Grenze

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  1. I. Philosophisch
  2. II. Rechtlich
  3. III. Gesellschaftliche und politische Relevanz

I. Philosophisch

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Der Ausdruck „G.“ markiert ein Phänomen, das jeden Menschen unmittelbar betrifft: An G.n stößt man; sie sind das Äußerste oder Letzte von etwas, d. h. „das Erste, außerhalb dessen sich kein Teil findet, und das Erste, innerhalb dessen alles ist“ (Aristoteles, Metaphysik, 1022a4 f.). Hier endet etwas an einem anderen und durch das andere. Daher gibt es dort, wo eine G. ist, immer auch ein Zweites. G.n trennen aber nicht nur, sondern verbinden auch immer. Nach Immanuel Kant setzen G.n bei ausgedehnten Gegenständen immer schon „einen Raum voraus, der außerhalb einem gewissen bestimmten Platze angetroffen wird, und ihn einschließt“ (Kant 1998: 227). Schranken dagegen „bedürfen dergleichen nicht, sondern sind bloße Verneinungen, die eine Größe affizieren, so fern sie nicht absolute Vollständigkeit hat“ (Kant 1998: 227). Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel dagegen sind Schranken negierte G.n: „Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist“ (Hegel 1986: 144). Das Begrenztwerden durch anderes ist zumeist der Grund dafür, warum G.n gleich welcher Art als Problem (der Grenzziehung, der Grenzüberschreitung etc.) erfahren werden. Eine solche Problematisierung setzt allerdings die Fähigkeit voraus, G.n nicht nur zu erkennen und darauf zu reagieren, sondern sich auch zu diesen in ein Verhältnis zu setzen.

1. Grenzen des Seienden

„G.“ wird in den verschiedenen Epochen sowie in den verschiedenen Disziplinen der Philosophie in je anderer Weise thematisiert. Der Begriff „G.“ wird sowohl phänomenal-deskriptiv als auch kriterial gebraucht. Während für Anaximander das apeiron (= was keine G.n hat), ein räumlich unbegrenzter und auch qualitativ unbestimmter Urstoff, das Prinzip ist, aus dem das Seiende hervorgeht und in das hinein es nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit wieder vergeht, rücken bei Parmenides die G.n des Seienden in den Mittelpunkt: Diese sind keine G.n im zeitlichen oder räumlichen Sinn. Vielmehr halten sie das als unentstanden, unvergänglich, homogen, einzigartig und vollendet gedachte Seiende vom Werden und Vergehen und damit vom Nicht-Seienden ab; es sind G.n eines konsequenten Seinsdenkens. Die Orientierung an Maß (metron) und G. (peras), und zwar sowohl in kosmologischen als auch in ethischen Zusammenhängen, tritt bes. deutlich in Platons Spätphilosophie hervor; harmonische Ordnung kommt nur durch Verbindung des Unbegrenzten mit der G. zustande. Auch Aristoteles, für den das Unendliche nicht aktual (wohl aber potentiell) existieren kann, orientiert seine Metaphysik am Begrenzten und Bestimmten: Selbständig und „ein bestimmtes Etwas“ (Aristoteles, Metaphysik, 1029a27 f.) zu sein ist das, was in höchstem Maß der Substanz (ousia), dem primär Seienden, zukommt. Er unterscheidet vier Bedeutungen von G.:

a) das Äußerste eines Dings

b) die äußere Gestalt ausgedehnter Dinge

c) das Ziel einer Bewegung oder Handlung

d) die Essenz als G. der Erkenntnis sowie der Sache

Auch in der Ethik gilt, dass das Schlechte zum Bereich des Unbegrenzten, das Gute zum Bereich des Begrenzten gehört. Nach Augustinus ist jede geschaffene Natur durch Maß (modus), Gestalt (species) und Ordnung (ordo) bestimmt. Seine definitive Gestalt findet dieses eidetische Denken in der mittelalterlichen Transzendentalienlehre: Jedes Seiende ist, insofern es von einem anderen abgeteilt ist, ein aliquid, d. h. ein aliud quid (= ein anderes Was). Alles, was ist, hat eine G. und aufgrund dieser Begrenzung eine Bestimmtheit, die sich in der Definition (horismos; definitio) ausdrückt. „G.“ ist somit eine Grunddimension von Sein.

