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Aktuelle Version vom 14. November 2023, 10:08 Uhr
I. Ethische Grundfragen
Abschnitt druckenDie Diskussion über W. erlebt eine problematische Engführung, wenn sie auf Aspekte des politischen W.s gegenüber staatlicher Herrschaft fokussiert wird. Dabei gerät aus dem Blick, dass W. eine anthropologische conditio sine qua non ist, ohne welche menschliche Existenz nicht verstanden werden könnte. Die Fragen nach Legitimität, Äußerungsformen und Zielhorizonten des W.s sind von dorther zu stellen und, zumindest partiell, zu beantworten.
1. Widerstand und Existenz
Begreift man den Menschen als ein Freiheitswesen, wird man auf den Begriff des W.s nicht verzichten können. Indem das Individuum aus eigenem Willen sein Leben entwirft und handelt, beansprucht der Mensch das Momentum einer freien, unvertretbaren Initiative. Er widersetzt sich dem Zwang des scheinbar Selbstverständlichen und Evidenten, indem er dem Strom des Seins einen W. bietet. In diesem Sinne ist W. Teil der existentiellen Grunddisposition des Menschen und damit seiner sittlichen Autonomie, die mehr oder weniger ausgeprägt zur Geltung kommen kann. Erst diese Dimension macht es möglich, dass Menschen in ihrer je eigenen Persönlichkeit und als Verantwortungsträger wahrnehmbar werden. Zu existieren bedeutet, immer schon eine Art von zunächst alltagspraktischem W. zu „leisten“. Wie die Entwicklungspsychologie beschreibt, gilt dies bereits für das frühkindliche Stadium.
Möglichkeit und Veranlagung zu widerständigem Handeln ist also eine Seinsdimension des Menschen, die seine Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit wesentlich prägt. Von hier aus führt eine direkte Brücke ins politische Feld: Damit politische Entscheidungen überhaupt getroffen werden können, Alternativen sichtbar und Handlungsfelder gestaltbar werden, ist auch politische Herrschaft auf widerständige (gesellschaftliche) Praxis i. S. v. Widerspruch angewiesen. Denn diese stört die etablierten Gleichgewichte und zwingt Politik dazu, nach je neuen Arrangements zu suchen. Widerständige gesellschaftliche Praxis ist Ursache dafür, dass gestalterische Dynamik aufkommt, die wesentlich zum Verständnis der Politik gehört und für deren Legitimität sorgt. W. hat deshalb in erster Hinsicht eine innovative Funktion. Erst danach kann auch in den Blick treten, dass sich W. im Extremfall und als dessen Sonderform auch in Akten der Notwehr und des zivilen Ungehorsams äußert.
2. Thematisch fokussierter Widerstand
Vor dem Hintergrund der fundamentalanthropologischen Überlegungen lassen sich diejenigen Phänomene einordnen, die in der politischen Soziologie als W. bezeichnet werden. In besonderen, politisch-gesellschaftlich, wirtschaftlich oder kulturell bestimmten Lagen legen sich Akte eines situativen und thematisch zugespitzten W.s nahe. Solches Handeln kann dann Legitimität beanspruchen, wenn es Fragen und Probleme thematisiert, die als akutes Risiko oder Bedrohung der Existenzform eines freiheitsbegabten, zu Verantwortung fähigen Subjekts angesehen werden. Die Frage nach der Legitimität solchen W.s ist damit zwar grundsätzlich positiv beantwortet. Sie stellt sich aber konkret jeweils neu: Welche Maßnahmen expliziten W.s im Blick auf das Gemeinwohl und die nicht pauschalisierbaren Interessen anderer Teile des Gemeinwesens akzeptabel erscheinen, kann nicht generell, sondern nur je einzeln beantwortet werden.
Von diesem Verständnis eines prinzipiell sozialethisch legitimierbaren W.s sind jene Formen zu unterscheiden, die ihre Motivation nicht in einem konstruktiv ausgelegten anthropologischen Grundverständnis finden, sondern lediglich die Destruktion des verweigerten Status quo feiern.
