Fundamentalismus: Unterschied zwischen den Versionen
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− | Der Begriff des F. bezieht sich auf politische und religiöse Bewegungen, die auf Krisenerfahrungen im Kontext von Modernisierungsprozessen mit der Rückkehr zu Ordnungs- und Moralvorstellungen reagieren, die vermeintlich im „Goldenen Zeitalter“ einer sozialen bzw. religiösen Gemeinschaft in Geltung standen und die Idealform einer moralisch integren und/oder gottgefälligen Lebenspraxis darstellen. Ihre Reinstallierung soll Reichweite und Intensität sozio-kultureller Komplexitäts- und Pluralitätssteigerung reduzieren sowie daraus entstehende Probleme der Erosion sozialer [[Identität| Identität]] und des Verlustes von gemeinsamen Lebensführungsgewissheiten neutralisieren. Seine Attraktivität bezieht der F. aus der Aufzehrung des Fortschrittsoptimismus der westlichen Moderne (u. a. angesichts ihrer ökologischen Selbstgefährdung) und der Nichteinlösung ihres Versprechens, dem ökonomisch unterentwickelten und politisch abhängigen Teil der Welt an Wachstum und Wohlstand teilhaben zu lassen. Mangels anderer ideologischer Alternativen zur Verarbeitung kultureller Verunsicherung, wirtschaftlicher Unterlegenheit und politischer Marginalisierung avanciert der F. in den 1990er Jahren zum Lieferanten einer weltanschaulichen Identität im Modus der Hinkehr zu Beständen vormoderner Traditionen. Im Unterschied zu anderen Protestbewegungen rekrutiert der F. seine Anhänger nicht primär auf der Basis gemeinsamer schichten- oder klassenspezifischer Interessen. Vielmehr integriert er Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft auf der Basis vormoderner Leitbilder (religiös-)kultureller Identität in neue Gemeinschaften, deren Bestand durch scharfe Innen/Außen-Differenzen und radikales Freund-Feind-Denken stabilisiert wird. Charakteristisch für alle Spielarten des politischen und religiösen F. ist das Insistieren auf einen Bestand von unveränderlichen „Wahrheiten“ und Autoritäten, denen unbedingte Anerkennung geschuldet bzw. deren Kritik oder Relativierung nicht toleriert wird. Als fundamentalistisch können auch Grundhaltungen, moralische Überzeugungen und politische Optionen aufgefasst werden, die sich angesichts der Bestreitung ihrer Legitimation und rationalen Vertretbarkeit dem argumentativen Diskurs entziehen und dennoch | + | Der Begriff des F. bezieht sich auf politische und religiöse Bewegungen, die auf Krisenerfahrungen im Kontext von Modernisierungsprozessen mit der Rückkehr zu Ordnungs- und Moralvorstellungen reagieren, die vermeintlich im „Goldenen Zeitalter“ einer sozialen bzw. religiösen Gemeinschaft in Geltung standen und die Idealform einer moralisch integren und/oder gottgefälligen Lebenspraxis darstellen. Ihre Reinstallierung soll Reichweite und Intensität sozio-kultureller Komplexitäts- und Pluralitätssteigerung reduzieren sowie daraus entstehende Probleme der Erosion sozialer [[Identität| Identität]] und des Verlustes von gemeinsamen Lebensführungsgewissheiten neutralisieren. Seine Attraktivität bezieht der F. aus der Aufzehrung des Fortschrittsoptimismus der westlichen Moderne (u. a. angesichts ihrer ökologischen Selbstgefährdung) und der Nichteinlösung ihres Versprechens, dem ökonomisch unterentwickelten und politisch abhängigen Teil der Welt an Wachstum und Wohlstand teilhaben zu lassen. Mangels anderer ideologischer Alternativen zur Verarbeitung kultureller Verunsicherung, wirtschaftlicher Unterlegenheit und politischer Marginalisierung avanciert der F. in den 1990er Jahren zum Lieferanten einer weltanschaulichen Identität im Modus der Hinkehr zu Beständen vormoderner Traditionen. Im Unterschied zu anderen Protestbewegungen ([[Protest]]) rekrutiert der F. seine Anhänger nicht primär auf der Basis gemeinsamer schichten- oder klassenspezifischer Interessen. Vielmehr integriert er Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft auf der Basis vormoderner Leitbilder (religiös-)kultureller Identität in neue Gemeinschaften, deren Bestand durch scharfe Innen/Außen-Differenzen und radikales Freund-Feind-Denken stabilisiert wird. Charakteristisch für alle Spielarten des politischen und religiösen F. ist das Insistieren auf einen Bestand von unveränderlichen „Wahrheiten“ und Autoritäten, denen unbedingte Anerkennung geschuldet bzw. deren Kritik oder Relativierung nicht toleriert wird. Als fundamentalistisch können auch Grundhaltungen, moralische Überzeugungen und politische Optionen aufgefasst werden, die sich angesichts der Bestreitung ihrer Legitimation und rationalen Vertretbarkeit dem argumentativen Diskurs entziehen und dennoch allgemeine Geltung beanspruchen bzw. davon abweichenden Positionen mit massiver Intoleranz begegnen. |
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<h3>1. Herkunft und Karriere des Begriffs</h3> | <h3>1. Herkunft und Karriere des Begriffs</h3> | ||
