran der Koran selbst, sowie außerislamische Quellen Erkenntnisse über das Pantheon der polytheistischen Araber vor dem I. (al-mušrikūn). Zumindest ein Teil von ihnen glaubte an Gott (arabisch: Allāh), aber als eine unter vielen Gottheiten. Jüdische Stämme (Judentum) besiedelten Medina. Das Christentum war vor dem I. bereits unter den Arabern verbreitet. Man darf ferner nicht außer Acht lassen, dass die arabische Halbinsel im 7. Jh. an zwei christliche Staaten, das oströmische Reich im Norden und das äthiopische Reich von Aksum im Süden, grenzte. Hinzu kommt der starke nestorianische Einfluss im persischen Reich. Die hellenistische Prägung im Mittelmeerraum lässt sich schließlich in der vorislamischen-arabischen Dichtung und im Koran selbst deutlich erkennen.

All diese Traditionen werden im Koran reflektiert. Biblisches Gedankengut wird darin rezipiert, abgelehnt oder umgedeutet; heidnische Vorstellungen von der Allmacht der schicksalhaften Zeit werden zurückgewiesen; altarabische Bräuche werden übernommen oder abgewiesen. Der Koran ist ein vielfältiges Werk mit formal und inhaltlich heterogenen Elementen, die zu Lebzeiten Muhammads und über seinen Tod hinaus zusammengefügt worden sind.

Nach der Überlieferung wurde der koranische Korpus während der Regierungszeit des dritten Nachfolgers (Kalif) Muhammads Uthman redigiert und schriftlich fixiert. Die angefertigte Fassung wurde in die damaligen Garnisonstädte verschickt; abweichende Koranmanuskripte ließ Uthman verbrennen, um Spaltungen in der islamischen Religionsgemeinschaft zu vermeiden. Der Redaktionsprozess könnte jedoch bis zum Ende des 7. Jh. gedauert haben. Seit Jahrzehnten erhobene Zweifel an einer frühen Datierung des Korans gelten inzwischen aufgrund genauerer Untersuchung des koranischen Textes und neuerer Entdeckungen von frühen Koranhandschriften als widerlegt.

Der Biographie Muhammads (sīra) zufolge, die frühestens auf die Mitte des 8. Jh. zurückgeht, ist die koranische Verkündigung in erster Linie mit der Person Muhammads eng verbunden, der bis zu seinem Tod 632 Offenbarungen durch den Engel Gabriel empfing. Im Koran ist Muhammads Name viermal erwähnt (Sure 3:144, 33:40, 47:2 und 48:29). An vielen Stellen wird er direkt angesprochen und damit beauftragt, zu mahnen, zu erinnern, zu verkünden und zu kämpfen. Obwohl die Verehrung Muhammads später kultische Züge annimmt, indem er zum „Liebling Gottes“ erhoben und mit nahezu physischer, moralischer und spiritueller Vollkommenheit ausgestattet wird, erscheint er im Koran als ein sterblicher Mensch, der sein prophetisches Amt unermüdlich mit allen ihm verfügbaren Mitteln erfüllt. Er ist das letzte Glied einer Kette von biblischen und altarabischen Propheten. Deren Episoden werden im Koran meistens wiederholt erzählt. Jede dieser Gestalten liefert Muhammad entspr. den Umständen der Verkündung notwendige Bausteine, um sein eigenes prophetisches Gebäude zu errichten. So gilt Abraham im Koran als Urheber des Monotheismus, den Muhammad mit der koranischen Verkündigung wiederherzustellen beansprucht, während Mose dort der meisterwähnte Prophet ist, dem es gelingt, sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien, in ein neues Land zu führen und ihm Gesetze zu geben. In Auseinandersetzung mit der christlichen Doktrin der Göttlichkeit Jesu und der Trinität wird der koranische Monotheismus geschärft. Der Koran beansprucht für Muhammad, „Siegel der Propheten“ (Sure 33:40) zu sein, eine Aussage, die dahingehend verstanden werden kann, dass seine Prophetie die Summe aller vorherigen Prophetien darstellt, deren verschiedene Eigenschaften in ihr emblematisch vereinigt werden. Mit dieser Auffassung korrespondiert das Selbstverständnis des Korans, er stamme aus derselben Urschrift (arabisch: umm al-kitāb; Mutter des Buches), aus der auch alle früheren Offenbarungsschriften stammen, und verhalte sich zu ihnen bestätigend (z. B. Sure 5:48). Den Juden und Christen wird jedoch im Verlauf der Verkündigung vorgeworfen, ihre heiligen Schriften verfälscht zu haben (z. B. Sure 5:13–15).

Die Suren werden – abhängig vom Zeitpunkt ihrer Offenbarung – in mekkanische und medinensische Suren eingeteilt. Die mekkanischen Suren wurden vor der Auswanderung Muhammads im Jahre 622 verkündet; sie lassen sich wiederum in früh-, mittel- und spätmekkanische Suren einteilen. Die später in Medina entstandenen Suren sind im Durchschnitt erheblich länger und werden im Koran vorangestellt.

Gegenstand der frühmekkanischen Suren ist insb. die Verkündigung des Glaubens an den einen Gott verbunden mit der Verrichtung von Taten der Nächstenliebe. Die mittels kurzer, stark rhythmischer Verse eindringlich artikulierte Predigt ist von der nachdrücklichen Drohung mit dem endzeitlichen Gericht geprägt. Um dieses als eine in der Zukunft sicher hereinbrechende Wirklichkeit darzustellen, wird die Schöpfung als Beweis für die Macht Gottes angeführt. Das dominierende Gottesbild dieser ersten Phase der Verkündigung ist das des Schöpfers und des Richters. In Anlehnung an Sprüche altarabischer Wahrsager werden viele Suren dieser Verkündigungsperiode mit Schwüren eröffnet.