2. Grenzen der Vernunft

Die G.n der Vernunft (Vernunft – Verstand) und der Sprache kommen durch die Begegnung der Philosophie mit dem Gott der Offenbarung bes. deutlich zu Bewusstsein und werden in Hinblick auf die Gottesprädikate v. a. im Rahmen der „negativen Theologie“ intensiv diskutiert. Als absolute G. wird von Anselm von Canterbury „etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ (Mojsisch 1989: 50) als Kennzeichnung Gottes festgehalten. Programmatische Bedeutung für die Philosophie als solche erlangen die G.n der theoretischen Vernunft bei I. Kant: In seiner kritischen Neubegründung der Metaphysik unternimmt er eine „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“, und zwar durch die Vernunft selbst. I. Kant bedient sich „des Sinnbilds einer Grenze […], um die Schranken der Vernunft in Ansehung ihres ihr angemessenenen Gebrauchs festzusetzen“ (Kant 1998: 236). Die Vernunft selbst sieht ein, dass sie in ihrem Verstandesgebrauch auf das begriffliche Erkennen der Sinnenwelt eingeschränkt ist, zugleich aber über diese hinausdenken kann und muss (vgl. die regulativen Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit). Damit sollen sowohl Dogmatismus als auch Skeptizismus vermieden werden. G. W. F. Hegel setzt sich kritisch mit I. Kants Unterscheidung zwischen G. und Schranke auseinander; ihm verdanken wir die spekulativste Durchdringung der beiden Begriffe: „Daß die Grenze, die am Etwas überhaupt ist, Schranke sei, muß es zugleich in sich selbst über sie hinausgehen, sich an ihm selbst auf sie als auf ein Nichtseiendes beziehen“ (Hegel 1928: 151).

II. Rechtlich

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G., ein Lehnwort aus dem altpolnischen (granica), bezeichnet das Ende eines Raumes. Spätestens mit dem Übergang zur (geographischen) Sesshaftigkeit durch zunehmend höher organisierte menschliche Gruppen ist der begrenzte Raum zu einem zentralen Referenzpunkt der Zivilisationsgeschichte geworden – und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits erhöhte die Monopolisierung der Ressourcen eines bestimmten Raumes durch eine bestimmte Gruppe von Menschen in ganz existentieller Weise deren (Über-)Lebenschancen und führte damit zu einem Solidarisierungseffekt („raumbezogene Identifikation“) auch kultureller Natur („heilige Stätten“). Andererseits aber führte eben dieser Anspruch auf Exklusivität auch zu einem immer wieder konfliktreichen Ausschluss raumfremder Konkurrenten („raumbezogene Intoleranz“). Diese beiden, durchaus korrespondierenden Effekte lassen sich grundsätzlich bei allen Formen „politischer“ Inbesitznahme und Aufteilung des Raumes beobachten, von Familien- und Stammesverbänden bis hin zu Stadtstaaten, Großreichen sowie schließlich dem neuzeitlichen Staat, wie er sich seit dem Spätmittelalter in Europa herausgebildet hat und später weltweit zur organisatorischen „Blaupause“ moderner politscher Herrschaft überhaupt geworden ist. So verwundert es auch nicht, dass Gegenstand des ersten dokumentierten „zwischenstaatlichen“ Vertrages überhaupt die Beilegung eines epischen Grenzonflikts zwischen den beiden mesopotamischen Stadtstaaten Laga&shatsch; und Umman gewesen ist (ca. 2740 v. Chr.).

Schon in der Welt der Antike wurde die Grenzziehung wegen ihrer besonderen Bedeutung für das friedliche Zusammenleben nicht nur als notwendig empfunden, sondern sogar mit der Autorität göttlichen Willens versehen: „Heiliger Terminus: Du setzest den Völkern, den Städten und den starken Königreichen Grenzen; jeder Acker wäre ohne dich umstritten“ (Huldigung des römischen Grenzgottes Terminus am Fest der Terminalia [Ovid 1957: 659 ff.]). Das Motiv der gottgewollten Grenzziehung um der Friedenssicherung (Pazifizierung) willen findet sich auch an verschiedenen Stellen der alttestamentarischen Überlieferung (z. B. Ps 74,17; Dtn 19,14). Selbst wenn die gewillkürte Aufteilung und Abgrenzung des Bodens sich in der Folgezeit allmählich aus ihrer theologischen Verankerung zu lösen vermochte und sich dieser Vorgang als ein ganz und gar weltliches, in den allermeisten Fällen konsensuales Einigungswerk der Repräsentanten benachbarter Gebietskörperschaften profanisierte und emanzipierte, ist der gedankliche Zusammenhang zwischen Grenzziehung und Frieden doch bis heute unverändert erhalten geblieben (das „umfriedete Gebiet“).