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− | Der Begriff F. bezeichnet | + | Der Begriff F. bezeichnet ursprünglich eine Allianz protestantisch-konservativer Gruppen in den USA, die ab 1919 als <I>World’s Christian Fundamentals Association</I> auftreten. Aus diesem Umfeld stammt auch die Schriftenreihe „The Fundamentals – A Testimony of the Truth“ (1910–1915), in der zur Verteidigung der protestantischen Orthodoxie unter Berufung auf die Verbalinspiration und absolute Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift im Kampf gegen modernistische Tendenzen (z. B. historisch-kritische Exegese) agitiert wird. Die Niederlage des fundamentalistischen Lagers im Kampf gegen die Evolutionstheorie führt (seit 1925) zwar zum Rückzug aus der Öffentlichkeit, bewirkt aber auch eine Radikalisierung seiner biblizistischen Optionen (u. a. bzgl. Jungfrauengeburt, Wunder Jesu). Seit den späten 1970er Jahren erleben Phänomen und Begriff des F. eine enorme Ausweitung. In den USA schließt sich der protestantische F. mit rechtskonservativen Kreisen zur <I>moral majority</I> zusammen und versucht Einfluss auf Wahlen, Gesetzgebung und staatliche Autoritäten zu gewinnen. Innerhalb des [[Katholizismus]] nehmen traditionalistische Kreise, die in Opposition stehen zu Beschlüssen des [[Zweites Vatikanisches Konzil|Zweiten Vatikanischen Konzils]] (v. a. zur Religionsfreiheit, Ökumene, Dialog der Religionen), fundamentalistische Züge an (z. B. Piusbruderschaft). Ein jüdischer F. tritt nach den israelisch-arabischen Kriegen (1967–1973) hervor in der Verbindung von [[Zionismus]] und einer aggressiven, sich auf biblische Verheißungen berufenden Siedlungspolitik in palästinensischen Wohngebieten. Das Erstarken des islamischen F. ist u. a. Folge einer nach dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft ([[Kolonialismus]]) einsetzenden Besinnung auf eine eigene kulturelle Identität, die im Kontrast zu liberalen und säkularen Mustern ([[Säkularisierung]]) des modernen kulturellen und sozialen Lebens steht. Die Ausrufung der Islamischen Republik Iran unter Ruhollah Musawi Khomeini (1979) forciert im arabischen Raum das Aufkommen traditionalistischer bzw. patriarchaler Protest- und religiöser Reformbewegungen, die theokratische Vorstellungen einer religiös grundierten „societas perfecta“ vertreten. Mit dem Angriff auf das World Trade Center in New York (2001) erreicht der islamische F. eine terroristische Eskalationsstufe ([[Terrorismus]]). |
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<h3>2. Programmatik und Strukturmerkmale</h3> | <h3>2. Programmatik und Strukturmerkmale</h3> | ||
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− | Ebenso heterogen wie das Phänomen sind die Deutungsmodelle des F. Gemeinsam ist jedoch nahezu allen sozialpsychologischen, politologischen und kultursoziologischen Erklärungsversuchen die Herausstellung einer Ablehnung der [[Moderne]] bei gleichzeitiger partieller Übernahme ihrer Errungenschaften: Als moderne Antimoderne tritt der F. als offensive Gegenströmung auf, die einerseits die politischen Projekte der Moderne (Autonomie, Pluralität und Partizipation, Toleranz, Trennung von [[Religion]] und Staat) bekämpft, andererseits sich all ihrer technischen Möglichkeiten der internen Kommunikation, Anwerbung von Mitgliedern und öffentlichen Selbstdarstellung bedient. Charakteristisch für den F. ist dabei die Überzeugung, eine Anleitung zur Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit zu besitzen, die sowohl die individuelle Lebensführung als auch das Zusammenleben in der Gesellschaft erschöpfend regelt ([[Integralismus]]). Beim religiösen F. handelt es sich überwiegend um eine Reaktion auf Bedrohungs- und Enteignungserfahrungen im Kontext von Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen. Reagiert wird darauf mit den Mitteln des moralischen Rigorismus, des doktrinären Dogmatismus und der sozialen „Exklusion“. Gegenüber der modernitätstypischen Problematisierung, Historisierung und Relativierung von Geltungsansprüchen bestreitet der religiöse F. seine eigene Kontingenz und reklamiert für sich Besitz und Gültigkeit vormoderner Garantien: die Irrtumslosigkeit heiliger Schriften, die Unfehlbarkeit von Amtsträgern, die Unantastbarkeit von Doktrinen und Ritualen. Zentrale Glaubensinhalte werden gegenüber kritisch-rationaler Prüfung immunisiert und die historisch-kritische Auslegung kanonischer Texte unterbleibt. Zudem wird beansprucht, Vernunfterkenntnis (z. B. in Fragen der Kosmogenese und Evolution) durch Glaubenserkenntnis ersetzen zu können. Hinzu kommt meist eine dualistisch-manichäische Weltinterpretation, in der die Mächte des Lichtes oder Gottes gegen die der Finsternis bzw. des Satans stehen. Dieser Dualismus kann