In den mittel- und spätmekkanischen Suren treten wichtige Entwicklungen auf. Formal werden die Verse und die Suren länger. Damit korrespondiert, dass von nun an biblische und altarabische Propheten und Geschichten aufgenommen werden. Die Episoden laufen i. d. R. nach dreigliedrigem Muster ab: ein Prophet wird einem Volk mit einer göttlichen Botschaft gesandt; das Volk nimmt die Sendung nicht ernst, schmäht oder verfolgt den Propheten; Gott interveniert, verhilft dem Propheten zum Sieg und bestraft die Frevler. Die von Josef Horovitz „Straflegenden“ (1926: 11) genannten Episoden sollten den Adressaten der Verkündigung veranschaulichen, was ihnen bevorsteht, sollten sie dem gegenwärtigen Propheten nicht folgen. Unter den biblischen Figuren der mittelmekkanischen Suren ragt Maria (arabisch Maryam) heraus. Nach ihr ist Sure 19 genannt, in der das Epitheton ar-raḥmān, der Erbarmer, für Gott intensiver als in jeder anderen verwendet wird. Dieser Name Gottes wird zum Bestandteil der basmala, d. i. die Evokationsformel bi-smi Llāhi r-raḥmāni r-raḥīm (Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers, oder: des Barmherzigen, des Erbarmers), mit der jede Sure bis auf die neunte beginnt. Zugl. wird die Sprache dieser Phase der Verkündigung argumentativ. Insb. mit den Polytheisten wird unter psalmodischer Heranziehung der Zeichen göttlicher Macht in der Natur und der Menschheitsgeschichte debattiert, um sie vom neuen Glauben zu überzeugen. Allmählich werden ebenfalls die Juden und die Christen in diesem Sinne, aber auch polemisch, angesprochen. Neben ihren eigenen Bezeichnungen werden sie allg. ahl al-kitāb, Leute des Buches, genannt in Anspielung darauf, dass sie im Besitz heiliger Bücher sind.

In den medinensischen Suren werden einige dieser inhaltlichen Merkmale beibehalten, andere verlieren allerdings allmählich an Wert. So spielen die Straflegenden in dieser Phase eine geringere Rolle als zuvor. Die Polemik richtet sich nunmehr nicht nur gegen die Juden und Christen, sondern auch gegen die „Heuchler“, das sind die Anhänger Muhammads, die ihm die gebührende Unterstützung im militärischen Kampf nicht gewährleisten. Damit verbindet sich eine entscheidende Veränderung in Muhammads Wirken: ihm als „Gesandten“ (rasūl) wird nun politische Autorität zugesprochen; neben Gott sollen ihm die Gläubigen Gehorsam erweisen. Eine weitere Neuigkeit dieser Phase sind die Rechtsvorschriften, mit denen unterschiedliche Angelegenheiten der Gemeinde geregelt werden. Dazu gehören rituelle, straf- und familienrechtliche Themen. Ebenfalls neu ist der vermehrt ausgesprochene Aufruf zur militärischen Bekämpfung und Tötung der Gegner (ǧihād).

Neben dem Koran sind die Überlieferung der Handlungsweise des Propheten (Sunna) und die Sammlung seiner Sprüche (ḥadīṯ) von zentraler Bedeutung im I.; sie bilden eine wichtige Grundlage der islamischen Jurisprudenz. Die Sunna dient dem gläubigen Muslim als eine Anleitung, um gottgerecht zu leben. Während seit vormoderner Zeit zahlreiche Hadithe im Umlauf sind, gelten sechs Kompilationen als kanonisch. Die Aussagekraft eines Hadith wird nicht am Inhalt (matn), sondern an der Überlieferungskette (isnād) gemessen, welche die Authentizität der Überlieferung belegen soll. Dabei wird Bezug auf die Gelehrten genommen, welche diese Aussagen im Laufe der Jahrzehnte an jüngere Gefährten mündlich überlieferten. Die Hadithe können im Hinblick auf ihre Authentizität in verschiedene Kategorien unterteilt werden (gesund, schön, schwach), diese Kategorisierung wird u. a. von der Lückenlosigkeit der Überlieferungskette und der Glaubwürdigkeit der einzelnen Überlieferer bestimmt.

3. Die fünf Säulen des Islam

Die Pflichten des Muslims spiegeln sich in den fünf Säulen (arkān) des I.s wider. Die Schahāda („Glaubensbekenntnis“) ist die erste und wichtigste Pflicht. Durch sie wird die Einheit und Einzigkeit Gottes sowie die Bedeutung Muhammads als gottgesandter Prophet und Begründer der Glaubensgemeinschaft bezeugt: Ašhadu an lā ilāha illā Llāh, wa-anna muḥammadan rasūlu Llāhi („Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Gott gibt und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist.“). Der Ausspruch der Schahāda gilt als Voraussetzung für die Aufnahme in die Gemeinschaft der Muslime.

Unter der zweiten Pflicht des rituellen Gebets (salāh), werden die fünf täglichen obligatorischen Gebete verstanden. Dem Gebet geht eine rituelle Waschung voraus. Für die Verrichtung der Gebete sind bestimmte Zeitspannen vorgeschrieben: das faǧr-Gebet zum Zeitpunkt der Morgendämmerung, das zweite Gebet, zuhr, zur Mittagszeit, das ʿasr-Gebet in den Nachmittagsstunden, das maġrib-Gebet nach dem Sonnenuntergang und das ʿišāʾ-Gebet nach Anbruch der Dunkelheit.

Die Zahlung der Almosensteuer (zakāh) ist die dritte Pflicht des Gläubigen. Hierbei ist es vorgesehen, dass jeder Muslim einen bestimmten Anteil – i. d. R. 10 % – seines jährlichen Einkommens an Bedürftige und Notleidende spendet. Die zakāh stellt eine Pflicht dar, weitere freiwillige Spenden werden unter dem Begriff sadaqa aufgeführt.