In der (mittel-)europäischen Rechtsgeschichte ist die Entwicklung zur Staats-G. im modernen Sinne im Wesentlichen das Ergebnis einer zweifachen „Verdichtung“: In räumlicher Hinsicht kam es in Folge demographischer Entwicklungen zur allmählichen Ablösung von Grenzsäumen und -Marken (z. B. Mark Brandenburg, Uckermark, Steiermark) durch die theoretisch-raumlose Grenzlinie. In sachlicher Hinsicht führte der jahrhundertelange Prozess der Bündelung von Hoheitsrechten in der Hand eines einzigen Hoheitsträgers und die damit einhergehende Beseitigung des Nebeneinanders sich räumlich überlappender Einzelrechte zur tatsächlichen und rechtlichen Aufwertung der G. als einer zunehmend „absoluten“ und impermeablen Scheidelinie der Hoheitssphären benachbarter Gebietskörperschaften. („Linearisierung durch Konsolidierung und Konzentration von Herrschaftsgewalt“ [Khan 2004: 21]). Es ist dieses Grenzkonzept, welches sodann – insb. als Ergebnis der (kolonialen) Expansion europäischer Staaten – weltweite Verbreitung und Anerkennung gefunden hat.

Es sind erst Rechtssätze, die das Staatsgebiet und seinen räumlichen Umfang konstituieren und begrenzen. G.n im Rechtssinne sind damit stets etwas Künstliches – „natürliche“ G.n kennt das positive Recht nicht. Staatsraumbezogene Regelungen erfolgen dabei regelmäßig auf zwei verschiedenen Rechtsebenen: dem nationalen (Verfassungs-)Recht und dem Völkerrecht. Wegen des Grundsatzes der souveränen Gleichheit der Staaten kann eine regelmäßig erfolgende räumliche Identitätsbestimmung qua Verfassungsrechts (z. B. Aufzählung der Länder in der Präambel des GG oder in Art. 23 GG ursprüngliche Fassung 1949) allerdings wirksam nicht auf Kosten und zu Lasten eines anderen (benachbarten) Staates erfolgen. Daher erfolgt die konkrete Grenzziehung im Regelfall konsensual mittels eines völkerrechtlichen (Grenz-)Vertrages, wenn auch vielfach unter machtpolitisch ungleichen Bedingungen (Friedensverträge). Allgemeinverbindliche Regeln hinsichtlich der Grenzziehung enthält das Völkerrecht, abgesehen von sehr punktuellen Zweifelsregeln („Thalwegprinzip […] in schiffbaren Flüssen“ [Khan 2004: 423]), im Wesentlichen nur für die Abgrenzung gegenüber staatsfreien Räumen: Maximal 12 Seemeilen breites Küstenmeer (Art. 3 UNCLOS), obere G. des staatlichen Hoheitsgebietes im Luftraum bei ca. 100 km (die sogenannte Karmann-Linie, strittig).

Die Unverletzlichkeit der G., insb. gegenüber gewaltsamen Veränderungen (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta), stellt einen Grundpfeiler der Völkerrechtsordnung der Gegenwart dar. Dieser Grundsatz (uti possidetis) gilt auch bei anderen Veränderungen des territorialen Status quo in der Staatenwelt (Dekolonialisierung, Sezession, Auflösung von Staaten).

Das Staatsgebiet ist ein dreidimensionales Gebilde. Seine G. ist damit keine Linie, sondern eine (vertikale) Fläche, durch welche die Abgrenzung sowohl auf der Erdoberfläche als auch in lotrechter Richtung im Luftraum und unter der Erdoberfläche erfolgt. Zumindest theoretisch verfügen damit auch alle Staaten dieser Welt über einen gemeinsamen Grenzpunkt im Erdmittelpunkt.