auch auf politische Konstellationen angewandt werden. So strömen im islamischen F. die zerstörenden Mächte aus den USA, Israel, dem „Westen“ in die arabische Welt ein, wohingegen im protestantischen F. z. B. den [[Freimaurer|Freimaurern]] die Rolle des Bösen zugewiesen wurde. Das Weltgeschehen wird in einen heilsgeschichtlichen Horizont gestellt, wobei die Gegenwart als religiöse Verfallszeit erscheint, die Vergangenheit als Zeit des wahren Heils idealisiert wird, in welcher der Wille Gottes rein und unverfälscht gelebt wurde, und die Zukunft mit eschatologischen, häufig apokalyptischen Erwartungen besetzt wird. Selbst behutsame Anpassungen von Doktrin und Ethos an neue kulturelle Situationen werden als Verrat an der religiösen Überlieferung diskreditiert. Moderne Grundunterscheidungen wie „säkular/religiös“ oder „Staat/Religion“ werden wieder eingezogen. Anhänger des islamischen F. kritisieren große Teil der gewachsenen islamischen Tradition als Verfallsformen des [[Islam]], lehnen den von der europäischen Aufklärung geprägten Gedanken der Autonomie menschlicher Vernunft und Moral ab und streben die Wiedererrichtung eines von der Anwendung der [[Scharia]] geprägten islamischen Staates an. Viele dieser | + | Ebenso heterogen wie das Phänomen sind die Deutungsmodelle des F. Gemeinsam ist jedoch nahezu allen sozialpsychologischen, politologischen und kultursoziologischen Erklärungsversuchen die Herausstellung einer Ablehnung der [[Moderne]] bei gleichzeitiger partieller Übernahme ihrer Errungenschaften: Als moderne Antimoderne tritt der F. als offensive Gegenströmung auf, die einerseits die politischen Projekte der Moderne (Autonomie, Pluralität und Partizipation, Toleranz, Trennung von [[Religion]] und Staat) bekämpft, andererseits sich all ihrer technischen Möglichkeiten der internen Kommunikation, Anwerbung von Mitgliedern und öffentlichen Selbstdarstellung bedient. Charakteristisch für den F. ist dabei die Überzeugung, eine Anleitung zur Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit zu besitzen, die sowohl die individuelle Lebensführung als auch das Zusammenleben in der Gesellschaft erschöpfend regelt ([[Integralismus]]). Beim religiösen F. handelt es sich überwiegend um eine Reaktion auf Bedrohungs- und Enteignungserfahrungen im Kontext von Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen. Reagiert wird darauf mit den Mitteln des moralischen Rigorismus, des doktrinären Dogmatismus und der sozialen „Exklusion“. Gegenüber der modernitätstypischen Problematisierung, Historisierung und Relativierung von Geltungsansprüchen bestreitet der religiöse F. seine eigene Kontingenz und reklamiert für sich Besitz und Gültigkeit vormoderner Garantien: die Irrtumslosigkeit heiliger Schriften, die Unfehlbarkeit von Amtsträgern, die Unantastbarkeit von Doktrinen und Ritualen. Zentrale Glaubensinhalte werden gegenüber kritisch-rationaler Prüfung immunisiert und die historisch-kritische Auslegung kanonischer Texte unterbleibt. Zudem wird beansprucht, Vernunfterkenntnis (z. B. in Fragen der Kosmogenese und Evolution) durch Glaubenserkenntnis ersetzen zu können. Hinzu kommt meist eine dualistisch-manichäische Weltinterpretation, in der die Mächte des Lichtes oder Gottes gegen die der Finsternis bzw. des Satans stehen. Dieser Dualismus kann auch auf politische Konstellationen angewandt werden. So strömen im islamischen F. die zerstörenden Mächte aus den USA, Israel, dem „Westen“ in die arabische Welt ein, wohingegen im protestantischen F. z. B. den [[Freimaurer|Freimaurern]] die Rolle des Bösen zugewiesen wurde. Das Weltgeschehen wird in einen heilsgeschichtlichen Horizont gestellt, wobei die Gegenwart als religiöse Verfallszeit erscheint, die Vergangenheit als Zeit des wahren Heils idealisiert wird, in welcher der Wille Gottes rein und unverfälscht gelebt wurde, und die Zukunft mit eschatologischen, häufig apokalyptischen Erwartungen besetzt wird. Selbst behutsame Anpassungen von Doktrin und Ethos an neue kulturelle Situationen werden als Verrat an der religiösen Überlieferung diskreditiert. Moderne Grundunterscheidungen wie „säkular/religiös“ oder „Staat/Religion“ werden wieder eingezogen. Anhänger des islamischen F. kritisieren große Teil der gewachsenen islamischen Tradition als Verfallsformen des [[Islam]], lehnen den von der europäischen Aufklärung geprägten Gedanken der Autonomie menschlicher Vernunft und Moral ab und streben die Wiedererrichtung eines von der Anwendung der [[Scharia]] geprägten islamischen Staates an. Viele dieser sogenannten Islamisten praktizieren eine militante Auslegung des [[Dschihad]]-Gedankens und propagieren die Anwendung von Terror und Gewalt auf dem Weg zur Wiederherstellung eines „urislamischen“ Idealzustands oder erneuerten Kalifates. Mit der Übernahme politischer Herrschaft wollen sie die wahre Identität der islamischen Kultur aus ihrer opportunistischen Nähe zur westlichen Moderne ein für alle Mal befreien. Allerdings wird an diesem Phänomen auch die Unschärfe der Kategorie F. deutlich, deren Verwendungsspektrum vom blindwütigen religiösen Fanatismus bis hin zum ideologisch geschlossenen System eines politischen Antisäkularismus reicht. |