Die vierte Pflicht des rituellen Fastens (saum) wird im Ramadan, dem neunten Monat des islamischen Kalenders, erfüllt. In diesem Monat wurde, der Überlieferung nach, der Koran herabgesandt. Im Fastenmonat ist es jedem gesunden volljährigen Muslim auferlegt, in der Zeitspanne zwischen dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang weder Essen, noch Trinken zu sich zu nehmen. Im Rahmen der Enthaltsamkeit sind weiterhin der Genuss von Tabak und der Geschlechtsverkehr untersagt. Das tägliche Fasten wird mit dem Fastenbrechen (ifṭār) beendet. Das Ende des Fastenmonats wird mit dem Fest des Fastenbrechens (ʿīd al-fiṭr), auch Zuckerfest genannt, gefeiert.

Die fünfte Pflicht des Muslims ist die Teilnahme an der Pilgerfahrt (ḥaǧǧ) im zwölften Monat des islamischen Kalenders. Jeder Muslim ist dazu angehalten, mindestens einmal im Leben daran teilzunehmen. Die Pilgerfahrt nach Mekka erinnert an den Vollzug des Ritus durch Abraham und seinen Sohn Ishmael, die nach dem Koran zufolge die Kaaba bauten. Erinnert wird ebenfalls dabei an Hagars Suche nach Wasser. Zu den diversen zeremoniellen Handlungen während der Pilgerfahrt gehören die siebenmalige Umrundung der Kaaba, das gemeinsame Gebet auf dem Berg ʿArafāt und die Steinigung des Teufels. Am Ende der Pilgerfahrt wird das Opferfest (ʿīd al-aḍḥā) gefeiert. Dieses erinnert ebenfalls an das Opfer Abrahams zu Ehren Gottes.

4. Entwicklung verschiedener theologischer und philosophischer Strömungen

In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Tod Muhammads expandierte das Herrschaftsgebiet des islamischen Reiches in bemerkenswerter Geschwindigkeit. Nach Eroberung der gesamten arabischen Halbinsel wurden unter den ersten vier Kalifen die heutigen Gebiete der Levante, Persien, dem Irak und dem Kaukasus eingenommen. Weiterhin breitete sich der I. über Ägypten bis nach Marokko aus und etablierte sich Anfang des 8. Jh. sogar in Spanien. Im Laufe der Geschichte verbreitete sich der I. bis nach Mittelafrika, Indien und Südostasien.

Zu Lebzeiten Muhammads wurde die Frage der Nachfolge nicht geklärt. Seine Gefährten wählten nach seinem Tod seinen Schwiegervater Abū Bakr zu seinem Nachfolger (khalīfa; Kalif). Während der Regentschaft des vierten Kalifen Alī, ein Vetter und Schwiegersohn Muhammads, entfachte sich der Streit um die rechtmäßige Nachfolge. Die Gemeinschaft der Muslime spaltete sich in Anhänger Alis (die Schia) und die Sunniten, die dessen Gegenspieler Muʿāwiya, Statthalter von Syrien, unterstützten. Aus Reihen der Schia gingen die Khāridschiten hervor, die einem Schlichterspruch zugunsten Muʿāwiyas ablehnten. Einer von ihnen ermordete Alī später. Innerhalb der Schia spalteten sich im Laufe der Jahrhunderte weitere Gruppen ab, die größten von ihnen sind die Zwölferschia, die Zaiditen im Jemen und die Ismailiten. Der alte Streit zwischen Sunniten und Schiiten lebt in der Gegenwart in militärischen Konflikten wie im Irak, Syrien und Jemen und Rivalitäten wie zwischen dem sunnitischen Saudi-Arabien und dem schiitischen Iran fort.

Im Kontext des Streits um die rechtmäßige Herrschaft über die Gemeinschaft der Muslime dürften die Anfänge der islamischen Theologie (kalām; wörtlich „Rede“) eingebettet sein. Sie lassen sich aufgrund schwieriger Quellenlage kaum rekonstruieren. Dennoch kann mit großer Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Willensfreiheit und göttlicher Vorherbestimmung mit ihren politischen Implikationen zu den frühesten Themen theologischer Reflexionen im I. gehört. Der Koran liefert dafür keine eindeutige Textgrundlage. In einem vorislamisch-arabischen Kontext entstanden, in dem die fatalistische Vorstellung von der Herrschaft der schicksalhaften Zeit verankert war, setzt sich der Koran damit vehement auseinander und spart nicht an Aussagen, die Gottes alleinige Herrschaft und Bestimmung des Menschengeschicks betonen (z. B. Sure 3:145, 6:2, 35:8). Sie stehen jedoch im Widerspruch zu Äußerungen, die die menschliche Eigenverantwortung für Handlungen voraussetzen, die am Jüngsten Tag sanktioniert werden (z. B. Sure 99:6–8, 69:18–34). Die koranische Ambivalenz sowie innerislamische Kontroversen und frühere Debatten darüber im Christentum und im Manichäismus des spätantiken Nahen Ostens dürften die Triebfaktoren für die frühe Entwicklung der islamischen Theologie gewesen sein.

Zu den bereits genannten Themen kamen später noch weitere dazu, etwa das Schicksal sündiger Muslime, das Zustandekommen der Welt, die Definition der Eigenschaften Gottes und ihr Verhältnis zu seinem Wesen sowie die Interpretation von Aussagen über Gottes Anthropomorphismus im Koran. Eine der wichtigsten theologischen Schulen im I. ist die Muʿtazila, deren Wirkung vom 8. bis zum 13. Jh. andauerte. Bekannt ist die Muʿtazila für fünf Prinzipien: a) die Einheit Gottes (tauḥīd), b) seine Gerechtigkeit (ʿadl), c) die eschatologische Verheißung und Drohung (al-waʿd wa-l-waʿīd), d) die Mittelstellung des schwersündigen Muslims zwischen dem Gläubigen und Ungläubigen (al-manzila baina al-manzilatain) und e) die Aufforderung zum Guten und die Verbietung des Verwerflichen (al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar). Die Muʿtaziliten verteidigten die individuelle Freiheit, hielten den Koran für erschaffen und traten für eine rational-allegorische Interpretation von Koranstellen, deren Wortlaut der Vernunft widerspricht, ein.

