Identität

  1. I. Soziologisch
  2. II. Pädagogisch
  3. III. Sozialethisch

I. Soziologisch

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Die Suche nach Antworten auf die Frage der I. beschäftigten den modernen Menschen ebenso existenziell, wie seine Suche nach Antworten auf die mit den Antwortversuchen aufgeworfenen neuen Fragen. I. ist zusammen mit ihrem Aufstieg von einem im Alltag sich modernisierender Gesellschaften zusehends als allgegenwärtig und selbstverständlich erfahrenem Phänomen zu einem geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Grundbegriff avanciert. Als Orientierungs- und Ordnungskategorie zur Selbstbeschreibung und zum Fremdverstehen von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften verspricht er insb. den Sozialwissenschaften ein veritables „Instrument“ zur Analyse und Beschreibung von Prozessen der Aushandlung, Stabilisierung und Veränderung von sozialen Ordnungen. Allerdings präsentieren sich die entwickelten I.s-Konzepte ebenso ambivalent wie vielfältig. Während I. übereinstimmend als soziale Form begriffen wird, die Sinnentwürfe und Normalitätsvorstellungen, Handlungsanleitungen und Darstellungsformen bereitstellt, über die Individuen und Gruppen ihre Zugehörigkeiten zu bestimmten Lebensformen und Lebensführungen entwickeln und zu erkennen geben, nehmen dieselben Gruppen und Individuen die gleichen Sinnentwürfe und Normalitätsvorstellungen als Legitimationsgründe für Hervorhebungen, Abstandnahmen und Grenzziehungen gegenüber anderen Subjekten und Kollektiven. Zudem sind Theorien der I. stets in allg.ere Interpretationen von Wirklichkeit eingebettet. Deshalb variieren die Verständnisse je nach historischer Epoche, Kultur und Gesellschaft und gestaltet sich das Spektrum der Konzeptionen unterschiedlich breit. Bevor daher im Folgenden mit der persönlichen, der sozialen und der Ich-I. sowie mit den kollektiven und den pluralen I.en fünf prominente sozialwissenschaftliche I.s-Typen angesprochen werden, gilt es zunächst jene anthropologische Disposition zu skizzieren, in deren allgemeinem Licht die analytischen Werkzeuge ausgearbeitet, diskutiert und weiterentwickelt werden.

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ (Bloch 1985: 13). Der von Ernst Bloch formulierte, identitätsphilosophische Dreisatz umschreibt jenen in der jüdisch-christlichen Tradition verankerten Gedanken vom strukturell unerfüllten, weil gebrochenen und offenen Selbst- und Weltbezug des Menschen, wie ihn zuvor Søren Kierkegaard im Geist als einem „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ (Kierkegaard 2002: 8) oder Helmuth Plessner in der exzentrischen Positionalität des Menschen und Georg Simmel mit den „apriorischen Bedingungen, auf Grund derer Gesellschaft möglich ist“ (Simmel 1992: 43) zum Ausdruck brachten.Aufbauend auf der Vorstellung von I. als Antwort des Menschen auf seine ihm anthropologisch auferlegte Disposition zu Reflexivität und Potentialität (Anthropologie) begreifen und erforschen die Sozialwissenschaften moderne I.en nicht als „Endprodukte“ einzelner Personen oder Gesellschaften, sondern als stets vorläufige „Erzeugnisse“ von in wechselseitigen Abhängigkeiten und in kommunikativen Handlungsprozessen sich ausgestaltenden, absichernden und wandelnden Selbst- und Fremdbildkonstruktionen.