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− | H. Höhn: Fundamentalismus, I. Theologisch, Version | + | H. Höhn: Fundamentalismus, I. Theologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Fundamentalismus}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}}) |
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− | Von F. ist zumeist dann die Rede, wenn in der soziokulturellen und intellektuellen Auseinandersetzung mit Modernisierungsprozessen (Urbanisierung, Industrialisierung, Individualisierung, Pluralisierung, [[Modernisierung]]) sowie ggf. der [[Säkularisierung]] oder zumindest Umdeutung der Funktion traditionaler [[Religion|Religionen]] eines der sinnstiftenden und begründenden Elemente dieser Religion zum zentralen, nicht mehr hinterfragbaren Identitätsmarker gemacht wird. Im F., der um 1910 im Kontext des biblizistisch-evangelikalen, mehrheitlich calvinistischen nordamerikanischen Protestantismus entstand, ist die Tendenz vorherrschend, heilige Texte in Gestalt einer vorgeblich von jeder Exegese unabhängigen Literalauslegung zu verabsolutieren. Dies gilt insb. für den F. im Kontext der drei großen Buchreligionen ([[Judentum]], [[Christentum]], [[Islam]]), nicht aber für den eher traditionalistischen, schriftarmen Hindu-F. ([[Hinduismus]]) Demnach werden in den Buchreligionen religiöse Überlieferungen strikt wörtlich und ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge oder hermeneutische Regeln ausgelegt. Umgekehrt büßen überkommene Autoritäten und Traditionen an Wert ein. In diesem Sinne unterscheidet sich der F. vom | + | Von F. ist zumeist dann die Rede, wenn in der soziokulturellen und intellektuellen Auseinandersetzung mit Modernisierungsprozessen (Urbanisierung, Industrialisierung, Individualisierung, Pluralisierung, [[Modernisierung]]) sowie ggf. der [[Säkularisierung]] oder zumindest Umdeutung der Funktion traditionaler [[Religion|Religionen]] eines der sinnstiftenden und begründenden Elemente dieser Religion zum zentralen, nicht mehr hinterfragbaren Identitätsmarker gemacht wird. Im F., der um 1910 im Kontext des biblizistisch-evangelikalen, mehrheitlich calvinistischen nordamerikanischen Protestantismus entstand, ist die Tendenz vorherrschend, heilige Texte in Gestalt einer vorgeblich von jeder Exegese unabhängigen Literalauslegung zu verabsolutieren. Dies gilt insb. für den F. im Kontext der drei großen Buchreligionen ([[Judentum]], [[Christentum]], [[Islam]]), nicht aber für den eher traditionalistischen, schriftarmen Hindu-F. ([[Hinduismus]]) Demnach werden in den Buchreligionen religiöse Überlieferungen strikt wörtlich und ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge oder hermeneutische Regeln ausgelegt. Umgekehrt büßen überkommene Autoritäten und Traditionen an Wert ein. In diesem Sinne unterscheidet sich der F. vom [[Traditionalismus]], der eine, freilich verwandte, Form des Umgangs mit Modernisierungsphänomenen darstellt. F. bedeutet dabei keinesfalls eine totale Gegnerschaft zur [[Moderne]] oder gar eine angestrebte Rückkehr in eine oft imaginierte idealisierte Vergangenheit, sondern vielmehr einen selektiven Umgang mit der technologisch und kommunikativ bestimmten Industriemoderne. Der F. ist grundsätzlich ein Anverwandlungsphänomen und kein vormoderner Anachronismus. Mitunter handelt es sich beim F. sogar um eine ausgesprochen antihistorische Weltanschauung. Man denke etwa an den Umgang sunnitisch-wahabitischer Fundamentalisten mit den Denkmälern der Prophetenzeit in Mekka und Medina, die bedenkenlos gesprengt wurden, um modernen Gebäuden Platz zu machen, oder an die Zerstörung vorislamischer Kulturgüter, die über Jh. auch von islamischen Herrschern und Geistlichen akzeptiert worden waren, durch die Taliban in Afghanistan oder den „Islamischen Staat“ im Irak und in Syrien. Da es sich beim F. um ein heterogenes und kulturabhängiges Phänomen handelt, empfiehlt es sich, von divergierenden Fundamentalismen zu sprechen, die je nach der religiösen Tradition, an die sie anknüpfen, komplett unterschiedlich ausfallen können und deren soziokulturelle Praktiken sich vielfach radikal voneinander unterscheiden. So war etwa der amerikanische protestantische F. zu Beginn zwar gleichzeitig staatskritisch und patriotisch sowie ablehnend gegenüber der (kulturprotestantisch inspirierten) historisch-kritischen Exegese, aber weder antideutsch noch bes. militant. Viele amerikanische Fundamentalisten waren in den 1910er und 1920er Jahren noch