III. Gesellschaftliche und politische Relevanz

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G.n sind von fundamentaler Bedeutung für die Strukturierung gesellschaftlicher Beziehungen und Ordnungen. Von Grenzziehungen hängt nicht nur die Unterscheidung der sozialen Systeme voneinander und von deren Umwelt ab. Charakter und Dynamik der G.n bedingen auch die Binnenstrukturen der gesellschaftlichen Ordnungen. Verwandtschaftssysteme oder Glaubensgemeinschaften etwa pflegen klarer definierte Abgrenzungen als Märkte. Dementsprechend sind die sozialen Beziehungen je nachdem offener oder enger, verbindlicher oder lockerer. G.n wirken als Mechanismen der sozialen Schließung, d. h. sie regeln die Möglichkeiten des Zugangs und umgekehrt die Bedingungen des Ausschlusses der Teilnahme an der sozialen Beziehung bzw. der Mitgliedschaft in der Ordnung, je nach Höhe und Qualität der Hürden (Rechte, formale Qualifikationsanforderung, Mitgliedschaftsbeiträge, Initiationsrituale u. a.), die sie dem Aus- bzw. Zutritt entgegenzustellen pflegen. Grenzschließungen dienen dann der Monopolisierung von Ressourcen und Chancen, mithin der Verminderung von Konkurrenz.

Ein Sonderfall von G.n liegt bei territorialen sozialen Ordnungen vor. Diese sind räumlich-geographisch identifizierbare, gleichsam in die Erdoberfläche eingezeichnete Trennungs- und Verbindungsräume oder -linien. Territoriale G.n sind für ethnische und kulturelle Gemeinschaften (Religions- oder und Sprachgemeinschaften), v. a. aber für Herrschaftsgebilde und politische Verbände typisch. Diese zeichnen sich durch eine enge Verbindung von gebietsbezogener Herrschaft und der Monopolisierung der physischen Gewalt aus.

G.n sind keine statischen Gebilde, sondern unterliegen einer spezifischen Dynamik, die der ihnen eigenen Dialektik von Öffnung und Schließung zuzuschreiben ist.

1. Theoretische Ansätze

Für die soziologische Betrachtung erweist sich v. a. Georg Simmels Studie über den „Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft“ von 1908 als wegweisend. Die darin entfaltete allgemeine Systematik der Bedeutung des Raumes für Entwicklung und Bestimmtheit gesellschaftlicher Beziehungen und Ordnungen verdeutlicht zugleich auch die Relevanz von territorialen G.n für die Strukturierung von gesellschaftlichen Ordnungen. Raum und G. sind wechselseitig füreinander konstitutiv. Die G.n sind aber nicht als naturwüchsige oder „substanzielle“ Gegebenheiten zu betrachten, selbst dort nicht, wo sie etwa mit Flussläufen, Meeren oder Gebirgszügen zusammenfallen. „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 1983: 467). Damit hat G. Simmel als einer der ersten die soziale Konstruiertheit von Gebiets-G.n erkannt. Exemplarisch zeigt sich das am Typus der territorialen Herrschaft, v. a. am modernen Staat: Indem dieser sich unabhängig von allen natürlichen, verwandtschaftlichen oder ständischen Mitgliedschaftsmerkmalen konstituiert und die abstrakte Gebietszugehörigkeit zum alleinigen Kriterium der Unterordnung erhoben hat, ist seine Macht innerhalb des territorialen Geltungsraumes seiner Institutionen allumfassend.

Auf die strukturgebende Kraft von Territoriums-G.n weist Ende des 19. Jh. auch der Historiker Frederik Jackson Turner hin. Dieser führte die bes. Mentalität der Nordamerikaner mit dem ihr eigenen „Pioniergeist“, aber auch die Evolution der nationalen politischen Institutionen, darauf zurück, dass Generationen von Siedlern im Westen einen offenen und als unbewohnte Wildnis betrachteten Raumhorizont, die frontier, vor sich hatten, der es ermöglichte, gesellschaftliche (Verteilungs-)Konflikte durch expandierende Raumeroberungen solange zu externalisieren und zu entschärfen, wie die Besiedlung an ihre natürlichen geographischen G.n stieß.

