Humanökologie

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Menschen aktualisieren und formieren sich immer in einer konkreten Lebenswelt, der sie ihrerseits durch Agieren eine eigene, spezifische Gestalt verleihen. H. thematisiert diesen interdependenten Interaktionszusammenhang des Menschen mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt. Damit aber markiert sie wohl kaum schon ein neues Paradigma, verfügt sie doch nicht über einen eigenen, geschlossenen Theorieentwurf und eine dem zugeordnete bestimmte Methode.

1. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Tradition

1.1 Erster Strang: Herkunft aus der Biologie – Ausrichtung auf die natürliche Umwelt des Menschen

Es war Ernst Haeckel, der im Anschluss an den darwinschen Gedanken von der gegenseitigen Beeinflussung der Arten im Kampf um das Dasein die Ökologie als einen eigenen Zweig der Biologie begründete. „Ökologie“ meint dann „die Beziehungsganzheit von Lebenseinheit(en) und Umwelt“, so die prägnante Definition von Eugene Pleasants Odum (Odum 1980, Bd. 1: XVI). Methodisch kennzeichnend hierbei ist demnach ein zur analytischen Forschung komplementäres systemisches (holistisches) Denken, das davon ausgeht, dass mit wachsender Komplexität vernetzter Gefüge im Vergleich zu deren Untereinheiten zusätzliche Eigenschaften auftreten, die aus jenen nicht ableitbar sind, deren Verständnis vielmehr zunächst der ganzheitlichen Erfassung ihres spezifischen Integrationsniveaus bedarf, ob es sich hierbei um einen Teich, einen Wald oder eine bestimmte Population handelt.

Sieht man entspr. den Menschen als organismisches Wesen, dann liegt es nahe, die bio-ökologischen Kategorien auch auf soziale menschliche Phänomene und Systeme anzuwenden, wie das einige Sozialwissenschaftler in der sogenannten Chicagoer Schule um Robert Park erstmals im Blick auf die Stadt unter dem Begriff „Human Ecology“ tatsächlich versuchten. Im Kern wurde damit ein Brückenschlag zwischen Natur- und Sozialwissenschaften intendiert und bio-ökologische, ökonomische und soziale Organisation in einem wechselseititgen Beziehungsgeflecht mit dem Menschen als Mittelpunkt gesehen.

In einer darauf folgenden humanökologischen „Latenzphase“ mit gänzlich anderen sozialwissenschaftlichen Problemstellungen namentlich im Bereich der Chicagoer Schule währte es gleichwohl ca. fünf Jahrzehnte, bis die humanökologische Frage aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte und ihre innovative Kraft zu entfalten vermochte. Geistiges Movens war die seit Beginn der 1970er Jahre zunehmend bewusst gewordene globale Krisenlage im Mensch-Umwelt-Verhältnis, also dem Verbund aus den beiden offenen Systemen des Sozio-Kulturellen als der dominanten Steuerungsgröße einerseits und der abiotischen und biotischen Natur andererseits. Die generelle Riskiertheit der Biosphäre aufgrund der technisch-ökonomischen Aktivitäten von planetarischem Ausmaß rief mit neuer Dringlichkeit die H. als angewandte Ökologie im Großmaßstab auf den Plan. Mit dem Ziel einer Aussöhnung von Mensch und Natur sollten drei Themenschwerpunkte gebildet werden:

a) die Untersuchung der abschätzbaren Einwirkungen menschlichen Handelns auf die Natur;

b) die Analyse und ggf. Korrektur des Verlaufs der modernen Zivilisation und schließlich

c) die Erforschung der Rückwirkungen des technisch-ökonomischen Naturbezuges auf den Menschen und seine Ökologie selbst.

Entspr. wurde von ihr, der H. der Zukunft, eine Ausweitung des bio-ökologischen Konzepts auf einschlägige anthropologische, ethische, geisteswissenschaftliche, psychologische, sozio-ökonomische und politologische Befunde hin gefordert.