pazifistisch eingestellt ([[Pazifismus]]). Obwohl der amerikanische protestantische F. seit den 1920er Jahren politisch konsequent in das rechte politische Spektrum gerückt ist, blieb er weiterhin verfassungspatriotisch und lehnte, von einer kleinen postmillenaristischen Minderheit der <I>Dominion Theology</I> abgesehen, die Aufhebung der Trennung von Staat und Kirche ([[Kirche und Staat]]) ab, um so am Primat lokalistischer Einzelgemeinden vor einer institutionalisierten Kirchenorganisation festhalten zu können. Ferner bekennen sich diese Fundamentalisten durchwegs zum liberalen Marktkapitalismus. Überdies hat der amerikanische protestantische F. bei aller Militanz in der Sprache und aller Radikalität etwa im Kampf gegen die Abtreibungsgesetzgebung oder die Homosexuellenehe in den USA weitgehend auf Gewalt verzichtet. Demgegenüber haben Fundamentalismen anderer Religionen, oft auch vor dem Hintergrund negativer Gewalt- und Repressionserfahrungen innerhalb der eigenen Kultur oder durch das imperialistische Expansionsstreben des liberalen Westens, eine markantere Gewaltkultur, eine heftige Ablehnung kultureller oder verfassungsrechtlicher Elemente des „[[Westen|Westens]]“ sowie des [[Kapitalismus]] entwickelt, die nicht selten in spezifische Formen postkolonialer Gewaltanwendung ([[Postkolonialismus]]) umschlagen. Dies gilt primär für den sunnitischen islamistischen F., aber auch für hinduistische, buddhistische und jüdische Fundamentalismen. |
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− | Der nordamerikanische F. nahm seinen Ausgang als professoral-akademische Intellektuellenbewegung zu Beginn des 20. Jh. im Rahmen der innerprotestantischen Auseinandersetzungen um die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift als Materialprinzip des protestantischen Glaubens. An Popularität gewann der F., indem er in der Folgezeit (bis Mitte der 1920er Jahre) die bereits seit den 1880er Jahren laufende, deutlich volkstümlichere, oftmals antiintellektuelle evangelikale Erweckungsbewegung überformte und ihr einen gesellschaftskritischen Anstrich verlieh. Allerdings fielen Evangelikalismus und F. nie in eins, ebenso wenig Pfingstchristentum und F. Der Wort- und der Geist.-F. stellten eine bes. radikale Variante von Evangelikalismus und Pfingstchristentum dar. Politisch und sozial reagierte der F. in den USA auf den Zerfall der bürgerlich-liberal-evangelikalen Reformkoalition, die in der Partei der Whigs seit 1834 und dann im Rahmen der Republikanischen Partei seit 1854 das gesellschaftliche Leben in den USA maßgeblich im Sinne beschleunigter soziokultureller Reformprozesse gekennzeichnet hatte. Mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Exegese aus der Aufklärungstradition einerseits, dem historistischen darwinistischen Evolutionismus ([[Evolution]]) andererseits und drittens dem Scheitern des letzten gemeinsamen sozialen Reformprojekts, der Prohibition (nationales Alkoholverbot), zerbrach diese Koalition. Im evangelikalen Lager, v. a. bei den Fundamentalisten, wuchs in den 1920er Jahren – auch vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen der viktorianischen, nunmehr eher ländlich konnotierten, repressiv-sozialdisziplinierenden Sexualmoral und als urban und modern empfundenen, konsumistischen und individualistischen Sexualpraktiken – die Furcht, allmählich aus den Aushandlungen nationaler Identität und kultureller Hegemonie herausgedrängt zu werden. Mit den soziokulturellen „Revolutionen“ der 1960er Jahre intensivierte sich diese Bedrohungsperzeption kulturell, aber nicht sozial marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, was den Widerstand gegen bestimmte Elemente des Modernisierungsprozesses anheizte und zu den | + | Der nordamerikanische F. nahm seinen Ausgang als professoral-akademische Intellektuellenbewegung zu Beginn des 20. Jh. im Rahmen der innerprotestantischen Auseinandersetzungen um die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift als Materialprinzip des protestantischen Glaubens. An Popularität gewann der F., indem er in der Folgezeit (bis Mitte der 1920er Jahre) die bereits seit den 1880er Jahren laufende, deutlich volkstümlichere, oftmals antiintellektuelle evangelikale Erweckungsbewegung überformte und ihr einen gesellschaftskritischen Anstrich verlieh. Allerdings fielen Evangelikalismus und F. nie in eins, ebenso wenig Pfingstchristentum und F. Der Wort- und der Geist.