Frieden

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  1. I. Ideengeschichtlich
  2. II. Rechtlich
  3. III. Theologisch-ethisch

I. Ideengeschichtlich

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1. Historische Entwicklungen, Begriffsbildung

Unter F. verstehen wir einen Zustand, in dem Leben, Freiheit und Sicherheit der Mitglieder einer Gesellschaft geschützt sind (im Minimalfall: in dem ihr Leben geschützt ist). Das Gegenteil dieses Zustands, also ständige Lebensbedrohung, nennen wir Krieg. Einfache Gesellschaften schützen das Leben der Einzelnen durch gemeinsame Verteidigungsbemühungen aller – oder sie überlassen ihren Schutz der Selbsthilfe der Einzelnen, die jedoch erfahrungsgemäß nicht ausreicht, um eine dauerhafte F.s-Ordnung zu begründen. In einfachen Verhältnissen erzwingt schon dieses Entweder-Oder Grundzüge einer „staatlichen“ Struktur: Um dem Tod zu entgehen, unterwerfe ich mich denen, die mich schützen können; um das Abgleiten in die Anarchie zu vermeiden, das bei individueller Selbsthilfe droht, übertrage ich einen Teil meiner Selbstmacht auf die Allgemeinheit.

F. war in historisch überblickbarer Zeit in keiner Gesellschaft „naturhaft“ gegeben. Er wurde und wird vielmehr geschaffen und gesichert kraft politischen Zusammenschlusses und herrschaftlicher Organisation der Gesellschaft. Dabei spielt die Zweiheit von „Innen“ und „Außen“ eine wichtige Rolle; F. im Inneren der Staaten und zwischen den Staaten. Im Inneren organisierter Gesellschaften können homogene F.s-Räume entstehen, in denen Gewalt tabuisiert ist, während „nach außen“, gegenüber anderen politischen Gebilden, Gewaltübung als mögliche Option weiterbesteht, jedoch durch Vertragsschlüsse und andere Abmachungen eingeschränkt und in überregionale F.s-Ordnungen überführt werden kann.

Neben F.s-Räumen, die sich vorwiegend im Inneren politischer Gebilde entwickeln, fallen historisch auch F.s-Zeiten von kürzerer oder längerer Dauer ins Auge. Sie sind nach innen weitgehend kultur- und religionsbezogen, im Äußeren setzen sie Vereinbarungen und Vertragsschlüsse voraus. F.s-Zeiten werden, da hier der F. unmittelbar benannt wird, oft symbolisch-religiös umkleidet: in der Antike durch die Öffnung bzw. Schließung der Bellona- und Arestempel, durch die Weihung der Ara Pacis auf dem Marsfeld durch Augustus, später durch Münzprägungen mit der Pax Augusta; im christlichen Mittelalter durch die in den Kirchen verkündete „Waffenruhe Gottes“ (Treuga Dei). Auch die modernen F.s-Schlüsse haben diesen aufrufenden, beschwörenden Charakter: Zumindest bis Wien (1815) werden sie „im Namen der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit“ abgeschlossen, also ausdrücklich unter Berufung auf etwas, das jenseits des Streits der Kriegsparteien liegt.

An diese historischen Entwicklungen schließt sich die Begriffsbildung an. In ältesten griechischen Nennungen erscheint F. (eiréne) in enger Verbindung mit díke (Recht), eunomía (Wohlverhalten) und plútos (Reichtum). In der griechisch-römischen Antike kommt F. doppelt vor: als ein durch Abgrenzung nach außen gesicherter innerer F.s-Raum im Rahmen der politeía wie auch als zwischenstaatliches Abkommen von übergreifender Bedeutung (der Name pax, lateinisch das Gefügte, erinnert an diesen Zusammenhang). Der F. (pax) wird in der römischen Kaiserzeit programmatisch vergöttlicht, er erscheint auf Münzen (seit Augustus) und im Kult der F.s-Tempel (seit Vespasian). Inhaltlich füllen v. a. die Kirchenväter den Begriff: so erscheint F. bei Augustinus als tranquillitas ordinis (Ruhe, die aus der Ordnung kommt). Die germanischen Sprachen heben v. a. die Sicherheit hervor, die durch Abgrenzungen und Bildung von Freundeskreisen entsteht: althochdeutsch Fridu bedeutet Schonung, Freundschaft; der Zusammenhang von F. und gesicherter Umgebung wird sichtbar („einfrieden“, „umfrieden“, „Friedstatt“, „Friedhof“).

Religiös-politische Homogenisierung im Inneren der Polis kann schon in der Antike zur völligen Befriedung, ja zum totalen Verzicht auf Gewaltmittel gegenüber den Gesetzesunterworfenen führen (Sokrates trinkt den Schierlingsbecher freiwillig!). Ähnliches geschieht in mittelalterlichen Klöstern, Grundherrschaften, Stadtregimenten und später in den Staaten der Neuzeit, wo mit fortschreitender Befriedung im Inneren (äußere) Politik zu innerer Ordnung (Polizei) wird. Der Preis ist freilich oft ein Verzicht auf überregionale Sicherungen: Dem Haus- oder Burg-F. entspr. (noch) kein Land-F., die zahlreichen F.s-Inseln bleiben in einer Diasporasituation, sofern nicht eine hegemoniale Übermacht sie in einen gemeinsamen F.s-Raum hineinzwingt (in der Spätantike: die Pax Romana). Daher tritt im Lauf der Geschichte neben der Sorge um innerstaatliche Befriedung immer wieder ein „ökumenisches“, die Einzelstaaten übergreifendes F.s-Bedürfnis hervor: so schon in den stoisch-kosmologischen Bewegungen der Spätantike, in der Pax-Dei-Bewegung des hohen Mittelalters, in den F.s-Plänen der Frühen Neuzeit, endlich in den modernen Bewegungen, die auf kollektive Sicherheit, Kriegsverhütung und Kriegsverbot abzielen.