1.2 Zweiter Strang: Orientierung an sozio-kulturellen menschlichen Umwelten

Der Schub dieser „ökologischen Bewegung“ Anfang der 1970er Jahre in Deutschland führte denn auch auf breiter Front, und zwar in einzelnen Human- und Sozialwissenschaften, zu dem Versuch, die bio-ökologische Betrachtungsweise Interaktion Organismus-Umwelt aufzugreifen und auf das Wirkungsgefüge Mensch-soziokulturelle Umwelten anzuwenden. Dies gilt für die Etablierung einer eigenen „ökologischen Psychologie“ ebenso wie für die sozialisationstheoretische Forschung, welche die lokale bzw. sozial-klimatische Ungleichheit menschlicher Entwicklungsvoraussetzungen in den Blick nahm. Und auch die Erziehungswissenschaft ließ sich durch die Einbeziehung bioökologischen Denkens inspirieren. So etwa Günter Schreiner mit Überlegungen zum Phänomen des Schulklimas und Dieter Baacke zur Untersuchung von Umwelten der „13–18-Jährigen“ (Baacke 1979). Und schließlich konstituierte sich im Rahmen der Wiener Schule der ganzheitlich ausgerichtete Ansatz einer „ökologischen Medizin“.

Fragt man nun nach den verbindenden methodischen Merkmalen dieser spezifisch ökologischen Forschung, so lassen sich mit Lutz Eckensberger am Beispiel der Entwicklungspsychologie nennen:

a) der Ansatz am „daily life“ („Objektorientierung“ statt „analytische Orientierung“) (Eckensberger 1979: 265),

b) systemtheoretisch beeinflusster holistischer statt analytischer Ansatz,

c) die Interdisziplinarität der Forschung,

d) die Betonung kulturvergleichender Strategien und schließlich

e) die normative Ausrichtung statt Untersuchung „‚wertneutraler‘ Funktionszusammenhänge“ (Eckensberger 1979: 268).

Mit all dem intendiert diese disziplingebundene ökologische Forschung sonach eine jeweilige Verbesserung konkreter Phänomene der sozialen menschlichen Lebenswelt.

2. Verknüpfung

Indessen, so innovativ sich die ökologische Perspektive auch auf die Einzeldisziplinen auswirkte, die beiden Forschungsstränge, sei es mit Blick auf die natürliche, sei es auf die sozio-kulturelle Umwelt des Menschen, blieben letztlich weitgehend unverbunden. Ihre Zusammenführung gelang schließlich erst im Rahmen der UN-Weltkonferenz von Rio de Janeiro (1992), die, anknüpfend an die UN-Konferenz von Stockholm (1972), die Konzepte (bioökologische) „Umwelt“ und (technisch-ökonomische) „Entwicklung“ nach vertiefter Durchdringung durch die Brundtland-Komission (1987) im Konzept der Nachhaltigkeit (sustainable development) wirksam verschränkte.

Mit dem so einleuchtenden wie schlichten Regulationsprinzip aus der Forstwirtschaft des 16. Jh., wonach man langfristig nur von den Zinsen leben kann, ohne den Kapitalstock aufzubrauchen, hatte sich die Völkergemeinschaft auf ein politisch-ethisches Leitprogramm verpflichtet. Danach kann es nur als sittlich vertretbar bezeichnet werden, wenn sich die Weltgesellschaft technisch-ökonomisch so weiter entwickelt, wie das

a) von der Natur mitgetragen wird und wie es

b) dem global und übergenerationell ausgeweiteten Prinzip der Gerechtigkeit (Generationengerechtigkeit) entspricht.

Der jetzigen und den künftig lebenden Generationen muss der freie Zugang zu lebensnotwendigen und wohlstandsmehrenden Ressourcen geöffnet sein. Dies aber bedeutet, im globalisierten Megasystem unserer Zivilisation bedingen sich die naturökologischen (Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen) und die sozialökologischen Größen (Entwicklungsländer-Problematik, Friedenssicherung, Streben nach Wohlstand u. a.) wechselseitig. Will politisch-gesellschaftliches Handeln angesichts dieser Komplexität Lösungen herbeiführen, so bedarf es eines anwendungs- und objektorientierten systemisch-ganzheitlichen und normativ eingestellten Nachhaltigkeitsdiskurses, innerhalb dessen Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften aufeinander zudenken und kooperativ um einen umsichtigen Ausgleich bemüht sind.