3. Kriterien einer Ethik des Widerstands
Hinsichtlich der Einordnung bestimmter Phänomene expliziten W.s in Gesellschaft und politischem Leben sind bes. in drei Richtungen Fragen zu stellen. Zunächst betrifft dies die Legitimität und damit die Frage nach einem gerechten Grund für Aktionen des W.s. Wenn die Möglichkeiten eines guten Lebens in Freiheit und Selbstbestimmung strukturell und dauerhaft von der etablierten Gesellschaftsform untergraben werden und anderweitige Veränderungsversuche nachhaltig erfolglos bleiben, ergibt sich eine höhere Legitimität für widerständige Handlungsweisen als bei punktuellem Nichteinverständnis mit den „herrschenden Verhältnissen“. Die weithin anerkannte Gestalt eines so motivierten W.s ist der Kampf gegen Diktatur und politischen Totalitarismus. Eine weitere Frage berührt den Zielhorizont des W.s. Geht es um eine Korrektur der bestehenden Ordnung, um deren Ergänzung oder darum, das Bestehende durch eine neue Ordnung zu ersetzen? Revolution und sozialer Wandel stehen deshalb im unmittelbaren semantischen Kontext zum Begriff des W.s.
Schließlich ist nach den Mitteln und Instrumenten des W.s zu fragen, die ebenfalls über dessen Akzeptanz und Legitimität entscheiden. Das Spektrum reicht von passivem W. über zivilen Ungehorsam und aktiven Protest bis zum Einsatz von Gewalt. Ob das gewählte Mittel zu rechtfertigen ist, kann nicht a priori beurteilt werden, sondern ist vom politischen Rahmen und dem gesellschaftlichen Kontext abhängig.
Eine bes. Rolle nimmt das Ausdrucksmittel des kulturellen W.s ein, weil dieser umfassend ansetzt und i. d. R. nicht nur den direkten Kampf gegen das politische System betreibt, sondern mentale und gesellschaftskulturelle Bewusstseinsprägung beabsichtigt. Kultur tritt als Sprache des W.s bes. in den Blick, da in totalitären Systemen die politische Ordnung so fest verfugt ist, dass kaum systemimmanente Möglichkeiten einer wirksamen Überwindung der Verhältnisse zur Verfügung stehen. Indem die imaginär-kreativen Potentiale des Menschen aktiviert werden, schöpft kultureller W. seine Wirkmächtigkeit auch aus anderen Ressourcen als sonstige Formen widerständiger Praxis. Beispiele solchen W.s sind die Systemopposition der kulturellen Intelligenz in den Staaten des sozialistischen Osteuropa zur Zeit des Kalten Krieges, Kulturprojekte in den besetzten Gebieten Palästinas oder die jüdische kulturelle Selbstorganisation innerhalb des Ghettos unter der nationalsozialistischen Verfolgung (Nationalsozialismus).
Literatur
A. Rohrbach: Erinnerungskultur und kultureller Widerstand in den palästinensischen Gebieten. Jenin, „Cinema Jenin“ und das „Freedom Theatre“, 2017 • C. Nürnberger: Mutige Menschen. Widerstand im Dritten Reich, 2015 • H. Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, 2014 • M. Hartmann: Widerspruch, in: S. Gosepath u. a. (Hg.): Hdb. der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, 2008, 1477–1481 • D. Hechler/A. Philipps (Hg.): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, 2008.
Empfohlene Zitierweise
D. Bogner: Widerstand, I. Ethische Grundfragen, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Widerstand (abgerufen: 24.11.2024)
II. Widerstand im Nationalsozialismus: Formen und Interpretationen
Abschnitt druckenDer Begriff „W.“ im historisch-politischen Bereich ist ebenso vieldeutig wie unbestimmt und umstritten; seine Definition ist fluid und gelingt eher in Abgrenzung zu anderen staatsrechtlichen Phänomenen. So wird er im Unterschied zu „Revolution“ als einer völligen Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eines Gemeinwesens gerne als der Versuch definiert, „willkürlicher staatlicher Gewalt notfalls mit Gegengewalt zu begegnen, um die legitime Ordnung zu erhalten oder wiederherzustellen“ (Höntzsch 2013: 76). Dabei ist allerdings nicht nur hoch umstritten, ob es so etwas wie ein Recht auf „W.“ nur im vormodernen Staat oder in modernen totalitären Diktaturen (Totalitarismus) oder gar auch in demokratischen Rechtsstaaten geben kann (obwohl das GG ein solches Recht in Art. 20 Abs. 4 aufführt), sondern auch, welche Gruppierungen und Einzelpersonen in bestimmten historischen Situationen dem in Deutschland seit dem Ende der NS-Herrschaft nach 1945 zunehmend positiv konnotierten Begriff zuzuordnen sind. Hinzu kommt, dass die unter den deutschen Begriff „W.“ für den Fall der NS-Diktatur zu subsumierenden Verhaltensweisen sich oft wesentlich von jenen unterscheiden, die etwa in Frankreich mit dem Begriff der résistance oder in Italien mit resistenza gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges erfasst werden.