2. Innerstaatliche Friedensräume

In der christlichen (oder doch von christlichen Anstößen geformten) Welt des Mittelalters stellt sich das F.s-Problem neu und anders als in der von Pax Romana durchwalteten (und zuletzt gefesselten) antiken Welt. Nicht die alles überherrschende Macht des Stärksten ist jetzt das Vorbild der neuen Ordnung, sondern das von unten in die Breite wirkende F.s-Streben kleiner Gemeinschaften, die in dem Maße, in dem sie die christliche Botschaft innerlich ergreifen und sich zu eigen machen, sich auch politisch homogenisieren und von der nichtchristlichen Außenwelt zu unterscheiden beginnen.

Drei geschichtliche Vorgänge treten beispielhaft in diesem Prozess hervor: a) die Bewegung des Gottes-F.s seit dem 10. Jh., b) der Gedanke einer auf Schiedsgerichte gegründeten F.s-Ordnung der christlichen Staaten, c) die Entstehung eines diese Staaten umschließenden Völkerrechts:

a) Die Bewegung des Gottes-F.s ergreift, von Südfrankreich kommend, im späten 10. und im 11. Jh. das ganze christliche Europa. Sie richtet sich gegen ein wesentliches Strukturelement der mittelalterlich-germanischen Welt, die Fehde, und wirkt insofern revolutionierend. Der Ausübung „rechter Gewalt“ durch autogene Gewaltträger wird durch Vermittlung der Kirche eine zeitliche und räumliche Grenze gesetzt: gewisse Personen (Geistliche, Kaufleute, Bauern), Orte und Sachen (Kirchen, Kirchhöfe, Ackergeräte) werden unter den Schutz des Gottes-F.s (Pax Dei) gestellt. Daneben werden in der Treuga Dei, der Waffenruhe Gottes, Gewalttaten und Fehdehandlungen zu bestimmten Tagen und Zeiten verboten. Der Gottes-F. wird beschworen, seine Verletzung mit kirchlichen und weltlichen Strafen bedroht.

b) An diese Bewegung des Gottes-F.s knüpft die von der weltlichen Autorität ausgehende Land-F.s-Bewegung nach Form und Inhalt an – jene Bewegung, die mit der Zeit in ganz Europa die autogenen Herrschaftsgewalten entmachtet, die Fehde durch Gericht und Polizei ersetzt, die Ausübung „rechter Gewalt“ beim Staat monopolisiert und damit den uns heute selbstverständlichen innerstaatlichen F.s-Raum schafft. In Deutschland wird 1495 unter Kaiser Maximilian I. auf dem Wormser Reichstag der „Ewige Landfriede“ verkündet, das Verbot jeglicher Fehde und Selbsthilfe; über seine Einhaltung soll ein ständig tagendes Reichskammergericht wachen. Land-F.s-Bruch als gemeinschaftliche Verübung von Gewalttaten durch eine Menschenmenge rückt von dieser Zeit an in die Reihe der Straftaten.

Im späteren Mittelalter werden dann erstmals Pläne einer durch Schiedsgerichtsbarkeit gesicherten dauernden F.s-Ordnung der europäischen Völker entwickelt. Der neugewonnene innerstaatliche F.s-Raum soll ausgeweitet werden in den zwischenstaatlichen Bereich. Gewiss bleibt das meiste noch im Stadium des Entwurfs, der Theorie: die Pläne von Pierre Dubois, Georg von Podiebrad, Erasmus von Rotterdam und später ihrer modernen Nachfolger Émeric Crucé und Maximilien Sully haben erst im 19. und im 20. Jh., mit der Heiligen Allianz, den Haager F.s-Konferenzen, dem Völkerbund und den Vereinten Nationen realpolitische Farbe gewonnen. Dennoch waren sie für die moderne Staatengesellschaft und die in ihr entwickelten Methoden der F.s-Sicherung von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

c) Auch das klassische Völkerrecht verdankt der christlichen Tradition die Hauptanstöße: den Gedanken der res publica christiana; den Gedanken der Ebenbürtigkeit der Monarchen als Voraussetzung für Staatengleichheit und Souveränität, endlich den Gedanken einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und eines Bundes der christlichen Völker. Es entwickelt diese Tradition in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jh. in einer Bewegung allmählicher Verallgemeinerung und Anpassung an unterschiedliche Kulturen zu einem internationalen „Recht der zivilisierten Staaten“ weiter. Es schafft reale Fortschritte: die strikte Begrenzung des Krieges auf den Staatenkrieg, die Beschränkung der Kriegführung auf die Kombattanten, die Schonung der Kriegsgefangenen, endlich die rechtliche Formalisierung des Krieges durch Kriegserklärung und F.s-Schluss. Je mehr sich der Krieg zum Staatenkrieg entwickelt, desto mehr kann sich im Inneren der Privat-F. des Bürgers ausdehnen, mit allen Vorteilen der Sicherheit für Leib und Leben und persönliches Eigentum („Der Bürger soll nicht einmal merken, wenn der König eine Bataille schlägt“ – Friedrich der Große).

F. wird vom modernen Staat zugeteilt in räumlichen und zeitlichen Quanten, die sich schließlich auf das ganze Staatsgebiet ausbreiten, den ganzen Untertanenverband einschließen. So entsteht ein geschlossener F.s-Raum nach innen, eine F.s-Zeit, die in die Zukunft reicht: Krieg als Mittel der Politik, Fehde als „rechte Gewalt“ werden aus dem privaten und innerstaatlichen Bereich verbannt. Diese konsequente innerstaatliche Befriedung ist eine bedeutende und singuläre Leistung des christlich-europäischen Staatenkreises – mit weltweiter Wirkung.

