Wohlfahrtsverbände

1. Definition und Grundsätzliches

W. sind Verbände wohlfahrtspflegerisch tätiger sozialer Einrichtungen und Dienste. Wohlfahrtspflege ist dabei i. S. d. AO (§ 66) „die planmäßige, zum Wohl der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte Sorge für notleidende oder gefährdete Mitmenschen. Die Sorge kann sich auf das gesundheitliche, sittliche, erzieherische oder wirtschaftliche Wohl erstrecken und Vorbeugung oder Abhilfe bezwecken“. Das Wort Wohlfahrtspflege wurde ab den 1960er Jahren in Sozialrecht und Sozialer Arbeit zunehmend durch die Bezeichnung „soziale Hilfen“ ersetzt. Verbände sind freiwillige Vereinigungen, mit einem auf Dauer angelegten Organisationsapparat, zur Organisation und Vertretung der Interessen. W. organisieren und vertreten die Interessen der „freien“, also der nichtöffentlichen Wohlfahrtspflege.

Die sechs deutschen W. – Arbeiterwohlfahrt (AWO), Deutscher Caritasverband (DCV), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV), Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung (EWDE) und Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) – sind multifunktionale Weltanschauungsverbände, die Dienstleistungsfunktionen für ihre Mitgliedseinrichtungen und gemeinsam mit diesen für den Sozialstaat erfüllen, pro domo Lobbyfunktionen wahrnehmen, sich als Sozialanwälte für die Nutzer sozialer Dienstleistungen sowie sozial benachteiligter Menschen verstehen und sozialintegrativ wirken. Sie verfügen über hochkomplexe Binnenstrukturen, sind untereinander und mit den öffentlich-rechtlichen Kosten- und Gewährleistungsträgern der sozialen Hilfen sowie weiteren bereichspezifischen Entscheidungsträgern verflochten. Der Einbezug der freien Organisationen in Problembearbeitung und Problemdefinition wird auch als Neo- bzw. als Mesokorporatismus (Korporatismus) analysiert und als „dualer Wohlfahrtsstaat“ (Tennstedt 1992) etikettiert.

Die W. erbringen in bedeutendem Umfang soziale Dienstleistungen: In mehr als 120000 Einrichtungen mit mehr als 4 Mio. Betten/Plätzen, beschäftigen sie über 2,99 Mio. hauptamtliche und schätzungsweise 3 Mio. ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und zahlen dafür Entgelte in Höhe von insgesamt 57 Mrd. Euro (Stand 2018).

2. Historische Entwicklung

Reichen die Wurzeln der W. auch weiter in die Geschichte zurück, so erhielten die W. doch erst in der Weimarer Republik ihre heutigen Strukturen. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen zerstörten die finanzielle Basis der freien Wohlfahrtspflege. Das Deutsche Reich, das durch die neue WRV einen ausgeprägten Sozialstaatscharakter erhalten hatte und fortan über weitreichende rechtliche und finanzielle Möglichkeiten verfügte, avancierte zur wohlfahrtspolitischen Zentralinstanz und nutzte die neuen Möglichkeiten zur Förderung der freien Wohlfahrtspflege und ihrer Verbände. Die Federführung lag beim neuen Reichsarbeitsministerium, das lange der Zentrumspolitiker Heinrich Brauns (1920–28) mit einem Mitarbeiterstab, der dem Verbandskatholizismus (Katholizismus) verbunden war, führte. Nachdem der Reichstag 1922 erstmals beschlossen hatte, Reichsmittel zugunsten der Wohlfahrtspflege auszuschütten, nutzte das Reichsarbeitsministerium AM diese Mittel, um v. a. die christlichen W. Caritas (DCV) und Innere Mission (Diakonisches Werk) auf- und auszubauen. Neben den beiden christlichen Verbänden sowie der 1917 gegründeten „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“ (ZWSTt) (Jüdische Organisationen) etablierte sich mit dem Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt (AWO) Ende 1919 ein neuer, sozialdemokratischer Verband. „Alteingesessene“ Einrichtungen der Wohlfahrtspflege, die keinem dieser vier Weltanschauungsverbände angeschlossen sein wollten, bildeten, wegen der auf verbandliche Organisationen ausgerichteten Förderkulisse, 1920 einen eigenen Spitzenverband, den „Fünften W.“ (ab 1932 DPWV). Das Rote Kreuz, das vordem in erster Linie als Heeres-Sanitätsdienst tätig war, erweiterte seinen Aufgabenkreis auf die Wohlfahrtspflege und konstituierte sich Anfang 1921 als W. (DRK). Im selben Jahr gründet sich aus den Christlichen Gewerkschaften (Christliche Arbeitnehmerorganisationen) heraus der interkonfessionelle Zentralausschuß der christlichen Arbeiterschaft (ab 1930 Christliche Arbeiterhilfe).