Im Hinblick auf das NS-Regime in Deutschland war die historische Forschung nach 1945 lange Zeit erfolglos bemüht, eine valide Definition zu erarbeiten und die vielfältigen Varianten widerständigen Verhaltens in Stufenmodellen zu erfassen. Mit Blick auf den „W.“ der katholischen Kirche gegen den Nationalsozialismus hat das von Klaus Gotto, Konrad Repgen und Hans Günther Hockerts 1983 entworfene Stufenmodell einen besonderen Bekanntheitsgrad erreicht. Die Autoren gehen von der Prämisse aus, dass ein „historisch brauchbarer Widerstandsbegriff […] auf die konkreten Rahmenbedingungen des zugehörigen Herrschaftssystems bezogen sein“ (Gotto/Hockerts/Repgen 1990: 173) müsse. Erst wenn ein bestimmtes Verhalten Risikocharakter (Risiko) habe, sei es als „W.“ zu werten. Da praktisch jedes nonkonforme Verhalten in der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus Risikocharakter trug, ergibt sich ein breites Spektrum von Widerständigkeit, das mit den Begriffen „punktuelle Nonkonformität“, „Verweigerung“, „öffentlicher Protest“ und „Widerstand im engeren Sinne“ (Gehl 2010: 32) zu erfassen versucht wird. Die fehlende Trennschärfe dieser „Stufen des Widerstands“ (Blaschke 2010) und die Unmöglichkeit, die ganze Breite widerständiger Haltungen damit einzufangen, werden immer wieder kritisch gegen diesen Versuch ins Feld geführt. Zuletzt hat der Historiker Olaf Blaschke gefordert, diesem Modell ein Stufenmodell der Kollaboration von Katholiken mit dem NS-Regime an die Seite zu stellen, um der tendenziell apologetischen Wirkung einer solchen Kategorisierung entgegenzuwirken. K. Repgen selbst hat späterhin versucht, dieses Modell begrifflich zu überarbeiten und für das Verhalten von Katholiken im Nationalsozialismus den Begriff „Abstand“ (Repgen 2008) vorgeschlagen. Unabhängig davon erweisen sich solche Stufenmodelle nach wie vor in der politischen Bildungsarbeit als hilfreich, um die ganze Breite dissentierenden Verhaltens verstehbar zu machen.
Ein großes Forschungsprojekt des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, „Bayern in der NS-Zeit“, hat sodann in den 1980er Jahren widerständiges Verhalten als eine „spezifische Form der Auseinandersetzung innerhalb eines Herrschaftsverhältnisses“ (Hüttenberger 1977: 122) interpretiert und mit dem neu eingeführten Begriff der „Resistenz“ auch Kleinformen zivilen Mutes als eine herrschaftsbegrenzende Verhaltensweise interpretiert, die in ihrer Auswirkung möglicherweise weitergehend gewesen sei als manch ein gescheiterter Attentatsversuch. So weiterführend die Integration des W.s-Begriffs in eine Gesamtschau gesellschaftlichen Verhaltens im Nationalsozialismus auch war, so sehr drohte der W.s-Begriff damit auch auszuufern. Dagegen ist vielfach Kritik artikuliert worden bis hin zur Negierung idealtypisch gedachter Widerständigkeit in der Forschung der 1990er Jahre.
Unter Zurückstellung weitergehender Definitionsversuche hat die Erforschung von Milieuverbänden (Milieu) die Voraussetzungen für widerständiges Verhalten beleuchten können. Seit der Jahrtausendwende erlebt die W.s-Forschung unter dem Paradigma der „Volksgemeinschaftsforschung“ ein begrenztes neues Interesse: In der hier wieder geforderten „praxeologischen“ Perspektive auf das nationalsozialistische Konstrukt der „Volksgemeinschaft“ werden Formen abweichenden Verhaltens für die Forschung relevant, die jenseits des alten Schwarz-Weiß-Schemas von W. einerseits und Anpassung bzw. Kollaboration andererseits Realität und Reichweite dissentierenden Verhaltens erfassbar machen können.