Den bis heute nachhallenden, wirkungsmächtigsten Anstoß zur empirisch fundierten Entwicklung sozialwissenschaftlicher I.s-Konzepte gaben die Vertreter der sogenannten Chicago School of Sociology. Als überaus einflussreich erwies sich die von Erving Goffman in seinen Forschungen zu beschädigten I.en ausgearbeitete I.s-Typologie. Seine Sichtweise von I. als „multiplicity of selves“ (Goffman 1963: 63) trägt unverkennbar die Grundzüge der Sozialpsychologien von George Herbert Mead und Charles Horton Cooley. C. H. Cooleys Ausdruck vom looking-glass self und G. H. Meads Konzeption des self im Spannungsverhältnis von I und Me begreifen I. nicht als Substanz oder Wesenheit, sondern als in gesellschaftlichen Interaktions- und Kommunikationsprozessen sich formende, balancierende, letztlich aber in der Schwebe bleibende, kognitive Struktur. „Mind, Self and Society“ (Mead 1934) bezeichnet denn auch keine Stufenfolge, sondern einen Dreiklang. E. Goffman eröffnet seine Dreiertypologie mit dem Begriff der sozialen I. Ihre Ausprägung beruht auf den Zuschreibungen und kategorialen Zuweisungen von sozialen Anderen und speist sich aus jenen Merkmalen und Eigenschaften, die an einem Individuum unmittelbar wahrzunehmen sind oder antizipiert werden, und von denen angenommen wird, dass sie über verschiedene soziale Situationen hinweg stabil bleiben, wie Geschlecht, Alter, Ethnie und Milieuzugehörigkeit. Anders als der Begriff nahelegt, beruht auch der zweite I.s-Typus auf sozialen Zuschreibungen und Identifizierungen. Doch im Unterschied zur sozialen I., die ein Individuum in größeren Gruppen aufgehen lässt, ist für die persönliche I. die Besonderheit der spezifischen Merkmalskombination des infrage stehen Individuums ausschlaggebend, wie sie sich vor allem aus seinem Namen, Aspekten seiner spezifischen körperlichen Erscheinung und seiner Biographie ergibt. Die Erfahrungen und das Wissen um die Identifizierungsformen der sozialen und persönlichen I. veranlassen die Handelnden zur Ausbildung und Vorführung von Images: jener sozial lesbaren Oberflächen und sozial akzeptierten Muster, die in Gestalt von Masken (lat. persona), Rollen (soziale Rolle) oder netztauglichen Profilen eine Person zugleich verhüllen und sichtbar machen – und dabei wiederum selbst durch Alltagsrituale vor Übergriffen und Verletzungen durch Dritte geschützt werden müssen. Beruhen soziale und persönliche I. vornehmlich auf Fremdzuschreibungen, fokussiert E. Goffman in Anlehnung an den Psychoanalytiker Erik H. Erikson mit seinem letzten Typus den subjektiven und reflexiven Anteil von I., wenn er über den Begriff der Ich-I. versucht, die innige, emotionale Verbundenheit von Individuen mit den Eigentümlichkeiten ihrer Selbstwahrnehmung und der Beständigkeit ihres Selbstbildes zu fassen. Weil jedoch auch der dritte I.s-Typus keinen von gesellschaftlichen Zugriffen unberührten, sich selbst versorgenden Wesenskern darstellt, sondern sich in sozialen Prozessen jener Deutungszusammenhang erst ausformt, auf den die subjektiven Reflexionen dann Bezug nehmen können, blieb nicht nur sein Status als eigenständiger Begriff, sondern die gesamte Goffmansche Dreiteilung in den Sozialwissenschaften nicht ohne Widerspruch.

Das von Thomas Luckmann entwickelte Verständnis von I. kennt denn auch einzig den Begriff der persönlichen I., dafür aber als komplexen, anthropologisch, phänomenologisch und wissenssoziologisch begründeten Denkzusammenhang. Für das Bewusstsein beruht die als persönlich erlebte I. auf den Erfahrungen von inneren, zeitlichen Verhältnissen, in denen sich ein Ich geltend macht, das über sein jeweiliges Jetzt hinaus in Richtung Vergangenheit und Zukunft als dessen Herkunft, Alternative, Gegensatz oder Fortsetzung und Möglichkeit von Bestand bleibt. Zugleich konstituiert sich persönliche I. in sozialen Kontexten, was fortwährende Synchronisierungsleistungen zwischen der inneren Zeit des Bewusstseins und jenen sozialen Zeitstrukturen voraussetzt, wie sie sich in rhythmisch aufeinander abgestimmten Abläufen sozialen Handelns ausformen und schließlich als Symbole und Rituale, bspw. als Kalender, Uhren oder Modelle für Lebensläufe, in die Wissensbestände von Gesellschaften einschreiben. T. Luckmanns Ansatz gilt heute als zentraler, grundlagentheoretischer Bezugspunkt für die empirische Erforschung von Sozialisations- und Migrationsprozessen, von Narrationen und Biographien.