Diese und weitere Ansichten stießen auf den heftigen Widerstand der Traditionalisten, deren Hauptfigur im 9. Jh. Aḥmad ibn Ḥanbal war. Aus den heftigen Debatten zwischen den beiden Gruppen ist die Schule der Aschʿarīya, nach ihrem Begründer Abū l-Ḥasan al-Aschʿarī genannt, hervorgegangen. Er bemühte sich um einen Mittelweg. Seiner Ansicht nach ist die Offenbarung eine unabdingbare Voraussetzung für Überlegungen über Gott, seine Attribute und seine Schöpfung. Dennoch kann diese intellektuelle Tätigkeit nur mittels der Vernunft (Vernunft – Verstand) vollzogen werden. Gott bestimmt, was gut und böse ist und schafft die Handlungen, die von den Menschen lediglich angeeignet werden, der infolgedessen im Jenseits belohnt oder bestraft wird. Im Hinblick auf den Koran unterscheidet al-Aschʿarī zwischen der ewigen Rede Gottes, die urspr. geoffenbart wurde, und deren mündlichem Vortrag durch Menschen im Hier und Jetzt.

Weniger einflussreich ist die Schule der Māturīdīya, nach Abū Mansūr al-Māturīdī aus Samarkand benannt. Zu den Charakteristika dieser theologischen Strömung gehört die Betonung des Glaubens gegenüber der Handlung. Der Vollzug religiöser Pflichten ergänzt den Glauben, Ungehorsam in der Praxis vermindert den Glauben jedoch nicht. Gott bestimmt alles Gute und Schlechte; der Mensch aber praktiziert das Eine oder das Andere, deshalb kann er von Gott zur Rechenschaft gezogen werden. Der Mensch verfügt über das rationale Vermögen, Gottes Existenz zu erkennen und Gutes von Schlechtem zu unterscheiden.

Zu den bereits genannten theologischen Schulen der Sunniten entwickelten die schiitischen Zaidīten eine theologische Strömung, die vom Imam al-Qāsim ibn Ibrāhīm begründet wurde. Von christlichen Theologen beeinflusst unterstrich er die Bedeutung der menschlichen Willensfreiheit. Im Zuge der Jahrhunderte entfaltete sich die zaidītische Theologie v. a. im Jemen in Auseinandersetzung mit den Lehren der Muʿtazila, während sich die andere schiitische Gruppe der Imamiten aufgrund ihrer eigenen Doktrin wesentlich kritisch gegenüber muʿtazilitischen Lehren verhielt.

Zwei herausragende Gestalten theologischen Denkens im I. sind Abū Ḥāmid al-Ġazālī und Ibn Taymiyya, deren Werke durch philosophische Einflüsse gekennzeichnet sind. Al-Ġazālī erhielt eine aschʿarītische Bildung, setzte sich danach intensiv mit der Philosophie auseinander und verfasste eine Widerlegung der Philosophen. Nichtsdestotrotz gelang es ihm wie kaum einem anderen, logische Methodik und philosophische Begrifflichkeit in das islamische Recht zu integrieren und dieses auf einen systematischen Höhepunkt zu bringen. Als große Figur des Sufismus strebte er eine rational ausgerichtete Erneuerung des islamischen Denkens an. Sein Hauptwerk „Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“ gehört zu den einflussreichsten Werken der islamischen Geistesgeschichte. In seinen sufischen Schriften verbindet er islamisches mit philosophischem, v. a. avicennischem und neoplatonischem, Gedankengut.

Ibn Taymiyya war ein bedeutender Rechtsgelehrter und Theologe, der die philosophische und theologische Tradition des I.s beherrschte. Als Anhänger des Traditionalisten Ibn Ḥanbal, der an der Unerschaffenheit des Korans festhielt und jede Spekulation über Göttliches ablehnte, bindet Ibn Taymiyya die Wahrheit von Aussagen am Koran und Hadith fest: was wahr ist, ist das, was Gott und der Prophet sagen. Die Vernunft muss sich letztendlich daran orientieren, denn im Grunde widerspricht die reine Vernunft der Offenbarung nicht. Dies zu beweisen, ist der Hauptzweck von Ibn Taymiyyas opus magnum. In zahlreichen Fatwas ruft er außerdem zum Dschihad gegen die Feinde des I.s auf und zögert nicht, deren Tötung zu rechtfertigen. Seine Ideologie, die in einer turbulenten Zeit infolge des Untergangs des Kalifats 1258 im Zuge der mongolischen Eroberung und im Kontext der Kreuzzüge entstanden ist, wurde von Muhammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb, dem Begründer des Wahhabismus übernommen. Ibn Taymiyya gilt heutzutage unbestritten als die einflussreichste Figur des Salafismus.

Die Muslime fanden im Mittelmeerraum florierende Zentren spätantiken Wissens christlicher Prägung vor. Aus dieser Begegnung und bes. auch aufgrund zunehmender Anforderungen in Staat und Gesellschaft des Abbasidenreiches, das 750 das Kalifat der Umayyaden ablöste und Bagdad zum Machtzentrum machte, ging eine umfangreiche Übersetzungsbewegung hervor, die hauptsächlich vom 8. bis zum 10. Jh. anhielt und bewirkte, dass wichtige Werke der griechischen Philosophie und Wissenschaften v. a. durch christliche Gelehrte wie Ḥunain ibn Isḥāq ins Arabische übertragen wurden. Die Weichen für die Entwicklung philosophischen Denkens in arabischer Sprache wurden damit gestellt. Dabei wurden die Wissenschaftsdisziplinen des spätantiken Kanons übernommen. Des Weiteren beschäftigten sich muslimische Philosophen mit der Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Vernunft. Sie orientierten sich in ihrem Denken in erster Linie an Aristoteles, dem die arabischen Gelehrten den Titel des „Ersten Lehrmeisters“ verliehen. Ebenfalls wurden Platon und der Neoplatonismus von ihnen rezipiert. Entscheidend für die arabische Rezeption der antiken Philosophen insgesamt war jedoch die Art und Weise, wie diese in der auf Synthetisierung und Entschärfung von Denkgegensätzen ausgerichteten Spätantike interpretiert worden waren. Entgegen lange herrschenden Behauptungen von Philosophiehistorikern, die arabische Philosophie habe ihre letzten Atemzüge eigentlich im Andalusien des 12. Jh. ausgehaucht und sei überhaupt nichts weiter als Mittlerin zwischen der griechischen Antike und dem europäischen Mittelalter gewesen, werden in der neueren Forschung die genuinen Leistungen der arabischen Philosophen im Mittelalter gebührend gewürdigt und anerkannt, dass die Philosophie in der islamischen Welt nach dem 13. Jh. weiterhin in Persien und im Osmanischen Reich weiterlebte.