Oft abseits solcher Definitionsversuche hat die historische Forschung in zahllosen (kollektiv-)biographischen Studien die Realität widerständigen Verhaltens in der NS-Diktatur zu erfassen gesucht, weil letztlich nur in der genauen Betrachtung des Einzelfalles sich die vielfältigen Antinomien des politischen Verhaltens in einer totalitären Diktatur, v. a. auch die häufige Gleichzeitigkeit von Teilwiderständen und Anpassung, erfassen und erklären lassen. Unbestritten früh und opferreich war der W. der politischen Linken, von Kommunisten und Sozialdemokraten, deren Kampf durch ihre innere Zerrissenheit im Zeichen des kommunistischen „Sozialfaschismus“-Vorwurfes geschwächt wurde. Ihre Organisationsstrukturen machten es den Verfolgungsbehörden des „Dritten Reiches“ leicht, die wichtigsten W.s-Zellen und -protagonisten bis zur Mitte der 1930er Jahre stark zu dezimieren. Danach waren es v. a. kleinere sozialistische Gruppierungen wie Neu Beginnen, die einen Zusammenhalt im linken politischen Lager herstellen sowie begrenzte Aktionen durchführen konnten. In der Roten Kapelle gelang es 1942 einem breiteren, aber überwiegend linken Spektrum an Mitgliedern mit spektakulärer Gegenpropaganda auf die Existenz abweichender politischer Meinungen in Deutschland aufmerksam zu machen und Kontakt zu den alliierten Kriegsgegnern aufzubauen. Im bürgerlichen Lager formierte sich „W.“ nur langsam und unter Nutzung von schwerer zu enttarnenden Freundschaftsbeziehungen. Der Kreisauer Kreis von Helmuth James Graf von Moltke diskutierte etwa partei- und konfessionsübergreifend über die Gestaltung der Zeit nach Adolf Hitler. Seinen Höhepunkt erreichte der bürgerliche W., aber auch der W. führender Gewerkschafter, linker wie christlicher, indem diese sich mit den seit 1933 schon feststellbaren W.s-Zirkeln einzelner militärischer Führer verbanden und sich am gescheiterten Attentatsversuch von Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 20.7.1944 beteiligten. Auch die christlichen Kirchen, katholischer- wie evangelischerseits, haben auf verschiedenen Ebenen und mit wechselnder Intensität Anteil am W.s-Geschehen gehabt. So ist etwa das mutige Aufstehen des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, gegen die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in der Aktion T4 berühmt geworden. Kleinere religiöse Gruppierungen wie die Zeugen Jehovas haben ihren vom Regime nicht zu unterdrückenden öffentlichen Bekennermut mit einer hohen Zahl bes. auch weiblicher KZ-Opfer bezahlen müssen. Jenseits solcher politisch-gesellschaftlicher Gruppen hat es immer aber auch den W. von Einzelpersonen wie des Schreiners Johann Georg Elser gegeben, der 1939 ganz allein einen letztlich gescheiterten Anschlag auf A. Hitler im Münchner Bürgerbräukeller geplant und durchgeführt hat. Der kleine Kreis Münchner Studierender um Hans und Sophie Scholl und Alexander Schmorell hat unter dem Namen Weiße Rose durch Flugblattaktionen die Menschen wachzurütteln und für den W. gegen A. Hitler zu motivieren versucht. Wie viele andere erreichten sie ihr Ziel nicht und mussten ihren Wagemut mit dem Leben bezahlen.
Die Erinnerung an all diese Menschen ist ein wertvolles Gut, auch wenn die historische Forschung in den letzten Jahrzehnten betont hat, dass ihre Zukunftsvorstellungen nicht unbedingt demokratisch inspiriert waren, dass auch unter ihnen ein schwankendes Maß an Antisemitismus zu konstatieren ist und dass sich v. a. die Militärs auch an der Ausführung verbrecherischer Befehle des Regimes beteiligt haben oder beteiligen mussten. Denn was sie alle einte, war das Verlangen nach der Beendigung der zahllosen NS-Verbrechen, der Wiederherstellung der Menschenwürde und des Rechtsstaates. Auf ihren unter Lebensgefahr geübten W. konnte sich die junge Bundesrepublik berufen und ein neues Deutschland gründen, das sich zwar erst allmählich, dann aber umso nachdrücklicher in ihre Tradition stellte.