Die Spitzenverbände avancierten zu Verteilungsinstanzen öffentlicher Mittel und wurden durch dauerhafte Subventionen zu schlagkräftigen Lobbyorganisationen (Lobby). Innerhalb der mehr oder weniger geschlossenen Weltanschauungsverbände wurden flächendeckende Binnenstrukturen geschaffen. Die wohlfahrtpflegerisch tätigen Einrichtungen, Dienste und Vereinigungen der jeweiligen W. wurden territorial auf drei Ebenen zusammengefasst: auf der kommunalen Ebene in Orts- oder Kreisverbänden, auf der regionalen Ebene in Landesverbänden (bzw. Diözesan- [ Caritas ] oder Bezirksverbänden [AWO]) und auf der zentralstaatlichen in (Reichs-)Spitzenverbänden. Neben dieser territorialen Organisation entstanden für die großen Praxisfelder auf der regionalen wie zentralstaatlichen Ebene Fachverbände innerhalb der W. Jeder W. verfügt auf der zentralstaatlichen Ebene über einen Spitzenverband als Repräsentanten des Gesamtgefüges. Die Spitzenverbände sind dabei nur ein Teil der W. und nur sehr kleine Organisationen. Sie verfügen i. d. R. nicht über Weisungsbefugnisse gegenüber den ihnen angeschlossenen Gliederungen.

Neben dem Ausbau dieser komplexen Binnenstrukturen erfolgte in den 1920er Jahren auch eine systematische Verflechtung zwischen den W.n durch die Bildung gemeinsamer Fachverbände sowie durch Arbeitsgemeinschaften oder Ligen der Freien Wohlfahrtspflege auf der kommunalen, der regionalen und schließlich auch der zentralstaatlichen Ebene. Einen Abschluss fand dieser Formierungsprozess Ende 1924 mit der Gründung der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege als Kooperationsplattform der sechs – die AWO blieb außen vor – (Reichs-)Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege.

Die W. bildeten schon in den 1920er Jahren auch mit den jeweiligen öffentlichen Stellen neokorporatistische, wohlfahrtspolitische Netzwerke. Auf der Reichsebene geschah dies durch arbeitsfeldspezifische Fachverbände sowie den 1919 reorganisierten Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge (DV), der fachlich alle Bereiche der Fürsorge/Wohlfahrtspflege umfasste. Auf der kommunalen und regionalen Ebene vollzog sich die Zusammenarbeit durch Vertretung der Verbändewohlfahrt in Ausschüssen und Beiräten der Wohlfahrtsbehörden. Diese Kooperation zwischen der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege hatte mit der Kodifizierung des Subsidiaritätsprinzips (Subsidiarität) im Weimarer Fürsorgerecht eine institutionelle Verankerung. Sie verschaffte der Verbändewohlfahrt eine privilegierte Stellung bei der Erbringung sozialer personenbezogener Dienstleistungen bei gleichzeitiger öffentlicher Refinanzierung auf Grundlage des Selbstkostendeckungsprinzips. Der deutsche Wohlfahrtsstaat wurde so zum „dualen Wohlfahrtsstaat“ (Tennstedt 1992), was bis zur Gegenwart fortwirkt und in international vergleichender Perspektive eine Besonderheit ist.

Nach regimespezifischen Veränderungen des geschilderten Organisationsgefüges während der NS-Zeit erfolgte schon während der Besatzungszeit ihre Wiederherstellung. Die vordem verbotenen W. gründeten sich neu, lediglich der Christlichen Arbeiterhilfe misslang das. In Nachfolge der Liga bildeten die W. die BAGFW. Auch die übergreifenden Fachverbände und der DV nahmen kurz nach Kriegsende ihre Arbeit wieder auf. Bei der Neufassung des Fürsorgerechts 1961 (BSHG, JWG) verstärkte der Bundesgesetzgeber durch weitergehende Subsidiaritätsregelungen die Position der W. auf Kosten der öffentlichen Träger zusätzlich. Auf dieser Grundlage und mit dem anhaltenden Ausbau des Sozialstaates nahmen Größe und Bedeutung der W. weiter zu.

Der enorme quantitative Ausbau der W. in der Nachkriegszeit ging ab den 1960er Jahren zeitlich mit allmählichen Auslösungsprozessen der sozialkulturellen Milieus einher, aus denen die W. entstanden und in denen sie verwurzelt waren. Für die beiden christlichen Verbände kam ein deutlicher Rückgang des konfessionellen Personals – Nonnen und Brüder, Diakonissen und Diakone – hinzu, was ihr Gesicht weltlicher machte. Der Beitritt der ehemaligen DDR zum Geltungsbereich des GG (Wiedervereinigung) beschleunigte diese Prozesse. Die Expansion der W. nach Ostdeutschland erfolgte, obwohl dort kaum (mehr) entsprechende Milieus existierten.