3. Zwischenstaatliche Friedensbemühungen

Der positiven Bilanz im innerstaatlichen Bereich steht ein Defizit im zwischenstaatlichen Bereich gegenüber. Bis heute erreichen die friedenssichernden und -regelnden Abmachungen zwischen den Staaten nicht entfernt die Dichte und Stabilität der F.s-Ordnung des Einzelstaats nach innen (trotz mancher Auflösungserscheinungen in jüngster Zeit). Die Gründe sind leicht einsichtig:

a) Der F.s-Gedanke kommt in der europäischen (und später internationalen) Gesellschaft zwar zur Geltung und Realisierung, jedoch im Wesentlichen im Rahmen der Einzelstaaten der europäischen Völkergemeinschaft und innerhalb der Grenzen einer christlichen (humanistischen, westlichen) Binnenethik. „Beyond the line“ gelten die Gesetze der Gewalt, trotz aller Bemühungen um eine Kolonialethik, bis in die Zeit des Imperialismus fort. Jenseits des Äquators ist der Europäer, nach dem Wort Guillaume Raynals, ein „gezähmter Tiger, der in den Wald zurückkehrt“.

b) Um den Krieg zwischen den Staaten endgültig abzuschaffen, fehlte und fehlt es bis heute an der entscheidenden Voraussetzung: am Vorhandensein wirksamer Sanktionen gegenüber dem F.s-Brecher. Zwar hat das Kriegsverhütungsrecht im 20. Jh. erheblich an Gewicht gewonnen. Mit dem Briand-Kellogg-Pakt (1928) wurde der Krieg als Mittel der Politik verboten und geächtet. Doch dieser Ächtung ist ein System wirksamer Rechtsvorkehrungen, welche die bisherige Funktion des Krieges ersetzt und entbehrlich gemacht hätten, bisher nicht gefolgt. Auch der IStGH in Den Haag, der seit 2002 arbeitet und der bei Völkermord, schweren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tätig werden kann (jedoch nur dann, wenn Staaten solche Delikte auf nationaler Ebene nicht verfolgen können oder wollen), ist kein solches „Weltgericht“: die größten Staaten der Erde (China, Indien, USA, Russland) gehören ihm nicht an.

c) Aber selbst wenn eine solche wirksame Sanktion gegen den F.s-Brecher im Weltmaßstab vorhanden wäre: gegen den Übergriff des Menschen gegen den Menschen wäre die Menschheit erst dann gefeit, wenn hinter solchen Institutionen gemeinsame Ordnungsvorstellungen der internationalen Politik, gemeinsame Prinzipien eines Weltrechts sichtbar würden. Dass sie fehlen, ist wohl der eigentliche Grund für das Versagen der Gegenwart im Bereich einer dauerhaften F.s-Ordnung.

Möglich scheint ein Ausweg, der sich in zwei- und mehrseitigen Abkommen der Staaten um konkrete Schritte der Abrüstung bemüht (Genfer Abrüstungsverhandlungen, SALT und START). Das Ziel wäre ein durch die Staatenpraxis legitimierter internationaler Gewaltverzicht. Daneben sind Bemühungen um gemeinsame Elemente eines Kriegsverhütungs- und F.s-Rechts im Weltmaßstab denkbar. Man wird jedoch im Bereich des zwischenstaatlichen F.s noch lange mit dem Schwergewicht von Abgrenzungs- und Gleichgewichtsvorstellungen der Politik (Gleichgewichtspolitik) rechnen müssen. Erst allmählich könnten sich zivilisatorische Bewusstseinsänderungen durchsetzen, die den Krieg eines Tages ebenso obsolet erscheinen lassen wie früher die Sklaverei oder die Tötung von Gefangenen.

II. Rechtlich

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1. Innerer und äußerer Frieden

Der moderne Staat ist F.s-Einheit: „Der erste, konstitutive Zweck des modernen Staates, von dessen Verwirklichung das Potential seiner sonstigen Zwecke abhängt, ist die Befriedung der Gesellschaft und die Herstellung des Gesamtzustandes der Sicherheit“ (Isensee 2004: 52). Der moderne Staat will seine Bürger vor Gewaltanwendung in seinem Inneren (zum Äußersten gesteigert im Bürgerkrieg) und vor Gewaltanwendung von außen, d. h. einem Angriffskrieg fremder Staaten, schützen. Entspr. lässt sich der Staatszweck der Wahrung des inneren F.s von dem der Wahrung des äußeren (oder internationalen) F.s unterscheiden. Während der innere F. durch die jeweilige staatliche Rechtsordnung bewahrt und die Beachtung der F.s-Pflicht der Bürger notfalls erzwungen werden muss (Polizei, Strafvollzug, Verwaltungsvollstreckung), beruht der äußere F., zu dem sich heute auch viele Staatsverfassungen bekennen, in rechtlicher Sicht auf den Normen und Instrumenten des Völkerrechts, da er in der Staatengesellschaft von keinem einzelnen Staat allein gesichert werden kann.

2. Vom klassischen Völkerrecht zum Völkerbund

Seit den Anfängen des modernen Völkerrechts ist der Krieg sein Thema und Problem. Bündnisse, Waffenstillstands- und F.s-Verträge sind die Haupttypen völkerrechtlicher Verträge vom Beginn der Neuzeit bis in das 19. Jh. hinein. Doch erst im 19. Jh. kam es zu allgemein akzeptierten völkerrechtlichen Normen über die Zulässigkeit zwischenstaatlicher Kriege, und zwar durch einen Verzicht auf die in der Staatenpraxis fruchtlos gebliebenen naturrechtlichen Bemühungen (Naturrecht), nur den „gerechten“, also nach Thomas von Aquin durch eine iusta causa und eine recta intentio gekennzeichneten Krieg einer zur Kriegführung autorisierten Macht (auctoritas principis) als völkerrechtlich erlaubt zuzulassen. Stattdessen billigte man den souveränen Staaten – allerdings auch nur ihnen – eine „Freiheit zum Kriege“ (liberum ius ad bellum) zu, gebunden nur durch die Pflicht zur Beachtung bestimmter Formen der Kriegserklärung. Zwar hielt bes. die angelsächsische Lehre an naturrechtlichen Vorstellungen und dem Begriff des gerechten Krieges fest, doch bestand substantiell kaum ein Unterschied zum „freien Kriegsführungsrecht“ kontinentaleuropäischer Prägung, weil man anerkannte, dass jeder tatsächliche Krieg zwischen den kriegführenden Parteien ein Rechtsverhältnis mit bestimmten Rechtsfolgen etablierte – unabhängig von den geltend gemachten Kriegsgründen. Die „Gerechtigkeit“ eines Krieges war damit grundsätzlich zu einem juristisch irrelevanten Problem der politischen Ethik geworden. Dies machte es möglich, beide Parteien eines Krieges als gleichberechtigt anzusehen, dritte Staaten einen Status der Neutralität einnehmen zu lassen sowie Verträge zur Humanisierung der Kriegsführung zu schließen.