Anders als der Begriff der persönlichen I. ist das Konstrukt der kollektiven I. umstritten. Seine klassische Referenz findet es in Émile Durkheims Konzepten vom „Kollektivbewusstsein“ und der „mechanischen Solidarität“. Beide speisen sich aus wiederholten Erfahrungen der Gleichförmigkeit von Reaktionen und Handlungen innerhalb einer Gruppe oder Gemeinschaft, die ihre Mitglieder als äußere Zeichen für die natürliche Gleichheit ihrer inneren Haltung imaginieren. In der Folge sind kollektive I.en dadurch charakterisiert, dass ein Wir spürbare Grenzen zwischen seinem Binnenraum, dessen Zugehörige es als gleichwertig ansieht und gleichartig behandelt, und einer Außenwelt der Anderen, Andersartigen und anders zu Behandelnden zieht. Solche, aus Prozessen der sozialen Inklusion und Exklusion ausgehende I.s-Bildungen können sozialwissenschaftlich über „Codes“ der Artikulation und Legitimation von gesellschaftlichen Unterscheidungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden beschreiben werden. Kritik entzündet sich vor allem an zwei Stellen. Zum einen wird dem Begriff attestiert, er sei primär politisch konnotiert, vereinfache, verkläre und trage Tendenzen zu Ermächtigung und Diskriminierung, zu totalitären Weltsichten und Gewaltanwendungen in sich. Zum anderen lasse der Begriff der kollektiven I. den der persönlichen I. nicht zu, haben kollektive Identifizierungen doch die Macht, jenes reflektierende, aufgeklärte und autonom handelnde Individuum zu reduzieren oder gar auszulöschen.

War persönliche I. in vormodernen Gesellschaften noch eine gesellschaftlich in hohem Maße eindeutig, obligatorisch und nachhaltig definierte Vorgabe, wird sie für die Individuen moderner, enttraditionalisierter und pluralistischer Gesellschaften zu einer ihnen selbst überantworteten, notorischen Aufgabe. Im durch digitale Kommunikation und globale Migration bewegten Kaleidoskop sich fortwährend verändernder Weltanschauungen und Ideen stellen die dargebotenen Sinnangebote keinen einheitlichen und geschlossenen Horizont für I.s-Stiftungen mehr bereit. Daher schmiegen sich die Halt suchenden Individuen den „drifts“ und „flows“ an, und konstruieren plurale I.en, mit denen sie der multiplen, transitorischen, nicht mehr als Selbstverständlichkeit erfahrenen und hinzunehmenden Weltgesellschaft strukturell entsprechen. „Finde dich selbst“, „werde, was du sein kannst“ und „erfinde dich neu“ lauten die Unsicherheiten, Irritationen, Krisen und Konflikte immer wieder auslösenden Handlungsauflagen und Bewährungsformeln für die I. des unternehmerischen Selbst. Wenn daher in der sogenannten Postmoderne vom Tod des Subjektes, vom Ende des Individuums und von der Fiktion der I. gesprochen wird, zielt die Rede auf jenes zerstückelte, unruhige, dauererregte Ich in einer von ihm gleichermaßen erfahrenen sozialen Welt, das sich nur noch in situativen, widerrufbaren und unter den gesellschaftlichen Auflagen von Authentizität und Kreativität auf charismatische Effekte bedachten Darstellungen auf den kurzlebigen Märkten der I.s-Modelle inszeniert. Wandeln sich I.en zu Geweben von nur noch lose miteinander verbundenen, punktuellen Ereignissen, sind zusätzliche, auf das beschleunigte Changieren analytisch reagierende, sozialwissenschaftliche I.s-Konzepte gefragt, wie sie aktuelle soziologische Zeitdiagnosen bspw. in Gestalt von mediatisierten und ästhetisierten I.en der empirischen Überprüfung zuführen.

II. Pädagogisch

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1. Grundlagen

Ohne ein Bei-sich-selbst-Sein des Menschen in mitten seiner wechselnden Lebensräume wäre sein Welt- und Selbstverständnis schlechterdings gestört. Dies begrifflich und konzeptionell gefasst und ausgearbeitet zu haben, ist die Leistung des dänisch-deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Erik H. Erikson. „I.“ beinhaltet für ihn die Antwort auf die Frage, inwiefern sich das Individuum, obwohl es in unterschiedlichen Situationen und vielfältigen Rollen (soziale Rolle) agiert, in Bezug auf andere wie auf sich selbst über Zeiten hinweg seiner selbst als ein- und dasselbe bewusst ist. „I.“ thematisiert also das Streben des Menschen

a) nach Einheitlichkeit (Kohärenz, Kontinuität) und Unverwechselbarkeit (Individualität) der Person;

b) nach deren Würdigung (Zuwendung, Zugehörigkeit, Anerkennung) durch relevante Gruppen, und zwar

c) im Medium der sie bestimmenden sozio-kulturellen Muster (sinnstiftende Teilhabe).