Zu den bedeutenden Gestalten der klassischen Epoche der arabischen Philosophie in der islamischen Welt gehören al-Kindī, al-Fārābī, Ibn Sīnā (Avicenna) und Ibn Ruschd (Averroes). Al-Kindī gilt mit Recht als der erste arabische Philosoph, der über interdisziplinäre Bildung hellenistischer Prägung verfügte und eine philosophische Tradition hinterließ. Al-Fārābī, der „zweite Lehrmeister“ genannt, bemühte sich um ein philosophiegeschichtlich begründetes universelles Konzept der Philosophie sowie um die Herausbildung philosophisch-arabischer Begrifflichkeit in Abgrenzung zur rationalen Theologie (kalām). Bekannt ist er für seinen Entwurf eines idealen Gemeinwesens, dessen Leitung gleichermaßen über vollkommene rationale und offenbarte Erkenntnisse verfügt. Al-Fārābī wollte damit Philosophie und Religion miteinander harmonisieren, genauso wie er die Lehren von Platon und Aristoteles zu harmonisieren versuchte. Ibn Sīnā gilt jedoch als der einflussreichste Philosoph des arabischen Ostens. Mit seiner umfangreichen Metaphysik brachte er die Philosophie in der islamischen Welt zum Höhepunkt. Sein Denken war außerdem offen für die Mystik, was ihm verbreitete Wirkung im persischen Raum durch al-Ġazālī und spätere Theosophen gewährte. Mit Ibn Ruschd begegnen wir dem größten Philosophen des islamischen Andalusiens, der durch seine scharfsinnige Kommentierung aristotelischer Schriften in Europa den Titel des „Kommentators“ erhielt. Mit feingestrickten Argumenten erwiderte er auf al-Ġazālīs Angriff auf die Philosophen. In seinen theologisch-philosophischen Schriften bekräftigt er das Primat der Vernunft in der Interpretation von Offenbarungsschriften, ein hermeneutisches Prinzip (Hermeneutik), dem der große jüdische Philosoph Moses Maimonides in seinem Umgang mit der hebräischen Bibel folgte. Ibn Ruschds Werk wurde intensiv auf Lateinisch und Hebräisch von Gelehrten rezipiert, die als Averroisten bezeichnet wurden. Bemühungen in der arabischen Welt seit Anfang des 20. Jh. um die Modernisierung religiöser Diskurse im I. werden im Rückgriff auf sein Denken entfaltet.

Mit dem Sufismus (arabisch tasawwuf; etymologisch mit „sūf“; Wolle, zusammenhängend, was als Hinweis darauf verstanden werden kann, dass die Mystiker als Zeichen der Askese Kleidung aus Wolle trugen) wird die Mystik im I. bezeichnet, deren Anfänge auf das 7.–8. Jh. zurückgehen. Der Einfluss des orientalisch-christlichen Mönchtums darauf wird stark vermutet, ist allerdings in der Forschung noch umstritten. Die Lebensweise des Sufis (sulūk) ist klassisch von der Abwendung von der materiellen Welt, der inneren Hingabe zu Gott und der Seelenreinigung mit dem Ziel geprägt, die Einheit mit Gott durch Entwerdung des Selbst (fanāʾ) zu erreichen. Der mystische Pfad (ṭarīq/ṭarīqa) der inneren Erfahrung besteht aus Stationen (manāzil), Standorten (maqāmāt) und Zuständen (aḥwāl). Sufis bemühen sich darum individuell; sie organisieren sich jedoch in Orden (ṭuruq), die jeweils einem Lehrmeister (Scheich) folgen. Die wichtigste Praxis der Sufis ist die rhythmisch wiederholte Erwähnung des Namens Gottes in Verbindung mit dem Ein- und Ausatmen (ḏikr). Dadurch werden Sufis in ekstatische Zustände versetzt, manchmal von Visionen begleitet, und zielen prinzipiell darauf ab, sich mit Gott zu vereinigen (unio mystica). Für enge Verbindung von Theorie und Praxis bekannt, stützt sich der Sufismus von Anfang an auf die Quellen des I.s, allen voran den Koran und die Sunna; er öffnet sich gleichzeitig für spirituelle Strömungen anderer Religionen (wie des Christentums) und lokaler Traditionen (wie z. B. im persischen, indischen oder chinesischen Bereich). Zahlreiche Gestalten ragen in der Geschichte des Sufismus heraus; einige von ihnen gelten in ihren Ansichten und Praktiken als moderat, andere als exzessiv. Neben dem bereits genannten al-Ġazālī gilt Ibn ʿArabī (asch-scheich al-akbar, „der größte Meister“, genannt) mit seiner Lehre von der Einheit des Seins sowie einem komplexen philosophisch-theologischen System auf koranischer Grundlage, als einer der größten Sufis. Die Ansichten und Praktiken der Sufis (wie z. B. Musik und Tanz während ḏikr-Veranstaltungen) werden von der islamischen Orthodoxie nach wie vor strikt abgelehnt. Die umfangreiche Literatur des Sufismus umfasst Handbücher mit theoretischen und praktischen Lehren, theosophische und exegetische Schriften sowie literarische (wie die Dichtung von Ibn al-Fāriḍ auf Arabisch, Rumi und Hafiz auf Persisch) und hagiographische Werke in verschiedenen Sprachen. Aufgrund seiner Spiritualität trug der Sufismus zur Verbreitung des I.s in Asien bei. Sufis spielten ebenfalls eine erhebliche Rolle in der Bekämpfung des Kolonialismus bes. in Nordafrika. Am Beispiel Ägyptens und der Türkei lassen sich schließlich politische Aktivitäten von Sufi-Orden deutlich zeigen.