Die DDR knüpfte an den antifaschistischen W. der kommunistischen W.s-Gruppierungen an, deren Erbe allein in großen ritualhaften und bald erstarrten Gedenkveranstaltungen beschworen wurde, die jedoch nur ein unzureichendes Bild von der NS-Diktatur in breitere Bevölkerungskreise hinein vermitteln konnten. Zugleich unterdrückte sie wie viele andere totalitäre kommunistische Regime (Kommunismus) eine auf Freiheit drängende und bald erneut W. – diesmal gegen die SED-Diktatur – übende politische, gesellschaftliche und kirchliche Opposition. Diese umfasste ähnliche Kreise wie im Nationalsozialismus und agierte in ähnlichen Formen des W.s. Nicht selten berief sie sich dabei auch auf Vorbilder aus der NS-Zeit.
Literatur
M. Kißener: Wegmarken der deutschen Widerstandsforschung nach 1945, in: S. Hermle/D. Pöpping (Hg.): Zwischen Verklärung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus nach 1945, 2017, 33–50 • F. Höntzsch: Die klassische Lehre vom Widerstandsrecht, in: B. Enzmann (Hg.): Hdb. Politische Gewalt, 2013, 75–95 • O. Blaschke: Stufen des Widerstands – Stufen der Kollaboration, in: A. Henkelmann/N. Priesching (Hg.): Widerstand? Forschungsperspektiven auf das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus, 2010, 63–88 • G. Gehl: Katholische Jugendliche im Dritten Reich in der katholischen Provinz. Grenzen der Gleichschaltung, 22010 • K.-J. Hummel/M. Kißener (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, 2009 • K. Repgen: Widerstand oder Abstand? Kirche und Katholiken in Deutschland 1933 bis 1945, in: K. Hildebrand/U. Wengst/A. Wirsching (Hg.): Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, 2008, 555–568 • G. Brakelmann: Helmuth James von Moltke. 1907–1945. Eine Biographie, 2007 • J. Hürter: Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, 2007 • P. Steinbach/J. Tuchel (Hg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945, 2004 • K.-W. Fricke/P. Steinbach/J. Tuchel (Hg.): Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, 2002 • P. Steinbach: Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, 22001 • P. Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, 21992 • K. Gotto/H. G. Hockerts/K. Repgen: Nationalsozialistische Herausforderung und kirchliche Antwort, in: K. Gotto/K. Repgen (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich, 31990, 173–191 • M. Broszat/E. Fröhlich: Alltag und Widerstand. Bayern im Nationalsozialismus, 21987 • P. Steinbach: Widerstand. Ein Problem zwischen Theorie und Geschichte, 1987 • M. Broszat u.a.: Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., 1977–83 • P. Hüttenberger: Vorüberlegungen zum „Widerstandsbegriff“, in: J. Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers, 1977, 117–139.
Empfohlene Zitierweise
M. Kißener: Widerstand, II. Widerstand im Nationalsozialismus: Formen und Interpretationen, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Widerstand (abgerufen: 24.11.2024)
III. Widerstand im real existierenden Sozialismus: Der Fall DDR
Abschnitt druckenOhne Formen des Widerspruchs und der Opposition ist auch das politische System der DDR nicht zu verstehen. Sie zielten im Wesentlichen darauf ab, im Rahmen des Systems die Machtträger zur Einhaltung verbindlicher Normen zu veranlassen; mit relativ geringen Chancen z. B. für die dem Führungsanspruch der SED unterworfenen Parteien. Kirchen und sozialethisch orientierte Initiativen hatten stärkeres Gewicht. Aus letzteren formierte sich im Herbst 1989 der massenweise W., der zur Entmachtung der SED führte.
Im Unterschied zu den angedeuteten Oppositionsformen konnte sich politischer W. nicht in legalen Handlungsräumen bewegen. W.s-Handlungen zielten auf eine Schwächung oder Beseitigung der SED-Macht und deren öffentliche Diskreditierung. Widerständige haben sich nicht an Normen des Staates oder der Kirchen gehalten und mussten ihre Aktionen nicht vor ihren Gegnern legitimieren. Direkte oder indirekte Gewalt war insofern nicht ausgeschlossen. Eine politische Programmatik brauchte nicht entwickelt zu werden, da im Ziel der Aufhebung der SED-Macht eine demokratische Alternative impliziert war. W. war weitgehender und entschlossener in der Konfrontation mit der SED als die legalistisch vorgehende Opposition.