Mit dieser dreigliedrigen I.s-Struktur erweitert E. die psychoanalytische Theorie Sigmund Freuds zum einen zu einer die gesamte Lebensspanne umgreifenden Theorie der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung durch Ausbildung von Ich-I. So formuliert er in Anlehnung an S. Freud (orale, anale, ödipale Phase) drei Basiskomponenten seelischer Gesundheit (Urvertrauen vs. Misstrauen; Autonomie vs. Scham und Zweifel; Initiative vs. Schuld), die sich als Komponenten der Persönlichkeitsentwicklung ein Leben lang ausdifferenzieren. Hierauf aufbauend entwirft er sein bipolares achtphasiges Schema psychosozialer Entwicklung mit jeweils spezifischen Aufgaben, Krisen und Konflikten und der I.-Problematik in der Jugendphase als zentraler Achse. Je nach Maß der Meisterung/Nichtbewältigung kommt es jeweils zu einem relativen Übergewicht auf der positiven oder negativen Seite des polar angelegten Entwicklungsschemas.

Zum anderen nimmt E. eine Ausweitung auf die sozio-kulturelle Umgebung von Individuen vor. Der Prozess der I.s-Bildung ist also konstitutiv geschichtlich, lebenskontextuell, eben sozio-kulturell abhängig. Seine phasenbedingten Konfigurationen resultieren aus der wechselseitigen Beeinflussung von inneren Wachstumsgrößen einerseits und umgebender Kultur bzw. Gesellschaft andererseits.

2. Komplementäre Konzepte

Nicht zuletzt die zunehmende Gefährdung des I.s-Prozesses von außen in modernen Gesellschaften machte jene komplementären Konzepte unverzichtbar, die eine stärkere Verlagerung auf die äußeren (sozio-kulturellen) Einflussgrößen vornehmen. Zum einen handelt es sich dabei um eine Gruppe von Konzeptionen primär soziologischer Herkunft im Rahmen der Theorie des Symbolischen Interaktionismus (wie William James, George Herbert Mead, Erving Goffman, Lothar Krappmann), die den situativen Aufbau des „Selbst“ („I“ und „Me“) innerhalb von soziokulturellen Kommunikationsvorgängen thematisierten, ggf. mithilfe von Ich-Balancen zwischen persönlicher und sozialer I. Zum anderen handelt es sich um eine Gruppe von persönlichkeitspsychologischen Theorien, die wie die Coping- und Selbstkonzept-Theorie hinsichtlich der Mensch-Umwelt-Interkation allesamt ein Aktions-Selbst unterstellen. Ohne diese und andere psychosoziale Einsichten soziologischer Forschung im Blick auf die äußeren Komponenten wäre eine adäquate Erörterung von I.s-Prozessen schlechterdings unmöglich. Und dies umso mehr, als die rapide gesellschaftliche Modernisierung der letzten Jahrzehnte die äußere Gefährdung der I.-Entwicklung noch erheblich intensiviert hat. Hier müsste denn auch E.s Konzept deutliche Transformationen in Richtung Flexibilisierung der I.-Vorstellungen erfahren.

Gleichwohl, als eine korrekturoffene Rahmentheorie zur Erörterung der I.-Entwicklung in der Perspektive der gesamten Lebensspanne wird E. seine Bedeutung für Pädagogik und Psychologie nicht einbüßen.

3. Pädagogische Aufgaben

Denn in einer temporeichen Gesellschaft mit ständig wechselnden Interaktionsbühnen bedarf es kontrapunktisch auch der umgreifenderen Konfigurationen von Ich-I. mit Blick auf jene Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsenenabschnitte) bzw. Lebensbereiche (Ausbildung, Beruf, Familie, Weltanschauung, etc.), in denen dem Einzelnen besondere pädagogische bzw. therapeutische Unterstützung zuteil wird.