-F. stellten eine bes. radikale Variante von Evangelikalismus und Pfingstchristentum dar. Politisch und sozial reagierte der F. in den USA auf den Zerfall der bürgerlich-liberal-evangelikalen Reformkoalition, die in der Partei der Whigs seit 1834 und dann im Rahmen der Republikanischen Partei seit 1854 das gesellschaftliche Leben in den USA maßgeblich im Sinne beschleunigter soziokultureller Reformprozesse gekennzeichnet hatte. Mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Exegese aus der Aufklärungstradition einerseits, dem historistischen darwinistischen Evolutionismus ([[Evolution]]) andererseits und drittens dem Scheitern des letzten gemeinsamen sozialen Reformprojekts, der Prohibition (nationales Alkoholverbot), zerbrach diese Koalition. Im evangelikalen Lager, v. a. bei den Fundamentalisten, wuchs in den 1920er Jahren – auch vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen der viktorianischen, nunmehr eher ländlich konnotierten, repressiv-sozialdisziplinierenden Sexualmoral und als urban und modern empfundenen, konsumistischen und individualistischen Sexualpraktiken – die Furcht, allmählich aus den Aushandlungen nationaler Identität und kultureller Hegemonie herausgedrängt zu werden. Mit den soziokulturellen „Revolutionen“ der 1960er Jahre intensivierte sich diese Bedrohungsperzeption kulturell, aber nicht sozial marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, was den Widerstand gegen bestimmte Elemente des Modernisierungsprozesses anheizte und zu den sogenannten Kulturkriegen der Gegenwart führte. |
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− | M. Hochgeschwender: Fundamentalismus, II. Geschichtlich, Version | + | M. Hochgeschwender: Fundamentalismus, II. Geschichtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Fundamentalismus}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}}) |
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− | Eingeleitet durch den | + | Eingeleitet durch den sogenannten <I>evangelical upsurge</I>, formierte sich eine politisch-religiöse Allianz, die <I>New Christian Right</I>. Diese koalierte mit dem Neokonservatismus in einer „ballot box marriage“ (Diamond 1998: IX), welche Präsident Ronald Reagan und der Republikanischen Partei 1980 zur Mehrheit im Land verhalf. Diese ordnungspolitisch motivierte machtvolle Rückkehr des religiös-politischen F. erschütterte das liberal-säkulare Establishment um so mehr, als diese innenpolitischen Konfliktlinien auf analoge Erscheinungsformen in Gestalt neuer weltpolitischer konfliktärer Konstellationen verwiesen: die religiös-politische Herausforderung der westlichen Moderne insgesamt. Das entsprechende Schlüsselerlebnis war die für die westliche Weltsicht konsternierende islamisch-politische Revolutionierung der nahöstlichen Welt, die 1979 im Iran begann, 1981 zur Ermordung des ägyptischen Präsidenten Muhammad Anwar as-Sadat führte und unmittelbar auf die westliche, insb. aber amerikanische globale Ordnungspolitik zurückwirkte. Diese tiefgreifenden Wandlungen in der politisch-kulturellen Tektonik der Welt bedingten eine selbstkritische Reflexion der säkularistisch aufgeklärten Wissenschaft. Der religiös motivierte [[Radikalismus]] jenseits des religiösen [[Traditionalismus]] schien westlichen Beobachtern unvermittelt einen weltweiten bewegungspolitischen Auf- und Umbruch zu signalisieren. Die islamische Gesellschaft, so lautete das Urteil, hat nur eine bes. virulente und potentiell globale Form der Politik hervorgebracht, „other major religious traditions have also given birth to movements that can be fruitfully compared with the Islamic movement“ (Almond/Appleby/Sivan 2003: 6 f.). Die Emergenz dieses allem Anschein nach international akzentuierten pluriformen religiös-politischen Komplexes bestimmte zunehmend die intellektuellen und politischen Debatten in den USA und Europa in den 80er Jahren. Diskursübergreifend stellte sich die Frage nach einem Terminus „if it is to make sense of a set of global phenomena which urgently bid to be understood“ (Marty/Appleby 1991: VIII). Für eine wissenschaftliche Konzeptualisierung dieses Phänomens rekurrierte die akademische Forschung auf die spezifisch amerikanisch konnotierte semantische Prägung <I>F.</I> und entwickelte auf dieser Grundlage einen generischen F.-Begriff. Federführend war das <I>Fundamentalism Project</I> der <I>American Academy of Arts and Sciences</I>, dessen Ergebnisse 1991 bis 1995 in fünf Bänden vorgelegt wurden. Das Resultat war ein zehnjähriges interdisziplinäres Forschungsprogramm, das antimoderne, antisäkularistische militante religiöse Bewegungen auf fünf Kontinenten und innerhalb der fünf Weltreligionen ([[Christentum]], [[Judentum]] und [[Islam]] sowie [[Hinduismus]] und [[Buddhismus]]) einschließlich ostasiatischer Formationen wie den Sikhismus und [[Konfuzianismus]] auf den Kollektivbegriff des F. hin interpretierte, sodass nun der Aufstieg eines globalen F. diagnostiziert werden konnte. |