Der Sozialwissenschaftler Stein Rokkan interessierte sich bes. für die Bedeutung der G. im historischen Prozess der Staats- und Nationenbildung in Europa. Sein Leitgedanke: „Die Geschichte eines jeden Territoriums ist im wesentlichen eine Geschichte der Erfolge und Fehlschläge […] [im] Konflikt zwischen Grenzabbau und Grenzverstärkung“ (Rokkan 2000: 132). S. Rokkan entwickelte einen richtungweisenden „territorialen Ansatz“ für die vergleichende Analyse der politischen Systembildung, der auf einem multidimensionalen Analysemodell basiert und dem die Begriffe „Grenzbildung“ und „Strukturierung“ zugrunde liegen. Als „Grenzbildung“ bezeichnet er den Aufbau von räumlichen Barrieren für den Verkehr von ökonomischen Gütern, Personen und Botschaften an der Demarkationslinie zwischen Innen und Außen. „Strukturierung“ dagegen meint den dazu komplementären Prozess des Aufbaus eines militärischen und administrativen Apparats, der Zentralisierung politischer Entscheidungen und der kulturellen Homogenisierung im Binnengefüge. Wesentliche Aspekte der „Territorialisierung“ bilden dabei die Differenzierung zwischen Zentren und Peripherien sowie die ethnischen, konfessionellen und sozialen bzw. klassenbezogenen Spaltungen, die aus der „internalisierten“ Sozialstruktur resultieren. Beide territorialen Differenzierungen stehen in enger Wechselbeziehung mit den äußeren Grenzziehungen. S. Rokkan unterscheidet außerdem zwischen den G.n eines geographischen Raumes und denjenigen eines „Mitgliedschaftsraumes“. Diese sind i. d. R. schwerer zu überwinden als jene, da sie meist an materiale Kriterien (wie Abstammung, Konfession oder Rechte) geknüpft sind. Die Formierung nationaler Identitäten, die Herausbildung demokratischer Strukturen sowie die Institutionalisierung von Solidarität und Wohlfahrtsstaatlichkeit (Wohlfahrtsstaat) in Europa erklärt S. Rokkan mit der durch den „grenzenziehenden Staat“ durchgesetzten kongruenten Schließung der G.n des politisch-administrativen und des kulturell-sprachlichen Raumes sowie seiner inneren, durch die Bürokratie, das Militär und die Bildungsinstitutionen verwirklichten Homogenisierung der nationalen Gesellschaft.

2. Die Grenzen des Nationalstaates

Der Nationalstaat ist eine institutionelle Innovation, die Europa im Laufe mehrerer Jahrhunderte hervorgebracht hat. Ihr liegt ein spezifisches Arrangement von geographischen, herrschaftlich-politischen, sozialen sowie kulturellen Grenzziehungen zugrunde. Für die territorialen G.n ist kennzeichnend, dass sie nicht nur das Staatsgebiet als exklusiven Herrschaftsraum abgrenzen, sondern zugleich eine politische Kollektivität von Menschen als eine Einheit und im Hinblick auf ihren politischen Status als prinzipiell Gleiche definieren: das „Volk“ oder den Demos. Die modernen Nationalstaaten weisen hinsichtlich ihrer Außen-G.n ein gegenüber den älteren Staatsformen zusätzliches Merkmal auf: Sie konstituieren mit ihrem Raumrahmen zugleich ein soziales und kulturelles Kollektiv, die „Nation“. Diese Kollektivität bildet einen „Mitgliedschaftsraum“ im Sinne S. Rokkans. Seit der Französischen Revolution basiert dieses Kollektiv auf den Prinzipien der grundsätzlichen Gleichheit seiner Mitglieder und der Selbstbestimmung (Autonomie) der Völker. Mit der Institutionalisierung der Idee der Volkssouveränität geht die Legitimationsfunktion des staatlichen Verbandes von den sozialen Trägern der Monarchie auf die Bürgergemeinschaft, auf den Demos über. Je nachdem, welche Vorstellungen über das nationale Kollektiv vorherrschend sind, fällt die konkrete Festsetzung der Außen-G.n aus, nicht umgekehrt. Bei einer ethnisch-kulturellen Definition werden sie von den (selten eindeutigen) G.n der Besiedlung oder der Reichweite kultureller Institutionen, etwa der Konfession oder dem Sprachkollektiv, bei einer staatsbürgerlichen Definition von den formalen Zugehörigkeits- und Gleichheitskriterien des Rechts, mithin prinzipiell unabhängig von ethischen Merkmalen, bestimmt. Davon hängen darüber hinaus nicht nur die politisch-konstitutionellen Binnenordnungen – Geltung von formalen Verfassungsnormen bzw. Geltung verfassungsindifferenter materieller Kriterien („Volk“) –, sondern auch die Konfliktpotentiale der Gesellschaft ab.