Ferner sind es in einer Gesellschaft der Brüche und Widersprüche mit ihren Stress erzeugenden Vorgegebenheiten vielfach die inneren mentalen Faktoren, die eine Person auch bei äußersten Schwierigkeiten aufbrechen lassen zu einem neuen, modifizierten Ich-Selbst, sofern nur von frühester Kindheit an und ggf. bis ins hohe Erwachsenenalter hinein kompetente pädagogische Begleitung, Stärkung und Ermutigung erfolgte. Und schließlich hat sich unter der Signatur von Postmoderne und Globalisierung dieser Aufgabenkomplex eher noch verschärft. Gemäß den drei tragenden Strukturmomenten in Eriksons I.-Konzeption gilt es dann, den Einzelnen zu ermutigen

a) in einer parzellierten Lebenswelt durch verstärkte Passungsleistungen und Ich-Synthesen ein, wenngleich polyphones und dynamisches (Pathwork-I.), so doch in sich zusammenhängendes, authentisches Ich-Selbst (Kohärenz, Kontinuität) auszubalancieren

b) im Durchgang durch reflexive Bildungsprozesse und Lebenswelterfahrungen eine Zugehörigkeit zu „passenden“ Gruppierungen (Anerkennung, Zuwendung) und

c) zu den sie bestimmenden sozio-kulturellen Wert- und Sinnmustern (Kooperation, sinnstiftende Partizipation) zu finden. Ziel ist die zunehmend gereifte Persönlichkeit, die ‚ihre (endliche) Welt‘ verantwortlich mitgestaltet.

III. Sozialethisch

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Angesichts der unterschiedlichen und vielschichtigen Bedeutung von I. in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen mit differenzierten I.s-Konzepten bzw. I.s-Theorien und der Etablierung des I.s-Begriffs in öffentlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskursen ist es nicht möglich, von dem I.s-Begriff und dem I.s-Diskurs zu sprechen. Gleichwohl ist I. ein geistes-, human-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Grundbegriff, der ein inter- und transdisziplinäres Potenzial hat, um grundlegende und spezifische Herausforderungen des praktischen Selbstverhältnisses des Menschen und des gesellschaftlichen Miteinanders zu artikulieren, analytisch zu erschließen sowie handlungsorientiert und politisch-sozial zu reflektieren. Im Unterschied zum logisch-ontologischen I.s-Diskurs geht es in sozialethischer Hinsicht um die (qualitative) I. von Personen (Ich-I.), aber auch um die I. von Gruppen (kollektive I.).

Die Konjunktur des I.s-Begriffs zeigt an, dass sozial anerkannte und zugleich biographisch validierte Formen der Selbstvergewisserung, Selbstdarstellung, Selbstformung und Sinngebung individueller Lebensführung und kulturell bereitgestellter Lebensformen und I.s-Muster aufgrund der gesellschaftlichen Differenzierungs-, Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse prekär und fragil geworden sind. Die Ausbildung einer persönlichen I. wird zu einer Eigenleistung, die nicht im Sinne eines Besitzstands auf Dauer erworben, sondern lebenslang zu erbringen ist. Der Prozess der I.s-Bildung ist auf vielfältige psychische, soziale, kulturelle und materielle Ressourcen angewiesen, damit jemand im Sinne einer „Passungsarbeit“ (Keupp 2006: 276) „unter der Voraussetzung eines ihm je unverwechselbaren eigenen, genetisch bestimmten biopsychischen Potentials im Entfaltungshorizont der jeweiligen seine Lebenschancen ermöglichenden sozio-kulturellen Dispositionen und Erwartungen zur Übereinstimmung mit sich selbst gelangen“ (Hunold 1992: 36) kann.

I.s-Entwürfe sind sowohl auf kommunikativ-dialogische Anerkennung durch relevante Andere als auch auf die eigene Akzeptanz und das Erleben subjektiver Bedeutsamkeit (Authentizität) angewiesen, damit sie für den Einzelnen als lebenspraktisch und sinnverwirklichend gelten können. Symbolisch repräsentiert und narrativ konstruiert stellt I. eine psychodynamische, leibseelische und psychosoziale entwicklungsoffene Integrations- und Syntheseleistung dar, die es ermöglicht, das eigene Leben reflexiv-thematisch in einen sinnhaften Zusammenhang zu bringen und daraus Handlungsorientierung zu gewinnen. Mit dem I.s-Begriff lässt sich der Mensch als endlich freies Wesen begreifen, dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten zur verantwortlichen und auf menschliches Gelingen ausgerichteten Selbstbestimmung durch das komplexe Zusammenspiel mannigfaltiger empirischer Faktoren bedingt und durch die (Selbst-)Bindung an übergeordnete, gemeinschaftlich geteilte und kommunizierte Vorstellungen vom guten Leben moralisch orientiert sind. Hierbei können religiöse Sinnvorstellungen eine wichtige Rolle spielen.