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− | <I>c)</I> Unter der religionstheoretischen Voraussetzung werden westliche <I>ideologisch</I> motivierte militante Bewegungen, also der totalitäre [[Nationalsozialismus]], [[Faschismus]] und [[Kommunismus]], als „secular movements“ nicht dem F. zugeordnet. „(T)hey are pseudoreligious rather than authentically religious. They may call upon their followers to make ultimate sacrifice, but, unlike the monotheistic religions, […] they do not assure their followers that God or an eternal reward awaits them“ (Almond/Appleby/Sivan 2003: 15). Einzig ein Autor im Projekt, der Zivilisationstheoretiker Shmuel Noah Eisenstadt, thematisiert die innerweltliche politische Religiosität als bestimmenden Idealfaktor moderner Bewegungspolitik. Er verweist auf den | + | <I>c)</I> Unter der religionstheoretischen Voraussetzung werden westliche <I>ideologisch</I> motivierte militante Bewegungen, also der totalitäre [[Nationalsozialismus]], [[Faschismus]] und [[Kommunismus]], als „secular movements“ nicht dem F. zugeordnet. „(T)hey are pseudoreligious rather than authentically religious. They may call upon their followers to make ultimate sacrifice, but, unlike the monotheistic religions, […] they do not assure their followers that God or an eternal reward awaits them“ (Almond/Appleby/Sivan 2003: 15). Einzig ein Autor im Projekt, der Zivilisationstheoretiker Shmuel Noah Eisenstadt, thematisiert die innerweltliche politische Religiosität als bestimmenden Idealfaktor moderner Bewegungspolitik. Er verweist auf den [[Totalitarismus]] des Jakobinismus der Französischen Revolution als Prototyp des modernen F., der den heterodoxen christlich-jüdischen Messianismus in ein aktivistisches Programm der Umgestaltung der Welt mit dem Ziel der Errichtung einer ultimativen Heilsordnung transformiert und in der religiösen Welt des Islams und des Fernen Ostens analoge politische Messianismen entstehen ließ. Damit wird die Unterscheidung zwischen <I>säkularem</I> und <I>religiösem</I> F. hinfällig und eine Differenzierung von innerweltlichem politisch-aktivistischem Messianismus einerseits und traditionsgeleitetem politisch-religiösem Aktivismus andererseits in der Analyse des modernen F. möglich. |
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− | J. Gebhardt: Fundamentalismus, III. Politikwissenschaftlich, Version | + | J. Gebhardt: Fundamentalismus, III. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon<sup>8</sup> online, URL: {{fullurl:Fundamentalismus}} (abgerufen: {{CURRENTDAY2}}.{{CURRENTMONTH}}.{{CURRENTYEAR}}) |
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Aktuelle Version vom 14. November 2023, 09:54 Uhr
I. Theologisch
Abschnitt druckenDer Begriff des F. bezieht sich auf politische und religiöse Bewegungen, die auf Krisenerfahrungen im Kontext von Modernisierungsprozessen mit der Rückkehr zu Ordnungs- und Moralvorstellungen reagieren, die vermeintlich im „Goldenen Zeitalter“ einer sozialen bzw. religiösen Gemeinschaft in Geltung standen und die Idealform einer moralisch integren und/oder gottgefälligen Lebenspraxis darstellen. Ihre Reinstallierung soll Reichweite und Intensität sozio-kultureller Komplexitäts- und Pluralitätssteigerung reduzieren sowie daraus entstehende Probleme der Erosion sozialer Identität und des Verlustes von gemeinsamen Lebensführungsgewissheiten neutralisieren. Seine Attraktivität bezieht der F. aus der Aufzehrung des Fortschrittsoptimismus der westlichen Moderne (u. a. angesichts ihrer ökologischen Selbstgefährdung) und der Nichteinlösung ihres Versprechens, dem ökonomisch unterentwickelten und politisch abhängigen Teil der Welt an Wachstum und Wohlstand teilhaben zu lassen. Mangels anderer ideologischer Alternativen zur Verarbeitung kultureller Verunsicherung, wirtschaftlicher Unterlegenheit und politischer Marginalisierung avanciert der F. in den 1990er Jahren zum Lieferanten einer weltanschaulichen Identität im Modus der Hinkehr zu Beständen vormoderner Traditionen. Im Unterschied zu anderen Protestbewegungen (Protest) rekrutiert der F. seine Anhänger nicht primär auf der Basis gemeinsamer schichten- oder klassenspezifischer Interessen. Vielmehr integriert er Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft auf der Basis vormoderner Leitbilder (religiös-)kultureller Identität in neue Gemeinschaften, deren Bestand durch scharfe Innen/Außen-Differenzen und radikales Freund-Feind-Denken stabilisiert wird. Charakteristisch für alle Spielarten des politischen und religiösen F. ist das Insistieren auf einen Bestand von unveränderlichen „Wahrheiten“ und Autoritäten, denen unbedingte Anerkennung geschuldet bzw. deren Kritik oder Relativierung nicht toleriert wird. Als fundamentalistisch können auch Grundhaltungen, moralische Überzeugungen und politische Optionen aufgefasst werden, die sich angesichts der Bestreitung ihrer Legitimation und rationalen Vertretbarkeit dem argumentativen Diskurs entziehen und dennoch allgemeine Geltung beanspruchen bzw. davon abweichenden Positionen mit massiver Intoleranz begegnen.