3. Die Rückwendung auf das Individuum hin

Nimmt also H. angesichts des wachsenden Problemkomplexes der Weltgesellschaft die Gestalt einer (interdisziplinären) Nachhaltigkeitsforschung an, so hat sie gleichwohl ihre Globalperspektive mittlerweile zurecht auch wieder heruntergebrochen und sich Problemstellungen von mittlerer gesellschaftlicher Reichweite zugewandt, etwa in den Bereichen Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Kommunikation und Konsum. Was jedoch weitgehend ausgeblendet blieb, war die Thematisierung des Individuums, seines Gelingens oder Misslingens in diesen Umwelten, also die Frage nach der Individual-Ökologie des Einzelnen unter den Prämissen unserer modernen Zivilisation.

In diesem Kontext lässt sich denn auch nicht übersehen, wie sehr sich unsere spät-/postmoderne Gesellschaft seit Beginn der 1990er Jahre gewandelt hat: kulturell in wachsender Pluralität und Heterogenität und soziostrukturell mit einer Vielzahl an Modernisierungsverlierern, die sich den Anforderungen der technisch-ökonomischen Zivilisation nicht gewachsen fühlen und sich, einmal durch das soziale Sieb gefallen, als psycho-sozialer „Bodensatz“ der Leistungsgesellschaft wiederfinden. Offenkundig müsste die „alte“ humanökologische Frage nach dem Leben und Überleben des Menschheitsystems unter den Prämissen der technisch-ökonomischen Zivilisation ergänzt werden um die Frage nach dem guten Leben auch des Einzelnen in seinen Milieus und seinen sozialen Umwelten. Dementsprechend müsste sie angereichert werden um die psycho-soziale Dimension, verbunden mit der Leitfrage: Wie sollten die Lebensumwelten beschaffen sein, damit Menschen darin gedeihen, und was können bspw. Sozialisationstheorie und Umweltpädagogik flankierend zu den politischen Wissenschaften dazu beitragen, dass sich Individuuen in ihren Umweltkontexten besser zurecht finden und an deren verantwortlicher Ausgestaltung mitwirken?

Es ist nun das Verdienst Urie Bronfenbrenners, jene Bestimmungsgrößen menschlicher Ökosysteme ausgemacht zu haben, die für das Gelingen bzw. die Verhinderung menschlicher Entwicklungs- und Bildungsprozesse ausschlaggebend sind. Im Einzelnen handelt es sich hierbei um:

a) naturnahe Umwelten mit vielfältigen Zugängen des sinnlich-ästhetischen Naturerlebens;

b) befreiende und orientierende kulturelle Sinnsysteme;

c) soziostrukturelle Vernetzung von Lebenskontexten unterschiedlicher Art und Größe und

d) soziale Umwelten als den Einzelnen freigebende Gestaltungsräume mit:

i) vielfältigen Beziehungsnetzen,

ii) vielfältiger Rollenübernahme,

iii) gekonnten, „molaren“ Tätigkeiten substantieller Art,

iv) verantwortlicher Mitgestaltung an gewichtigen Aufgaben (Partizipation).

Humanökologisch ausgerichtete Sozialisationsforschung und Erziehungswissenschaft können diese Bedingungsfaktoren zunächst einmal als Kriterienkatalog auf alle formellen Bildungsmaßnahmen (Bildung) anwenden. Und schließlich können sie Empfehlungen an Institutionen (z. B. Beratungsstellen, Politik) richten, strukturell beeinträchtigende Umweltbedingungen von Menschen zum Besseren zu wenden. Leitendes Forschungsinteresse hierbei ist stets das sinnhafte Gelingen des Individuums in seinen Umwelten sowie deren eigenverantwortliche Mitgestaltung.