Vier W.s-Typen sind zu unterscheiden: Zunächst ist als wichtigste Form von W. der spontane Massenaufstand zu bewerten. Neben mehreren kleineren Streik- und Protestwellen waren der 17. Juni 1953 und die Demonstrationen der Herbstrevolution 1989 Massenerhebungen. Große Teile der Bevölkerung reagierten auf die unerträglich gewordene Differenz zwischen gesamtgesellschaftlichen Interessen und der Politik der SED. In den Aufständen verbanden sich politische, soziale und nationale Forderungen, die im Ergebnis auf eine Option für die westdeutsche politische und wirtschaftliche Ordnung hinausliefen. Für die Ergebnisse der Aufstände war die Haltung der sowjetischen Macht entscheidend. Im Unterschied zu 1953 verband sich die Herbstrevolution 1989 mit einer entwickelten Opposition, die den Verlauf der Ereignisse auf politische Ziele orientieren, den Aufstand legitimieren und legalisieren konnte.
Eine weitere W.s-Form entwickelte sich in unterdrückten sozialen Milieus, zunächst auch aus politischen Parteien und Organisationen heraus, wenn diese keine legale Möglichkeit mehr besaßen, ihre Interessen zu vertreten. Hierzu zählt seit 1946 der W. von Sozialdemokraten und Mitgliedern der bürgerlichen Parteien, LDPD und Ost-CDU (CDU). Gegen die Bedrückung der Bauernschaft und anderer bürgerlicher Schichten wurde W. bis zu Sabotagehandlungen geleistet. In den fünfziger Jahren bildeten sich W.s-Kerne in intellektuellen Milieus (Intellektuelle), wo eine Reihe von verdeckt arbeitenden Gruppen mit unterschiedlicher Energie die SED angriffen. In späteren Jahren kann auch die politisch motivierte, totale und strafbare Wehrdienstverweigerung – im Unterschied zur milderen, legalen Form des waffenlosen Bausoldatendienstes – dazu gerechnet werden. W.s-Handlungen von kleineren Gruppen sind selten vorgekommen, wie etwa Aktionen marxistischer (Marxismus) Gruppen (Trotzkisten).
Drittens wären die W.s-Handlungen einzelner Personen zu nennen. Solche Aktionen wurden konspirativ vorbereitet und waren zuweilen mit Gewalt verbunden, wie die Sprengung des sowjetischen Panzers 1980 am Befreiungsdenkmal in Karl-Marx-Stadt. Kleine Sabotageakte, Anbringen von Losungen, Herstellen von Flugblättern haben oft Akteure unternommen, deren Namen zu DDR-Zeiten nie bekannt wurden. Gehäuft trat dieser W. in Zeiten politischer Krisen wie 1968 auf. In diesen Situationen gingen Menschen hohe persönliche Risiken ein. Oft waren es auch Verzweiflungsakte wie die Selbstverbrennung des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz im August 1976, Reaktionen auf den Verlust der sozialen, kulturellen oder religiösen Identität.
Als letzte Form des W.s kann Flucht und Ausreise gelten. Sie waren fast immer eine Option für den Westen als politische und ökonomische Alternative zur DDR. Flüchtende und Ausreiseantragsteller haben erhebliche Risiken auf sich genommen, durch energische und phantasievolle Aktionen ihre Flucht ins Werk gesetzt oder ihre Ausreise zu erzwingen versucht. Zur politischen Opposition, die auf ein Mindestmaß von Legalität angewiesen war, bestand ein Interessen- und Strategiekonflikt, der sich in anhaltenden Differenzen zeigte. Ein Teil der Ausreiseantragsteller hat jedoch die Verbindung zu Opposition und Kirche herstellen können, engagierte sich in Gruppen, betonte die Legalität seines Begehrens und geriet damit in die Nähe von Opposition.
Literatur
E. Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 32003 • K.-W. Fricke/P. Steinbach/J. Tuchel (Hg.): Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, 2002 • E. Neubert/B. Eisenfeld (Hg.): Macht Ohnmacht Gegenmacht. Grundfragen zur politischen Gegnerschaft in der DDR, 2001 • H.-J. Veen u. a. (Hg.): Lexikon Opposition und Widerstand in der SED-Diktatur, 2000.
Empfohlene Zitierweise
E. Neubert: Widerstand, III. Widerstand im real existierenden Sozialismus: Der Fall DDR, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Widerstand (abgerufen: 24.11.2024)