Der europäische Nationalstaat repräsentiert somit einen Typus der politischen Vergesellschaftung, der durch ein hohes Maß an territorialer, kultureller und sozialer Geschlossenheit charakterisiert ist. Die Staats- und Nationsbildung brachte die Grenzverläufe des geographischen Raumes und des Mitgliedschaftsraumes in eine symmetrische Übereinstimmung und schuf ein segmentäres System relativ geschlossener territorialer politischer Systeme und politisch-sozialer Kollektive. Im Zuge dessen wurden ältere, nichtlineare und verschwommene G.n, etwa zwischen Dynastien oder Imperien, allmählich aufgelöst, kleinräumigere politische Loyalitätsgemeinschaften wie Ethnien oder Städte von den meist größeren Einheiten der nationalen Flächenstaaten überwölbt und absorbiert.

3. Europäische Einigung als Großprojekt des Grenzabbaus

Während die erste Hälfte des 20. Jh. im Zeichen ethnisch-nationalistischer Grenzbefestigungen stand und Grenzüberschreitungen überwiegend militärischen und damit gewaltsamen Charakters waren, haben sich in der zweiten Jahrhunderthälfte in Europa und global immer mehr Tendenzen des Grenzabbaus durchgesetzt. Einen Höhepunkt erlebte dieser Prozess beim Fall des Eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer, die vier Jahrzehnte lang Europa in zwei räumlich, politisch und gesellschaftlich gegeneinander abgegrenzte Blöcke teilten. Vorausgegangen war dem seit den 1950er Jahren der Prozess der europäischen Einigung (Europäischer Integrationsprozess). Dabei entstanden erstmals genuin supranationale Institutionen (Europäische Kommission, EuGH u. a.), die weitreichender noch als internationale Organisationen (UNO u. a.) die einzelstaatlichen Rechts- und Verwaltungsstrukturen zur Öffnung ihrer Strukturen gegenüber Rechts- und Verfahrensnormen zwangen. Einem großangelegten Aufbrechen der nationalstaatlichen Monopolisierung von ökonomischen Ressourcen kommt die vom europäischen Verband seit den 1980er Jahren betriebene Binnenmarktpolitik gleich. Gemäß der Leitideen eines vereinigten Europas ohne G.n wurden systematisch die zwischenstaatlichen Transaktionshindernisse für ökonomische Güter, Arbeitskräfte, Dienstleistungen entfernt und schließlich zu Beginn des Jahrtausends mit der Währungsunion ein neuer Währungsraum, die Eurozone, verwirklicht. In Konsequenz dessen kam es im größten Teil der EU zum Wegfall der Grenzkontrollen für Personen (Schengener Abkommen). Die europäische Integration ist das politische Institutionenprojekt der Moderne mit der bisher größten G.n auflösenden Wirkung, wobei Integration und territoriale Erweiterung in Wechselwirkung miteinander stehen.