Unter dieser humanökologischen Leitvorstellung könnten dann bspw. folgende Themenkomplexe angesprochen werden:

a) Wege humanen Umgangs mit Freizeit und Konsum in der Wohlstands- und Erlebnisgesellschaft. Angesichts einer „multioptionalen“ Welt mit vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten und virtuellen Räumen wirft dies die Frage nach dem erfüllten Leben und Gebrauchen auf. Statt einer rigiden Form der Askese sollte vielmehr der Blick auf die greifbare Sachwelt, die reale Beziehungswelt und die kulturelle Sinnwelt gerichtet werden, sodass Konsumgüter primär instrumentelle Werte darstellen, die der Entfaltung und Selbstverwirklichung der Person dienen können.

b) Ein nicht minder relevanter, individual-ökologischer Problemkomplex tut sich auf im Themenfeld Gesundheit als dem (ganzheitlich verstandenen) leib-seelisch-sozialen Wohlergehen des Menschen. Hier können Individuen als Heranwachsende oder als Erwachsene dazu angeregt werden, in Prozessen dynamischer Balance an der Gestaltung des eigenen Wohlbefindens mit all seinen leiblichen, seelischen, sozialen und geistig-spirituellen Belangen jeweils in den vorhandenen unterschiedlichen Umweltkontexten mitzuwirken.

c) Eigentlicher Ernstfall individualökologischer Betrachtungsweise in unserer komplexen Zivilisation ist jedoch zweifellos die Identitäts-Thematik, und damit die Frage nach gelingender Authentizität in einer hochgradig fragmentierten Gesellschaft. Folgt man hierbei den Grundaussagen von Erik H. Erikson, so wäre interaktionell eine Umwelt der Zuwendung und Anerkennung herzustellen, aufgrund deren der Jugendliche einen eigenen Willen formiert, Entschlusskraft und Kompetenz auszubilden, seine Lebenskontexte mitzugestalten und zur Liebe und Fürsorge des Erwachsenen gelangt (Identität).

d) Eng verbunden mit der Identitätsthematik ist zweifellos die moralpädagogische Aufgabe, einer Stärkung moralischer Entscheidungsvernunft und Fantasie des Einzelnen innerhalb seiner systemisch vielfältig verknüpften kontingenten Lebensverhältnisse zuzuarbeiten.

Pädagogisch von herausragender Dringlichkeit hierbei ist dann das gemeinsam beratende, orientierende, sinnerschließende Gespräch. Bietet es doch eine Plattform wohlwollenden Miteinanders, die ein angstfreies Durchgehen verschiedenster Aspekte in einer bedrängenden Situation ermöglicht, das Verständnis für unterschiedliche Wege gelingenden Menschseins erschließt und damit den Blick für die eigene Optionsmöglichkeiten weitet.

Pädagogische Begleitung, auch Erwachsener in allen Lebensphasen, sollte Menschen Mut zusprechen und sie darin bestärken, in ihren wechselnden Lebensumwelten für ihre sittliche Existenz immer wieder stimmige Balancen zu finden. Hier gilt es dann für den Einzelnen, aus einer Pluralität möglicher Sinn- und Wertmuster die für sich selbst authentischen Wege aufzugreifen und also auch das jeweilige „An-sich-Gute-für-mich“ ausfindig zu machen und zu leben.

Fazit: Mit diesen und ähnlich gelagerten individualökologischen Problemstellungen thematisiert H., von globalen Fragestellungen ausgehend, über mittlere sozialökologische Problemstellungen im gesellschaftlichen Bereich, jetzt auch die Wechselwirkung Individuum/Umwelten in einer zunehmend unübersichtlichen Welt. Es dürfte der H. gut anstehen, künftig ihr Nachhaltigkeitskonzept als eine Forschung in naturökologischer, sozialökologischer und individualökologischer Hinsicht zu begreifen.