Erst die Erfahrung des Ersten Weltkrieges mit seinen ungeheuer großen Verlusten an Menschenleben und materiellen Gütern führte zur Abkehr vom freien Kriegsführungsrecht. Doch versprach eine Wiederbelebung der alten Unterscheidung zwischen erlaubten und unerlaubten Kriegen keinen Erfolg. Vielmehr ging man 1919 einen neuen, von den Haager F.s-Konferenzen der Jahre 1899 und 1907 bereits vorgezeichneten und der gewachsenen Interdependenz der Staaten entsprechenden Weg: Man erklärte den Krieg zur gemeinsamen Angelegenheit der Staatengemeinschaft, seine Verhütung zu einer internationalen Gemeinwohlaufgabe (Gemeinwohl). Gleichzeitig wurde diese Staatengemeinschaft handlungsfähig gemacht, indem sie in Gestalt des Völkerbundes dauerhaft organisiert wurde. Die Satzung des Völkerbundes postulierte – anders als die spätere UN-Charta von 1945 – noch kein generelles Kriegsverbot, sondern setzte im Wesentlichen auf eine Verhinderung oder wenigstens Verzögerung des Ausbruchs von Kriegen durch obligatorische multilaterale streitschlichtende Verfahren. Der Versuch, das komplizierte und nicht widerspruchsfreie Regelwerk der Völkerbundsatzung mit dem Genfer Protokoll vom 2.10.1924 weiterzuentwickeln, scheiterte. Das Protokoll bezeichnete den Angriffskrieg als ein „internationales Verbrechen“ und enthielt ein Verbot jedes Angriffskrieges. Am 16.10[. .]1925 schlossen Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien den Vertrag von Locarno, der ein Angriffskriegsverbot nach dem Vorbild des Genfer Protokolls enthielt. Am 27.8.1928 kam es in Paris auf Initiative der Außenminister Frankreichs und der Vereinigten Staaten, Aristide Briand und Frank B. Kellogg, außerhalb des Völkerbundes zum Abschluss des „Paktes über die Ächtung des Krieges“. Der Pakt verbot jeden Krieg, ausgenommen nur den Verteidigungskrieg sowie den international verhängten Sanktionskrieg, doch fehlten Bestimmungen über Verfahren der friedlichen Streitbeilegung ebenso wie solche über Sanktionen im Falle einer Verletzung des Paktes.

3. Das System kollektiver Sicherheit der UN-Charta

Erst die Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945 (UN-Charta) begründete am Ende des Zweiten Weltkriegs ein allgemeines zwischenstaatliches Verbot der Anwendung und Androhung militärischer Gewalt (Art. 2 Nr. 4). Als einzige Ausnahme erkennt die Charta in Art. 51 im Falle eines „bewaffneten Angriffs“ das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht der Staaten an. Doch darf ein Angriff nur abgewehrt werden, bis der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die notwendigen Maßnahmen getroffen hat. Das friedenswahrende System der Charta versteht unter F. (peace, international peace) zunächst die Abwesenheit militärischer Gewalt zwischen den Staaten (sogenannter negativer F.s-Begriff). Doch zeigt der Kontext, in den die Präambel und die Art. 1 und 2 das Gewaltverbot gestellt haben, dass zum F.s-Programm der Charta auch die Sicherung der Würde und der Grundrechte des Menschen, sozialer Fortschritt und die Selbstbestimmung aller Völker gehören (sogenannter positiver F.s-Begriff). Die verschiedenen Ziele werden als sich wechselseitig bedingend aufgefasst. Auf dieser Grundlage hat der Sicherheitsrat in jüngerer Zeit auch schwere und systematische Menschenrechtsverletzungen innerhalb eines Staates als eine Bedrohung des Welt-F.s charakterisiert.

Das umfassende Gewaltverbot der UN-Charta beruhte auf der Erwartung, der Sicherheitsrat, dem die Mitglieder der Vereinten Nationen „die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ (Art. 24) übertragen haben, werde wirksame Kollektivmaßnahmen treffen, „um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“ (Art. 1 Nr. 1). Diese Erwartung ist während des sogenannten Kalten Krieges wegen der Uneinigkeit von Ost und West fast vollständig und in der Zeit nach 1990 häufig enttäuscht worden (siehe z. B. die Jugoslawien-Kriege 1991–95, den Kosovo-Krieg von 1999, die bewaffneten Konflikte im Kongo seit 1996, in der Ukraine seit 2014 oder den Syrien-Krieg seit 2011).

Militärische Maßnahmen der vereinten Nationen stellte sich die Charta so vor, dass die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat Streitkräfte zur Verfügung stellen würden, über deren Einsatz der Sicherheitsrat eigenständig entscheiden könnte. Dazu sind die Mitgliedstaaten aber (entgegen ihrer Verpflichtung durch die Charta) bis heute nicht bereit gewesen. Der Sicherheitsrat kann daher faktisch nur einzelne Staaten „autorisieren“ (ermächtigen), zur Durchsetzung seiner Beschlüsse militärische Gewalt anzuwenden. Dies geschah erstmals im Jahr 1990 nach der Besetzung Kuwaits durch Irak, als der Sicherheitsrat die mit Kuwait verbündeten Staaten (in erster Linie die USA) ermächtigte, „alle notwendigen Mittel“ zur Befreiung von Kuwait einzusetzen (Res. 678 vom 29.11.1990).

Während der Völkerbund von dem souveränitätsschonenden Einstimmigkeitsprinzip beherrscht war, stärkte die UN-Charta die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates durch eine Ermöglichung von Mehrheitsbeschlüssen (Art. 27). Zu den zustimmenden (oder, nach der späteren Praxis, sich wenigstens der Stimme enthaltenden) Staaten müssen allerdings alle in den Rang von ständigen Ratsmitgliedern erhobenen fünf Großmächte – China, Frankreich, die UdSSR (heute Russland), Großbritannien und die USA – gehören (Art. 27 Abs. 3); ein Erfordernis, das jedem dieser Staaten ein Vetorecht gegen Beschlüsse des Rates gewährt und diese Staaten und ihre Verbündeten damit praktisch von der Anwendung des Sanktionsregimes der Charta ausnimmt.