Mithilfe des I.s-Begriffs lässt sich die anthropologische Einsicht in die Selbstaufgegebenheit und Weltoffenheit des Menschen bei bleibender partieller Selbstintransparenz und Selbstentzogenheit sowie der konstitutionellen leibseelischen Vulnerabilität und Angewiesenheit auf Andere und Anderes so rekonstruieren, dass der ethisch und politisch relevante Personbegriff (Person) empirisch informiert für praktische und normative Fragestellungen näher bestimmt werden kann. In Abgrenzung zu rein konstruktivistischen, arbiträren oder totalitären I.s-Konzepten trägt der sozialethische Rekurs auf I. dieser anthropologischen Einsicht insofern Rechnung, als er unter Anerkennung des Personprinzips und der Menschenwürde die Chance auf gelingende I. für alle als die empirisch fundierte Zielperspektive und Maßgabe aller Gerechtigkeitsbemühungen (Gerechtigkeit) in verschiedenen Aspekten (soziale, Verteilungs-, Chancen-, Bildungs-, Teilhabegerechtigkeit) hinsichtlich der leibseelischen Integrität (als Voraussetzung für physische und psychische Gesundheit), des sozialen Miteinanders und der Anerkennung der Anderen sowie der grundlegenden „Lebensgüter“ (Taylor 1994: 544) zur Geltung bringt. Hierin liegt ein systematischer Ansatzpunkt für eine Reformulierung einer Theorie der Menschenrechte, wonach die Anerkennung und Förderung nicht nur der eigenen, sondern auch fremder I. für alle verbindlich wird. Die Verbindlichkeit der Festlegung unantastbarer Bedingungen für Lebensführung und I.s-Bildung gründet demnach nicht in einer begrifflichen Generalisierung und Explikation eines spezifischen Menschenbildes, sondern in der stets zu aktualisierenden Erfahrung konkret gewährter bzw. verweigerter Anerkennung und der Bedeutung für das Gelingen bzw. Misslingen der I.s-Arbeit Einzelner und von Gruppen. Aufgabe der Sozialethik ist es, kontextsensibel die psychosozialen, sozio-kulturellen, strukturell-institutionellen und ökologischen Voraussetzungen zu analysieren, zu reflektieren und praxisorientiert zu bestimmen, die für eine freie und verantwortliche I.s-Bildung und I.s-Arbeit aller Individuen angesichts der gesellschaftlich-politischen Bedingungen erforderlich sind. V. a. in pluralistischen Gesellschaften bedarf es der Bildung und Unterstützung von I.en, die sich für eine auf die Menschenrechte verpflichtete Gesellschaft engagieren und u. a. die Tugenden der Kompromissfähigkeit, Ambiguitätstoleranz, Solidarität, Rücksicht, Toleranz und Achtung gegenüber Andersdenkenden besitzen sowie die demokratischen Verfahrensregeln und Grundwerte akzeptieren.

Im Unterschied zur persönlichen I. finden kollektive I.en „im übereinstimmenden praktischen Verhalten sowie in qualitativen Selbst- und Weltbeschreibungen Ausdruck, in denen Menschen übereinkommen“ (Straub 2011: 299). Kollektive I.en stellen Konstrukte dar, die in Gestalt nationaler, kultureller, ethnischer, religiöser, geschlechtlicher oder anderer I. praktisch maßgebliche und subjektiv bedeutsame Gemeinsamkeiten von Mitgliedern einer bestimmten Gruppe auch in Abgrenzung zu Anderen und Anderem festschreiben und sichtbar machen. I.s-Politik als Bemühen, die Wahrnehmung der eigenen Gruppe zu steuern und auf sozial-politische Anerkennung Einfluss zu nehmen, ist ambivalent; sie kann legitime Kämpfe um Anerkennung, Inklusion und Gleichberechtigung bedeuten, aber auch Gefahren der Essentialisierung, Diskriminierung und der Exklusion in sich bergen.