Das bedeutet aber keineswegs, dass die politischen G.n in Europa bedeutungslos oder gar obsolet geworden wären. Die Forschung beobachtet einen grundlegenden Gestaltwandel der Grenzpolitik und -regime. Gelang es den geschlossenen Nationalstaaten noch, eine weitgehend kongruente Kontrolle der G.n des politischen, wirtschaftlichen und „gesellschaftlichen“ Raumes zu etablieren, so setzte sich v. a. in der westlichen Welt eine neuartige Dialektik von Grenzabbau und Grenzbefestigung durch, die in einer Differenzierung der Grenzordnungen und der politisch-sozialen Territorien mündete. Grenzkontrollen wurden selektiver. So wurden im Wirtschaftssystem im Zuge der teilweisen Liberalisierung des Welthandels territoriale Hindernisse vielfach abgebaut. Davon erfasst wurden auch die Alltagskulturen mit ihren sich immer mehr annähernden Konsum- und Lebensstilmustern, v. a. für die Ober- und Mittelschichten, sowie die Kommunikationsformen im Zusammenhang der sich weltweit explosionsartig ausbreitenden IT-Technologien und des Internets. V. a. kulturelle Differenzierungen sind mit den nationalstaatlichen Differenzierungen nicht mehr identisch und transzendieren diese. Mit Blick auf die Personenmobilität wird der selektive Charakter bes. deutlich: „Grenzen werden nicht generell durchlässiger, sondern öffnen sich zunehmend für bestimmte Personengruppen, während sie für andere Gruppen undurchlässiger werden“ (Mau 2008: 129). Zu schwer überwindbaren Barrieren werden sie im Allgemeinen für Bürger aus politisch instabilen und ärmeren Ländern, während sie für Geschäftsleute, Hochqualifizierte, Wissenschaftler, Studierende und Touristen einfacher zu überschreiten sind.

Mit dem systematischen Grenzabbau innerhalb der EU ging zudem eine Aufmerksamkeitsverschiebung zugunsten ihrer Außen-G.n einher. Mit dieser ist ein neuer Typus territorialer G. entstanden, der sich von nationalstaatlichen G. in mehrerer Hinsicht unterscheidet: durch die territoriale Durchlässigkeit des supranationalen Verbandes (Supranationalität), der durch neu hinzutretende Mitgliedsländer prinzipiell erweiterbar ist, durch deren schwierige Kontrollierbarkeit aufgrund relativ schwacher Eigenkompetenzen der EU und ausgedehnter Küsten im Mittelmeerraum sowie durch den Umstand, dass es sich bei den EU-Außen-G.n immer zugleich um die G. eines Mitgliedstaates handelt. Hinzu kommt, dass es sich bei Mitgliedstaaten mit Außen-G.n durchweg um Länder der Peripherie Europas handelt, die meist an geopolitische Krisenregionen bzw. arme Länder angrenzen. Das macht die EU-Außen-G. bes. vulnerabel, insb. unter dem Druck von Masseneinwanderung und -fluchtbewegungen (Migration).

Während der geschlossene Nationalstaat sich im Rahmen und unter dem Schutz seiner G.n als territoriale „Gesellschaft“ und politische Ordnung konsolidieren konnte, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu Demokratien und Wohlfahrtsstaaten weiterentwickelte, stehen einer Staatswerdung und Nationsbildung auf europäischer Ebene nicht nur die genannten strukturellen Schwächen der EU-Außen-G. entgegen. Auch die Beständigkeit der nationalen Kulturen und Identitäten, die einzelstaatliche Verfasstheit der Demokratien und Wohlfahrtssysteme sowie die Pluralität an europäischen Regimen mit je eigenen und meist inkongruenten Grenzziehungen lassen die Ausbildung einer „Nation Europa“ oder einen europaweiten Staatsbildungsprozess als eher unwahrscheinlich erscheinen. Der „post-nationale Raum“ in Europa zeichnet sich somit durch ein Grenzsystem aus, das die Kongruenzen und Schließungsfunktionen des herkömmlichen nationalstaatlichen Grenzregimes eingebüßt hat und sich als ein neuartiges System variabler und fluider Funktions- und Mitgliedschaftsräume darstellt. Damit wurden die Innen-Außen-Verhältnisse in Europa und darüber hinaus auf eine neue Grundlage gestellt.

Die Staats-G. ist somit eine gesellschaftliche Institution, die, solange die politischen Räume stabil und unumstritten sind, ihre spezifischen Funktionen meist im Hintergrund erfüllt und dabei weitgehend unbeobachtet bleibt. Kommt es jedoch zu offenen Konflikten um Staatsgebiete, zu Grenzstreitigkeiten oder zu massenhaften und unerwünschten oder umstrittenen Grenzüberschreitungen (etwa bei Massenmigration), treten die Staats-G.n verstärkt wieder in das öffentliche Bewusstsein. Sie gewinnen dann direkte Handlungsrelevanz, erfahren eine Politisierung und werden verstärkt zum Gegenstand soziologischer Beobachtung und Reflexion.