Die Hoffnung der auf das Ende des Kalten Krieges folgenden Jahre, man werde nunmehr dem von der Charta vorgesehenen System der F.s-Sicherung effektive Wirkung verschaffen können, erfüllte sich nicht. Hauptprobleme der Zulässigkeit der Anwendung bewaffneter Gewalt – wie die Voraussetzungen der Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts („präventive“ und „präemptive“ Selbstverteidigung), die Zulässigkeit einer Verteidigung gegen nichtstaatliche Akteure („Krieg gegen den Terror“) oder sogenannter humanitärer Interventionen zum Schutz eigener oder fremder Staatsangehöriger – sind bis heute ungelöst geblieben. Auch zu einer Reform des Sicherheitsrates, die seine Zusammensetzung und sein Verfahren (Vetorecht der ständigen Mitglieder) an die Bedingungen der Gegenwart anpassen würde, ist es trotz vieler Vorschläge und Diskussionen in der UN-Generalversammlung nicht gekommen. Dementsprechend suchen die Staaten ihre Sicherheit noch immer durch eigene Streitkräfte, Rüstungsanstrengungen und eine Mitgliedschaft in Verteidigungsbündnissen wie der NATO zu gewährleisten.

4. Friedenssicherung als politische Aufgabe

Die Bilanz internationaler F.s-Sicherung durch völkerrechtliche Verbotsnormen seit 1919 ist negativ. Weder die beschränkten Kriegsverbote der Völkerbundsatzung noch das umfassende Gewaltverbot der UN-Charta haben die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt. Die teils fehlende, teils mangelhafte Ergänzung der Kriegsverbote durch obligatorische Streitbeilegungsverfahren, verbindliche Regeln über „friedlichen Wandel“ (peaceful change) sowie über Abrüstung und Rüstungskontrolle hat ihre Wirkung beeinträchtigt. Häufig haben sich Staaten missbräuchlich auf das Selbstverteidigungsrecht berufen; nur ausnahmsweise ist die internationale Gemeinschaft, handelnd durch den UN-Sicherheitsrat, ihrer Verantwortung nachgekommen. Den F. zwischen den beiden von der UdSSR einer- und den USA andererseits angeführten politischen und militärischen Blöcken sicherte vom Ende der 1940er Jahre bis zum Untergang des Ostblocks 1989/90 nicht das Gewaltverbot, sondern das militärische, insb. das atomare Gleichgewicht beider Seiten mit ihrer Fähigkeit der „gegenseitigen Zerstörung“.

Die Sicherung des Welt-F.s durch die Vermeidung und gegebenenfalls friedliche Beilegung von Streit bleibt im Wesentlichen eine politische Aufgabe der Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, für deren Erfüllung das Völkerrecht materielle Kriterien und verfahrensmäßige Mittel bereitstellt. „Der Krieg ist nicht eine andere, wenn auch nur weniger gute Form von Politik; Krieg ist vielmehr Misslingen von Politik“ (Wilkens 1987: 1006). Notwendige Grundlage aller Bemühungen ist die Förderung einer Kultur des F.s und ein Zurückdrängen des nationalen und kontinentalen Egoismus zugunsten eines Denkens und Handelns im menschheitlichen Zusammenhang. In diesem Sinne spricht die Schweizer Bundesverfassung vom 18.4.1999 in ihrer Präambel eindrucksvoll von dem Bestreben des Schweizervolkes und der Kantone, „Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken“. Ähnliche Ziele – darunter die „Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts“ – formuliert für die europäische Außenpolitik Art. 21 des EU-Vertrags idF von Lissabon vom 13.12.2007.

Unter den gegenwärtigen Bedingungen der internationalen Ordnung kann der Friede nur in „vielen kleinen Schritten, mit denen man sich jeweils in konkreten Fragen um ausgewogene Kompromisse bemüht“ (Grewe 1985: 28), gesichert werden, und zwar möglichst entlang von Wegsteinen, auf die sich die Staaten völkerrechtlich verständigt haben. Was an einzelnen Schritten erfolgen kann und muss, ist bekannt: Potentielle zwischen- und innerstaatliche Konflikte müssen rechtzeitig erkannt und gelöst, friedensbedrohende Situationen (etwa Grenzstreitigkeiten oder religiöse Spannungen) friedlich bereinigt, typische Konfliktursachen (wie Armut und Hunger, Knappheit natürlicher Ressourcen, Diskriminierung und Unterdrückung von Minderheiten) präventiv angegangen werden. Abrüstung und Rüstungskontrolle bleiben eine dauernde Aufgabe, insb. hinsichtlich der atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen (ABC-Waffen). F.s-Verträge und ihnen funktionell entsprechende Resolutionen des UN-Sicherheitsrates müssen um einen nachhaltigen, zukunftsorientierten und auch für die unterlegene Seite akzeptablen Ausgleich bemüht sein. Für den Fall akuter Krisen muss rasches und wirkungsvolles crisis management vorbereitet sein. Die westeuropäische Verschränkung der politischen und wirtschaftlichen Interessen der Staaten sowie ihrer Streitkräfte, die Kriege zwischen ihnen unmöglich werden ließen, bleibt ebenso ein zukunftsweisendes Modell wie die schrittweise Annäherung von Ost und West im Rahmen der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE, KSZE).

Bei aller Einsicht in die Grenzen internationaler F.s-Sicherung durch völkerrechtliche Normen gilt aber: Das Gewaltverbot der UN-Charta ist das Ergebnis eines langen, schweren und leidvollen Lernprozesses der Völker bzw. jener politischen Eliten, die das Schicksal ihrer Völker bestimmen. Es ist Ausdruck und Folge europäischen Rechtsdenkens, welches seinerseits von christlich-naturrechtlichen Vorstellungen geprägt ist. Der Blick zurück auf die Geschichte von Krieg und F. seit dem 16. Jh. mahnt zur Vorsicht gegenüber einer Neigung, ein so mühevoll errungenes Rechtsinstitut preiszugeben oder zu schwächen. Blickt man auf die Welt von heute, auf den Stand ihrer Integration in politischer, wirtschaftlicher und auch gesellschaftlicher Hinsicht, so gibt es zu dem Weg der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen keine Alternative. Ein anderer globaler Ordnungsrahmen als der des Rechts ist nicht in Sicht. Eine rechtlich geordnete Weltgesellschaft aber ist unvereinbar mit einer einseitigen, unkontrollierten Anwendung militärischer Gewalt durch einzelne ihrer Teile, auch der wirtschaftlich oder militärisch stärksten. „Friedensordnung bedeutet Rechtsordnung“ (Trillhaas 1975: 764).