3. Aktuelles und Ausblick

Die aktuelle Lage und Stellung der W. ist durch gravierende Veränderungen gekennzeichnet, die ab Mitte der 1990er Jahre erfolgten. Im Rahmen des sogenannten Umbaus des Sozialstaates erfolgte ein Paradigmenwechsel hin zu neoliberalen Ökonomisierungs- und Wettbewerbsmodellen (Neoliberalismus). In diesem Kontext wurden die bestehenden Strukturen der Wohlfahrtspflege, die wohlfahrtspolitischen Netzwerke und Prinzipien, wie die Selbstkostendeckungsfinanzierung, als kostentreibend und als kartellförmige Marktabschottung und damit als „unökonomisch“ kritisiert. Auf der Bundesebene veränderte der Gesetzgeber nach und nach die Finanzierungsgrundsätze sozialer Dienstleistungen durch entsprechende Änderungen in den jeweiligen Büchern des SGB. An die Stelle der Selbstkostenfinanzierung trat eine Entgeltfinanzierung ohne nachträglichen Gewinn- und Verlust-Ausgleich bei gleichzeitiger Zulassung privat-gewerblicher Anbieter und deren Gleichstellung mit den (vordem ausschließlich) frei-gemeinnützigen Einrichtungen. Das Erwirtschaften von Gewinnen oder Verlusten ist seitdem für soziale Einrichtungen ebenso möglich wie für herkömmliche Wirtschaftsunternehmen (Unternehmen). Auf der kommunalen Ebene und damit insb. in den Bereichen der Sozial- sowie der Kinder- und Jugendhilfe vollzog sich der Sozialstaatsumbau durch die Implementierung Neuer Steuerungsmodelle. Die Behörden (Jugend- und Sozialämter) reorganisierten dabei zunächst ihre eigenen Binnenstrukturen und anschließend ihre Außenbeziehungen: Die Behörden schufen (Quasi-)Märkte und organisierten fortan einen Anbieterwettbewerb. Die W. und ihre Einrichtungen werden dabei zu bloßen Auftragnehmern und verlieren ihren Status als „Dritter Sozialpartner“, der in die Problemdefinition einbezogen ist und dabei Klienteninteressen advokatorisch vertreten kann. Die neokorporatistischen, wohlfahrtspolitischen Netzwerke und Aushandlungskartelle erodieren damit, ohne jedoch bislang völlig wirkungslos geworden zu sein.

Die durch die öffentlichen Kosten- und Gewährleistungsträger veränderten Außenbeziehungen – Anbieterwettbewerb, keine Selbstkostenerstattung mehr usw. – erzwangen bei den W.n auch einen binnenorganisatorischen Wandel; dieser erfolgt nach betriebswirtschaftlichem Vorbild. Sichtbarer Ausdruck dessen ist, dass immer mehr soziale Einrichtungen die Rechtsform des e. V. (Verein) zugunsten der Unternehmensrechtsform der GmbH ersetzt haben.

Als intermediäre Organisationen zwischen Markt, Staat und privaten Haushalten (Haushalt, privater) haben die W. die jeweiligen Handlungslogiken auszubalancieren; die aktuellen Entwicklungen verschieben das Gewicht in diesem Dreieck hin zur Marktlogik. In dem Maße, in dem die Marktlogik dominant wird, verlieren die W. ihren Wohlfahrtscharakter i. S. d. zitierten AO und der Wandlungsprozess von milieuverankerten Weltanschauungsverbänden hin zu Dienstleistungsunternehmen schreitet voran. Problematisch ist dabei für die jeweiligen Spitzenverbände, dass die skizzierten Entwicklungen zentrifugale Kräfte schaffen. Die Vermarktlichungs- und Ökonomisierungsprozesse betreffen die verschiedenen Bereiche der sozialen Hilfen unterschiedlich stark. Auch die jeweiligen Konkurrenzverhältnisse und Möglichkeiten, verlustfrei zu wirtschaften, unterscheiden sich in Abhängigkeit von der Größe und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Einrichtungen und Dienste. Damit entstehen bei den Einrichtungen der Wohlfahrtspflege unterschiedliche, teilweise auch sich widersprechende Interessenslagen. Die Aufgabe der (Spitzen-)Verbände, die Interessen ihrer Mitglieder (sozialen Einrichtungen) zu vertreten, wird damit schwieriger. Hinzu kommt, dass auch die unternehmerischen Interessen in ein Spannungsverhältnis zu den weltanschaulichen Anliegen der Verbände treten können. Eine Aufhebung dieser Spannungsverhältnisse durch Verzicht auf die Vertretung der wirtschaftlichen Interessen der Mitgliedseinrichtungen erscheint ebenso wenig vorstellbar wie ein Verzicht auf die Vertretung der weltanschaulichen Belange. Damit stehen die W. vor der Herausforderung, ihre Multifunktionalität aufrechtzuerhalten und die Spannungen auszubalancieren.