5. Islamisches Recht

Die Scharia ist das religiöse Gesetz im I. Auf dem Koran, der Sunna und den Sprüchen des Propheten basierend, regelt sie sowohl die rituellen und kultischen Angelegenheiten als auch gesellschaftliche und finanzielle Beziehungen. Die Scharia stellt somit das göttliche Recht dar, welches in der Jurisprudenz von den verschiedenen Rechtsschulen erörtert und ausgelegt wird, um veränderten gesellschaftlichen Umständen entspr. neue rechtliche Regeln zu entwickeln. So bemühten sich seit Mitte des 8. Jh. muslimische Juristen (fuqahāʾ) auf der Grundlage von koranischen Geboten und Verboten sowie den Sprüchen (Hadith) und Lebensweise des Propheten (Sunna) um die Ableitung von Rechtsvorschriften, die veränderten Bedingungen innerhalb des multireligiösen und multiethnischen islamischen Herrschaftsgebietes Rechnung tragen. Über Jahrhunderte hinweg wurde ein umfangreiches Rechtssystem (fiqh: arabisch urspr. i. S. v. „eindringenden Verstehen“) entwickelt, das umfassend menschliches Handeln nach dem kasuistischen Prinzip regelt. Vier Rechtsschulen bildeten sich im sunnitischen I., deren Wirkung bis in die Gegenwart hineinreicht: Die Ḥanafīten (nach Abū Ḥanīfa), die Mālikiten (nach Mālik ibn Anas), die Šāfiʿīten (nach aš-Šāfiʿī) und die Ḥanbalīten (nach Aḥmad ibn Ḥanbal). In Entsprechung der sog.en Grundlagen des Rechts (usūl al-fiqh) werden innerhalb der Rechtstraditionen überlieferte Rechtsmaterialien immer wieder überarbeitet; daraus entstehen weitere Zweige (furūʿ). Neue Rechtsurteile und Auslegungen werden mittels deduktiver Analogie (qiyās) unter Beachtung des Gelehrtenkonsenses (iǧmāʿ al-ʿulamāʾ) entwickelt. Obwohl das „Tor der eigenständigen Auslegung“ (bāb al-iǧtihād) seit dem 10.–11. Jh. als geschlossen gilt, können beachtliche Entwicklungen festgestellt werden, die damit zusammenhängen, dass das praxisbezogene Rechtsdenken veränderte Lebensbedingungen begleiten muss.

Die Rechtsgelehrten bezeichneten die Herrschaftsgebiete des I.s als dār al-islām (Haus des I.s), den Rest der Welt als dār al-ḥarb (Haus des Krieges). Nichtmuslime, die unter muslimischer Herrschaft leben, gelten nach islamischem Recht als Dhimmīs, d. h. Schutzbefohlene. Urspr. für die im Koran genannten Religionsgemeinschaften der Juden, Christen und Sabier entwickelt, wurde die Kategorie im Laufe der Geschichte auf Nichtmuslime insgesamt erweitert. Durch das Dhimmī-System werden sie durch verschiedene Vorschriften von Muslimen abgegrenzt.

Mit dem Einbruch der Moderne und der damit einhergehenden technischen Entwicklungen stieg die Notwendigkeit, das islamische Recht zu reformieren. In weiten Teilen der islamischen Welt wurden im Zuge des Kolonialismus sowie infolge von Staatsformwechsel (wie in der türkischen Republik) und der Stärkung staatlicher Zentralmacht Bereiche des Rechts entspr. europäischen Standards verändert, mit Ausnahme des Personenstands-, Familien- und Erbrechts. Aber auch auf diesen Gebieten können Reformen verzeichnet werden. In diesem Sinne unterscheiden zeitgenössische muslimische Autoren zwischen den unveränderbar gültigen Prinzipien der Scharia und kontextabhängigen Regelungen, die dem sozialen Wandel angepasst werden können. Das Wachsen von muslimischen Gemeinschaften außerhalb muslimisch geprägter Länder führte zur Entstehung einer islamischen „Jurisprudenz der Minderheiten“ (fiqh al-aqallīyāt); zahlreiche Rechtsmeinungen werden ratsuchenden Muslimen im Internet angeboten. Außerdem wird das Internationale Privatrecht gebraucht, um über spezifische Rechtsfälle von Muslimen bes. im Bereich des Ehe-, Familien- und Erbrechts in Deutschland u. a. europäischen Ländern zu urteilen.

Die Scharia wird in den modernen islamisch geprägten Staaten unterschiedlich umgesetzt. In manchen Staaten wie Saudi-Arabien und Mauretanien dient sie vollständig als Gesetzesgrundlage. In weiteren Staaten, wie z. B. Nigeria und Indonesien, ist die Scharia nur für den muslimischen Teil der Bevölkerung rechtsverbindlich. Weiterhin bildet die Scharia in anderen Staaten die Grundlage für Verfassung und Rechtsprechung. Im Zuge der politischen Umbrüche, die sich ab 2010 in Teilen der arabischen Welt ereigneten, wurde die Stellung der Scharia in neuen Verfassungen diskutiert und unterschiedlich integriert.