III. Theologisch-ethisch

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F. ist ein normativer Begriff: Unfriede und Gewalt, die Menschen erdulden, sollen nicht sein, sondern sind zu überwinden. Krieg dauerhaft und gesichert durch die Schaffung einer politischen F.s-Ordnung zu überwinden, ist die zentrale politisch-ethische Herausforderung sowohl innerhalb politischer Gemeinwesen als auch in der internationalen Gemeinschaft. Die dauerhafte Überwindung von Krieg und Gewalt setzt voraus, dass über die Abwesenheit von Krieg hinaus ein positiver F. angestrebt wird. Ein solcher normativer Begriff hat eine erhebliche inhaltliche Füllung durch die biblische (F.s-)Botschaft erhalten.

1. Frieden als theologisch-ethischer Begriff

Die messianische Erwartung Israels zielt angesichts der Erfahrung von Krieg und Gewalt auf einen „Fürst des Friedens“ (Jes 9,5). Die frühe Kirche erkennt Jesus Christus als diesen Messias (Eph 2,14). Mit Christus hat der F. als im Glauben erfahrenes Geschenk Gottes unter den Menschen und Völkern angefangen; F.s-Stifter werden „Kinder Gottes“ (Mt 5,9) genannt. Dieser theologische F.s-Begriff wirkt im Verlauf der abendländischen Geschichte erheblich auf den politischen F.s-Begriff ein: F. wird als anzustrebender Zustand einer Gesellschaft verstanden, in deren Zentrum die Realisierung der Menschenwürde steht und die Grundwerte Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Liebe bzw. Solidarität verwirklicht werden sollen (Johannes XXIII.: Enzyklika „Pacem in terris“). Als ethisch relevante Schritte eines politischen Prozesses auf eine F.s-Ordnung hin sollen fundamentale Menschenrechte anerkannt, eine Rechtsordnung errichtet, ein gewisses Mindestmaß an sozialer Gerechtigkeit verwirklicht werden und die Bürger an politischen Entscheidungen partizipieren können. F. in einem politischen Gemeinwesen ist theologisch-ethisch als unabgeschlossener, andauernder Prozess zu verstehen.

2. Frieden durch politische Ordnung und Recht

Zumindest in funktionierenden demokratischen Rechtsstaaten ist ein hohes Maß an F. in der Gesellschaft erreichbar. Jedoch müssen Staaten im Zuge der Globalisierung gegenüber globaler Klimaveränderung, internationalem Terrorismus, der Finanzindustrie etc. einen Verlust an politischer Gestaltungsmacht hinnehmen. Gegen diesen Trend versuchen die in der EU zusammengeschlossenen Staaten durch die Bündelung von Hoheitsrechten politische Gestaltungsmacht zurückzugewinnen. Zugleich wird dieser politische Integrationsprozess international als positives Vorbild der strukturellen Überwindung von Krieg und Gewalt zwischen Staaten betrachtet. Die internationale Gemeinschaft steht jedoch vor gewaltigen ethischen Herausforderungen: Mit der Gründung der UNO und der internationalen Gerichtsbarkeit hat sie sich in einer großen zivilisatorischen Leistung über erste Grundlagen einer internationalen F.s-Ordnung verständigt, die jedoch noch erhebliche Defizite aufweisen.

Seit dem Beginn des 20. Jh. (Völkerbund) kommt die schon mittelalterliche Erkenntnis wieder zum Tragen, dass „Friedenswahrung (zwischen politischen Gemeinwesen) und eine funktionsfähige Gerichtsbarkeit nicht von einander zu trennen sind“ (Janssen 1995: 236). Dahinter steht die Erfahrung, dass Konflikte zwischen Gemeinwesen unausweichlich sind und zu ihrer friedlichen Lösung eine Rechtsordnung, die alle in gleicher Weise verpflichtet und unparteiisch durchgesetzt wird, das verlässlichste Instrument ist. Daraus ergeben sich ethische Herausforderungen der internationalen Ordnung: Die UNO ist lediglich auf die Kriegsverhinderung durch Staatensolidarität hin konzipiert; aufgrund des Veto-Rechts der fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ist sie in wesentlichen Entscheidungen, die den Welt-F. betreffen, nicht unparteilich.

Mit dem IGH steht den UN-Mitgliedstaaten der Rechtsweg zur Lösung von Konflikten prinzipiell offen; allerdings ist der IGH de facto ein Schiedsgerichtshof. Dem internationalen Recht fehlt noch die ethisch gebotene Rechtsdurchsetzung. Als ethisch bedeutsamer Zwischenschritt zur Überwindung der Anarchie des internationalen Systems kann die von der Global Governance (Governance) Theorie beschriebene Netzwerkstruktur der internationalen Beziehungen verstanden werden. Spätestens mit der Unterzeichnung der AEMR (1948) hat sich einerseits die Erkenntnis durchgesetzt, dass internationales Recht eine ethische Grundlage braucht und sie in den Menschenrechtserklärungen finden kann. Andererseits wird über die Frage von Kulturdifferenz und Gradualität des Geltungsanspruchs gestritten.

3. Herausforderung durch Terrorismus

Das Recht als prinzipiell akzeptierte Grundlage friedlichen internationalen Zusammenlebens wird durch inter- bzw. transnationalen Terrorismus herausgefordert, indem terroristische Akteure geltende rechtliche und moralische Regeln unterlaufen. Eine ethisch verantwortliche Auseinandersetzung mit dem Terrorismus muss sich auch der Frage nach den politischen Ursachen stellen. Die Debatten über die politischen Reaktionen auf den inter- bzw. transnationalen Terrorismus gipfeln in der Frage, wie sich rechtstaatliche Gesellschaften gegen einen Gegner zur Wehr setzen sollen, dessen Strategie faktisch dazu führt, Rechtsstaaten zu nicht rechtskonformen Abwehrhandlungen zu bewegen: In welchem Maß sollte die Freiheit eingeschränkt werden, um die Sicherheit der Bevölkerung zu erhöhen? Gegenüber dieser Infragestellung sollte sich die Einsicht durchsetzen, dass rechtstaatliche Gesellschaften ihre Freiheit durch das weitreichende Nachgeben gegenüber einem letztlich unstillbaren Bedürfnis nach Sicherheit abschaffen würden. Die Abwehr des Terrorismus findet daher ihre ethische Grenze zumindest dort, wo sie die freiheitlichen Grundlagen der rechtstaatlichen Gesellschaft und des internationalen Zusammenlebens unterminiert. In diesem Rahmen ist das absolute Verbot der Folter auch angesichts terroristischer Bedrohungen unterstrichen worden.