Mit der Formulierung, der I. sei zugl. „Religion und Staat“ (al-islām dīn wa-dawla), wird eine häufig von Islamisten (Islamismus) gestellte Forderung verbunden, welche eine enge Verzahnung von Staat und Religion zur Folge hätte und als gesellschaftlicher Gegenentwurf zum fortschreitenden weltweiten Säkularisierungsprozess (Säkularisierung) zu verstehen ist. Hierbei stützen sich ihre Befürworter auf das Idealbild des ersten islamischen Staates unter der Leitung des Propheten Muhammad und die „Konstitution von Medina“. Muhammad galt als Prophet und Vermittler der Offenbarung und leitete gleichzeitig seine Gemeinde politisch und militärisch. Er brachte eine neue politische Ordnung in der tribalen, auf Stammesregeln fußenden Gesellschaft der arabischen Halbinsel hervor und konnte damit die arabischen Stämme unter seiner Herrschaft einen. Diese in der islamischen Geschichte einzigartige Situation dient als Vorbild dafür, im I. die religiöse und die politische Sphäre untrennbar miteinander zu verschmelzen, eine Behauptung, die eigentlich nur für die prophetische Ära uneingeschränkt gelten kann. Schon früh danach setzt die Trennung der beiden Sphären ein und wird fast in allen mehrheitlich muslimischen Ländern beibehalten. Als Beispiel für die Errichtung eines theokratischen Staates kann die Islamische Republik Iran genannt werden, welche nach der Islamischen Revolution von 1979 die religiöse und politische Macht vereinte.

6. Islam in Deutschland

Die schätzungsweise über 4,5 Mio. Muslime stellen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Deutschland dar. Ihre Mehrheit besteht aus Sunniten aus der Türkei. Muslime kamen im 17. und 18. Jh. im Zusammenhang der Türkenkriege als Kriegsgefangene, Flüchtende oder Diener nach Deutschland; wer blieb, blieb jedoch nicht Muslim, sondern trat zum Christentum über. Die anderen kehrten nach Zahlung des Lösegelds, wie dies damals gängige Praxis war, wieder in ihre alte Heimat bzw. ins Osmanische Reich zurück. Die politische Annäherung zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich führte ab dem 18. Jh. zu einem gewissen Interesse der preußischen Gesellschaft am I. und dem Orient. Im Zusammenhang mit der ab der Mitte des 18. Jh. verbreiteten „Türkenmode“ wurde nahe der Sommerresidenz des Kurfürsten von der Pfalz die Schwetzinger Schlossgarten-Moschee im Jahre 1795 fertiggestellt. Die türkischen Einflüsse sind in vielen Bereichen spürbar, nicht zuletzt in der Musik – es sei in diesem Zusammenhang bspw. u. a. an Wolfgang Amadeus Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ erinnert. Johann Wolfgang von Goethes „West-Östlicher Diwan“ war von dem persischen Dichter Hafiz inspiriert worden. Das poetische Werk des Romantikers Friedrich Rückert weist deutliche Einflüsse der arabischen und persischen Dichtung auf.

Die erste deutsche Koranübersetzung, direkt aus dem Arabischen von David Friedrich Megerlein besorgt, erschien 1772 unter dem Titel „Die türkische Bibel“. Seit 1798 existiert ein muslimischer Friedhof am Berliner Columbiadamm. Die erste Moschee wurde während des Ersten Weltkriegs in einem Gefangenenlager nahe Berlin aus Holz errichtet. 1922 ist die erste muslimische Gemeinde in Deutschland von Muslimen aus verschiedenen Nationen in Berlin gegründet worden, wo der Großteil der hierzulande lebenden Muslime bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges lebte.

Durch das Anwerbeabkommen u. a. mit der Türkei (1962), Marokko (1963) und Tunesien (1965) fand der I. verstärkt Einzug in die Bunderepublik. Der I. als Religion und dessen Riten stießen in jener Zeit bei den Deutschen auf wenig Beachtung. So erregte es keine Irritation, dass muslimische Festtagsgebete in Kirchen verrichtet wurden. Erst die Islamische Revolution in Iran weckte das Bewusstsein der hiesigen Gesellschaft für den I. als ein problematisches Anderes.

Auch nach Ende der Anwerbeabkommen kamen bis Mitte der 1980er Jahre noch Gastarbeiter, v. a. durch Familiennachzug, nach Westdeutschland. Dagegen wanderten nur relativ wenige in ihre Heimatländer zurück, da die dortigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse eine Verschlechterung ihrer Lebensumstände befürchten ließen. Der Zuwachs der muslimischen Gemeinschaften v. a. in Ballungszentren erforderte eine strukturierte Organisation der religiösen und kulturellen Angelegenheiten, welche bis zu jenem Zeitpunkt provisorisch geregelt wurden. Daraus resultierte die Gründung der ersten Moscheevereine und Organisationen.

Die muslimischen Organisationen können unterschiedlich kategorisiert werden. Die nationalen Moscheen, welche – je nach politisch-religiöser Zugehörigkeit – ein dezidiert religiöses Profil aufweisen, bilden einen wichtigen Teil im Spektrum islamischer Organisationen in Deutschland. Die supranationalen Moscheen, welche häufig durch private Spendengeber aus dem Ausland finanziert werden, bilden den Gegenpol dazu. Die dritte Kraft, welche verstärkt seit 2012 an Bedeutung gewinnt, sind salafistische Netzwerke, die v. a. durch Stiftungen aus reichen islamischen Ländern ihren Einflussbereich vergrößern konnten.

Als Beispiel für die national orientierten Organisationen und Moscheevereine können diejenigen türkischer Herkunft gelten. Sie bestehen seit dem Beginn der 1970er Jahre in Deutschland; mit ihrer explizit religiösen Ausrichtung verstehen sie sich oftmals als Opposition zur kemalistischen Türkei. Der älteste der drei großen türkischstämmigen Verbände ist der Verband der Islamischen Kulturzentren. Der zentralistisch organisierte Verband tritt für die Wahrung des Glaubens und der islamischen kulturellen Werte ein, wobei er eine mystische Ausrichtung des I.s darstellt. Hier wird auf Bildungsarbeit und Ausbildung von Imamen fokussiert. Die Islamische Gemeinde Millî Görüş (Nationale Sicht) steht für eine aktive türkische politisch-islamistische Organisation. Neben den publizistischen und wirtschaftlichen Aktivitäten betreut sie die Mitglieder in religiösen, kulturellen und sozialen Angelegenheiten. Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB) ist die dritte große Organisation. Diese stellt eine Besonderheit im Vergleich zu den beiden anderen Organisationen dar, da sie vom türkischen Staat verwaltet wird und einen sunnitischen national-türkischen Staats-I. vertritt.