4. Religion: Gewaltlatenz oder Friedensfaktor?

Mit der These, religiös-kulturell motivierte Kriege stellten die größte Gefahr dar, hat Samuel Huntington 1993 eine breite Debatte über die Ambivalenz und die Gefahr der ideologischen Verzweckung von Religionen für Krieg und Gewalt angefacht. Wenn Interessenkonflikte religiös aufgeladen werden, können sie in einen Kampf transformiert werden, in dem alle Mittel um eines höheren Zieles willen erlaubt scheinen und der Gegner jedes Recht verliert.

Bereits 1986 haben sich auf Initiative von Papst Johannes Paul II. Vertreter aller großen Weltreligionen in Assisi getroffen, um mit ihrem Gebet für den F. ein Zeichen gegen ideologische Instrumentalisierung von Religion zu setzen. Religiöse Wahrheitssuche soll in Achtung und Respekt vor dem Andersdenkenden und -glaubenden geschehen. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11.9.2001 trafen sich Vertreter der Weltreligionen erneut in Assisi und erklärten: „Wir verpflichten uns, unsere feste Überzeugung zu proklamieren, dass Gewalt und Terrorismus im Kontrast zu jedem echten religiösen Geist stehen. Wir verurteilen jeden Rückgriff auf Gewalt und Krieg im Namen Gottes oder der Religion […]“ (Nr. 1 Friedenserklärung von Assisi). Im islamischen Raum steht u. a. die Initiative „A Common Word“ aus Jordanien für das Bemühen um das interreligiöse Gespräch. Mit F.s-Worten und Denkschriften positionieren sich christliche Kirchen regelmäßig, um ethische Prinzipien internationalen friedlichen Zusammenlebens in die gesellschaftliche Debatte einzubringen. Zudem engagieren sich religiöse Akteure wie die „Gemeinschaft Sant’Egidio“ auch durch F.s-Verhandlungen zur Beendigung von Gewalthandlungen. Die kirchliche Entwicklungsarbeit zählt durch ihren Einsatz für Gerechtigkeit zu den christlich motivierten F.s-Initiativen; gleiches kann für andere Religionsgruppen festgestellt werden. Als Herausforderung an die eigene Haltung muss das Zeugnis der F.s-Kirchen für die Gewaltlosigkeit verstanden werden.

5. Schutzverpflichtung gegenüber Menschenrechten

Als Reaktion auf die Genozide in Ruanda (1994), Srebrenica (1995) und Kosovo (1999) hat sich eine Debatte über die Schutzverpflichtung (responsibility to protect) entwickelt: Staatliche Souveränität wird neuinterpretiert als Schutzverpflichtung des Staates gegenüber seinen Bürgern. Auf diese Weise sollen fundamentale Menschenrechte als Grundlage des internationalen Zusammenlebens wenigstens ansatzweise verankert und geschützt werden. Das Konzept der Schutzverantwortung wurde 2005 von der UN-Generalversammlung angenommen; es basiert auf drei Säulen:

a) Jeder Staat hat die Verpflichtung, alle auf seinem Territorium befindlichen Menschen vor schwersten Menschenrechtsverletzungen (Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberungen) zu schützen.

b) Der internationalen Gemeinschaft kommt die subsidiäre Verantwortung zu, die Einzelstaaten bei der Wahrnehmung ihrer primären Schutzverpflichtung präventiv, bspw. durch Kapazitätsaufbau und die Errichtung von Frühwarnmechanismen, zu unterstützen.

c) Im Falle eines offensichtlichen staatlichen Versagens bei der Erfüllung seiner Schutzverpflichtung ist die internationale Gemeinschaft befugt, Zwangsmaßnahmen bis hin zu militärischen Mitteln anzuwenden, um das Überleben einer gefährdeten Bevölkerungsgruppe zu gewährleisten.

Da die Entscheidung über eine militärische Schutzverpflichtung beim UN-Sicherheitsrat liegt, hängt die Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft vom politischen Handlungswillen der Veto-Mächte ab. Allerdings könnte die UN-Generalversammlung aufgrund der „Uniting for Peace“-Prozedur aktiv werden und eine entsprechende Empfehlung abgeben.

6. Wiederaufbau nach Gewaltkonflikten

Erst in jüngerer Zeit hat die ethische Auseinandersetzung mit dem Wiederaufbau von Staaten nach einem Gewaltkonflikt (state-building) als Forderung der Gerechtigkeit gegenüber der betroffenen Gesellschaft begonnen. Der Wiederaufbau lässt sich auch als Gebot der Klugheit begründen, künftige potenzielle Konflikte an der Wurzel zu überwinden, da etwa die Hälfte aller beendeten Kriege nach einigen Jahren wieder ausbrechen, wenn ihre Ursachen nicht überwunden werden. Die Debatte über das internationale Engagement in Afghanistan hat gezeigt, dass auch eine wohlmeinende Intervention in einem Staat oder einer Gesellschaft von außen häufig unhinterfragte Vorstellungen politischer und kultureller Ordnung aufoktroyiert. Hilfe von außen kann aber nur nachhaltig wirken, wenn die empfangende Bevölkerung Zeit und Raum bekommt, sich die angebotene Hilfe zu Eigen zu machen oder abzulehnen (Prinzip ownership). Eine kluge Intervention soll die Gesellschaft i. S. d. Subsidiaritätsprinzips (Subsidiarität) darin unterstützen, das für sie selbst Richtige zu entwickeln. Die internationalen Geldgeber sollten die Vergabe von Aufbauhilfen an nachprüfbare Bedingungen knüpfen; so sollten die Zweckbindung wie die Gemeinwohlorientierung (Gemeinwohl) der Hilfen durch unabhängige Kontrollmechanismen überwacht werden. Ungelöst erscheint derzeit die Frage, auf welche Weise nach einem Konflikt staatliche Sicherheit hergestellt werden kann, ohne der Bevölkerung das Gefühl der Besatzung von außen zu geben; diese Situation verschärft sich, wenn sie durch Kulturdifferenz überlagert wird. Wenn die durch die internationale Intervention unterstützte Regierung eine stark defizitäre Gemeinwohlorientierung bis zu Klientelismus und Korruption sowie Defizite bei der politischen Partizipation von Teilen der Bevölkerung aufweist, droht die gesamte Aufbauhilfe der internationalen Gemeinschaft damit identifiziert und von der benachteiligten Bevölkerung abgelehnt zu werden. Nachhaltigkeit auch im temporären Sinn gehört zu den wichtigsten Forderungen: Das Engagement für die Überwindung von Gewaltursachen durch den Aufbau einer friedlichen Gesellschaft muss Jahrzehnte – nicht nur wenige Jahre – durchgehalten werden können, analog zu Entwicklungsprojekten.