Um den Dialog zwischen der Bundesregierung und den islamischen Verbänden zu fördern, wurde die Deutsche Islam-Konferenz im Jahre 2006 vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ins Leben gerufen. Damit soll eine bessere religions- und gesellschaftspolitische Integration der muslimischen Bevölkerung erreicht werden. Mit dem Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland beteiligen sich zwei große Verbände daran. In diesem Zusammenhang sind ebenfalls die Ahmadiyya Muslim Jama’at und die Alevitische Gemeinde Deutschland zu erwähnen.

Seit Ende der 1970er Jahre nehmen sich die islamischen Organisationen sozialer Probleme an, die bes. die Jugend betreffen: Ghettoisierung, schlechte Wohn- und Schulsituation führen zu mangelnder Integrationsbereitschaft.

Im Hinblick auf den Religionsunterricht hat sich der Fokus der islamischen Verbände in den letzten drei Dekaden verschoben. So findet die Vermittlung von religiösem Wissen nicht mehr nur in Koranschulen, sondern nun auch mittels intensiver Schüler- und Studentenarbeit statt. Die Etablierung von inzwischen fünf Einrichtungen für Islamische Theologie an den Universitäten Erlangen-Nürnberg, Frankfurt am Main, Münster/Osnabrück, Tübingen und jüngst Berlin (Humboldt-Universität) seit 2011 soll die staatliche Ausbildung von Imamen und die Einführung von islamischem Religionsunterricht an deutschen Schulen fördern und dazu führen, dass eine islamische Theologie in deutscher Sprache entwickelt wird.

Etwa die Hälfte der Gemeinden hat einen intergenerationalen Wandel vollzogen. Die Gemeindemitglieder und Vorsitzenden der Vereine gehören nun den Generationen an, welche in Deutschland geboren wurden und aufwuchsen. Die deutsche Sprache erhält dadurch einen höheren Stellenwert und der nationale Bezug zum Herkunftsland aus der Gründungsphase wird somit ambiger. Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass viele junge Muslime die fehlende nationale Identität durch eine religiöse Identität zu ersetzen suchen. Der I. wird ihnen zu einer ideellen Heimat, da sie das Land, in dem sie leben, nicht als ihr eigenes empfinden.

Das Bild des I.s in Deutschland erfährt nach 2015 starke Veränderungen mit erheblichen Wirkungen für die Zukunft angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen und Migranten. V. a. deren Integration in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt stellt sich als große Herausforderung dar, die von allen Beteiligten große Anstrengungen erfordert.

7. Islam und Moderne

Von der Mitte des 18. Jh. an artikulierten muslimische Intellektuelle die Notwendigkeit, religiöse Reformen im I. durchzuführen. Verstärkt wurde dies infolge der napoleonischen Invasion Ägyptens 1798–1801. Junge Muslime, die im 19. Jh. v. a. in Frankreich studierten, stellten die Frage nach den Ursachen für die beobachtete Entwicklungskluft zwischen dem christlich geprägten Europa und der islamischen Welt. Der I. wurde von manch einem Europäer zur wesentlichen Ursache des Rückstands der muslimischen Gesellschaften erklärt. Mit dem Kolonialismus erwuchs in diesen ein Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem christlichen Westen, der u. a. Missionare dorthin schickte, um neben dem Christentum angeblich Bildung und Zivilisation zu verbreiten. Die Abschaffung des Kalifats im Zuge von Modernisierungsmaßnahmen in Mustafa Kemal Atatürks Türkei wurde von Muslimen als schmerzlicher Machtverlust empfunden.

Während große muslimische Denker wie Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī, Muhammad ʿAbdu und Sayyid Aḥmad Khān die Notwendigkeit von Reformen konstatierten, wobei sie den I. an sich nicht als Ursache der Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften sahen, betonten spätere Stimmen wie Fazlur Rahman eine Kompatibilität von Moderne und Tradition im I. Gegen Modernisierungsbemühungen richtet sich selbstverständlich bis heute die Gleichstellung von Modernisierung mit Verwestlichung. In den letzten Jahrzehnten, v. a. im Zuge einer rasant anwachsenden Globalisierung, intensivierte sich der Kampf der islamischen Modernisten um geschlechtliche Gleichberechtigung, Glaubensfreiheit, Anerkennung religiöser Pluralität und Etablierung demokratischer Strukturen in der islamischen Welt.

Gilt der islamische Fundamentalismus weitgehend als eine Reaktion auf die Moderne, sind dessen radikalste Formen, die in letzter Zeit politische und militärische Gestalt angenommen haben, in dieser Hinsicht darauf äußerst paradoxe Erscheinungen. So wird die Restauration ursprünglich-islamischer Lebens- und Regierungsformen mithilfe modernster Techniken angestrebt. Der Widerspruch gilt wesentlich auch für islamische Länder, in denen streng konservatives Denken herrscht, aber dennoch modernste Produkte technologischen Fortschritts konsumiert werden. Die innerislamischen, z. T. militärisch ausgetragenen Konflikte infolge der Erstarkung radikaler Bewegungen könnten zu einem Modernisierungsprozess religiöser Diskurse im I. führen, dessen verhaltene Ansätze leicht vernommen werden können. Ob sich dieser Prozess durchsetzen wird, kann noch nicht abgesehen werden. Dessen Erfolg stellt mit Sicherheit einen wichtigen Beitrag für friedliche Verhältnisse in der Welt dar.