7. Gesellschaftliche Versöhnung

Über den äußeren Wiederaufbau hinaus steht nach dem Ende gewaltsamer Konflikte die gesellschaftliche Bearbeitung der Gewalterfahrungen vor einer wirklichen Befriedung. Hier wird zuerst der innereuropäische Versöhnungsprozess insb. Deutschlands mit seinen Nachbarn nach dem Zweiten Weltkrieg genannt. Seit den 1990er Jahren sind mit dem Ende des Apartheidregimes (Apartheid) in Südafrika, der Überwindung von Militärdiktaturen in Lateinamerika, aber auch angesichts innerstaatlicher Kriege wie in Bosnien-Herzegowina kollektive Versöhnungsprozesse als Schlüssel für die politische Zukunft dieser Gesellschaften in den Blick gerückt. Wahrheitsorientierten Versöhnungsprozessen geht es um die Aufdeckung der Wahrheit über das Unrechtssystem mit dem Ziel der Heilung der Gesellschaft. Die Arbeit einer Wahrheits- und Versöhnungskommission (truth and reconciliation commission) setzt am zerrütteten Verhältnis zwischen Opfern und Tätern an. Die Anerkennung des Rechts auf Wahrheit über das geschehene Unrecht stellt eine rudimentäre Anerkennung der Würde der Opfer dar. Dabei soll auch ein umfassendes Bild des politischen Unrechtssystems gezeichnet werden. Problematisch an Wahrheits- und Versöhnungskommissionen ist, dass sie i. d. R. als Instrument „ausgehandelter Revolution“ bspw. in Südafrika oder Argentinien zwischen alten und neuen Eliten erscheinen; weil sich Akteure des alten Regimes einer weitergehenden rechtlichen Aufarbeitung widersetzten, blieb als Kompromiss der Deal „Wahrheit für Amnestie“. In Südafrika weigerten sich viele Täter, persönliche Schuld einzugestehen. Unter „Versöhnung durch Gerechtigkeit“ wird die rechtliche Aufarbeitung mit dem Ziel der Stärkung des Rechtsvertrauens verstanden. Ob es der Versöhnung dient, wenn öffentlich festgestellt wird, wer Recht gebrochen und wer Unrecht erlitten hat, ist umstritten.

Versöhnung zwischen Völkern und Staaten, dies zeigt der polnisch-deutsche Versöhnungsprozess exemplarisch, bedarf der Initiativen von Individuen oder Partikulargruppen aus der Gesellschaft, die Verantwortung für das Ganze übernehmen und Initiativen starten in der Hoffnung, die übrige Bevölkerung in einen Versöhnungsprozess hineinzuziehen. Dabei bitten Repräsentanten, die ihrerseits kein unmittelbares Unrecht begangen haben, stellvertretend um Vergebung für die Schuld eines Volkes, um mit dem von einer vorherigen Generation verübten Unrecht, das Teil der kollektiven Identität des jeweiligen Volkes ist, angemessen umzugehen. Repräsentanten des Gemeinwesens wie auch die Bürger als Individuen tragen eine moralische Verpflichtung für die Aufdeckung des Unrechts, für die Erinnerung an das Unrecht wie an die Opfer, für Wiedergutmachung, soweit dies möglich ist, und die Verpflichtung, solches Unrecht in der Zukunft zu verhindern. Papst Johannes Paul II. hat sich durch das mehrfache Schuldbekenntnis um die Versöhnung zwischen den Kirchen und Religionen bemüht.

8. Krisenprävention

In Politik und Gesellschaft wird zunehmend die Forderung nach ziviler Krisenprävention laut. Direkte Prävention zielt darauf, gewaltsame Eskalation zu unterbinden; strukturelle Prävention soll den auch institutionellen Rahmen setzen, in dem Konflikte ohne Gewalt gelöst werden können, und gewaltsamen Konfliktaustrag verhindern. Der ethisch gut begründbaren Forderung nach ziviler Verhütung, Eindämmung und Bewältigung von Konflikten (Krisenprävention) stehen jedoch wenig gesicherte Einsichten über ihre Wirksamkeit gegenüber. Zugleich ist hier u. a. die Schnittstelle zu der gerechtigkeitsorientierten internationalen Zusammenarbeit markiert, insofern die Erfahrung von Ungerechtigkeiten häufig den Grund für Gewalteskalation darstellt. Zu wesentlichen F.s-Gefährdungen v. a. für die jeweils eigene Bevölkerung haben sich schwache und zerfallende Staaten (Failed state) herausgestellt, in denen unterschiedliche substaatliche Akteure wie (terroristische) Milizen partikulare Interessen gegeneinander oder im Kampf gegen die schwache Staatsgewalt durchzusetzen versuchen. Die Zivilbevölkerung wird dabei häufig so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass ihr nur noch die Flucht (Flucht und Vertreibung) in andere Landesteile oder das Ausland bleibt. Weltweit sind nach UN-Angaben fast 60 Mio. Menschen auf der Flucht (Stand: Ende 2014), ohne dass die internationale Gemeinschaft eine Antwort auf dieses Drama findet.