1. Herkunft und Karriere des Begriffs
Der Begriff F. bezeichnet ursprünglich eine Allianz protestantisch-konservativer Gruppen in den USA, die ab 1919 als World’s Christian Fundamentals Association auftreten. Aus diesem Umfeld stammt auch die Schriftenreihe „The Fundamentals – A Testimony of the Truth“ (1910–1915), in der zur Verteidigung der protestantischen Orthodoxie unter Berufung auf die Verbalinspiration und absolute Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift im Kampf gegen modernistische Tendenzen (z. B. historisch-kritische Exegese) agitiert wird. Die Niederlage des fundamentalistischen Lagers im Kampf gegen die Evolutionstheorie führt (seit 1925) zwar zum Rückzug aus der Öffentlichkeit, bewirkt aber auch eine Radikalisierung seiner biblizistischen Optionen (u. a. bzgl. Jungfrauengeburt, Wunder Jesu). Seit den späten 1970er Jahren erleben Phänomen und Begriff des F. eine enorme Ausweitung. In den USA schließt sich der protestantische F. mit rechtskonservativen Kreisen zur moral majority zusammen und versucht Einfluss auf Wahlen, Gesetzgebung und staatliche Autoritäten zu gewinnen. Innerhalb des Katholizismus nehmen traditionalistische Kreise, die in Opposition stehen zu Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils (v. a. zur Religionsfreiheit, Ökumene, Dialog der Religionen), fundamentalistische Züge an (z. B. Piusbruderschaft). Ein jüdischer F. tritt nach den israelisch-arabischen Kriegen (1967–1973) hervor in der Verbindung von Zionismus und einer aggressiven, sich auf biblische Verheißungen berufenden Siedlungspolitik in palästinensischen Wohngebieten. Das Erstarken des islamischen F. ist u. a. Folge einer nach dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft (Kolonialismus) einsetzenden Besinnung auf eine eigene kulturelle Identität, die im Kontrast zu liberalen und säkularen Mustern (Säkularisierung) des modernen kulturellen und sozialen Lebens steht. Die Ausrufung der Islamischen Republik Iran unter Ruhollah Musawi Khomeini (1979) forciert im arabischen Raum das Aufkommen traditionalistischer bzw. patriarchaler Protest- und religiöser Reformbewegungen, die theokratische Vorstellungen einer religiös grundierten „societas perfecta“ vertreten. Mit dem Angriff auf das World Trade Center in New York (2001) erreicht der islamische F. eine terroristische Eskalationsstufe (Terrorismus).
2. Programmatik und Strukturmerkmale
Ebenso heterogen wie das Phänomen sind die Deutungsmodelle des F. Gemeinsam ist jedoch nahezu allen sozialpsychologischen, politologischen und kultursoziologischen Erklärungsversuchen die Herausstellung einer Ablehnung der Moderne bei gleichzeitiger partieller Übernahme ihrer Errungenschaften: Als moderne Antimoderne tritt der F. als offensive Gegenströmung auf, die einerseits die politischen Projekte der Moderne (Autonomie, Pluralität und Partizipation, Toleranz, Trennung von Religion und Staat) bekämpft, andererseits sich all ihrer technischen Möglichkeiten der internen Kommunikation, Anwerbung von Mitgliedern und öffentlichen Selbstdarstellung bedient. Charakteristisch für den F. ist dabei die Überzeugung, eine Anleitung zur Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit zu besitzen, die sowohl die individuelle Lebensführung als auch das Zusammenleben in der Gesellschaft erschöpfend regelt (Integralismus). Beim religiösen F. handelt es sich überwiegend um eine Reaktion auf Bedrohungs- und Enteignungserfahrungen im Kontext von Modernisierungs- und Säkularisierungsprozessen. Reagiert wird darauf mit den Mitteln des moralischen Rigorismus, des doktrinären Dogmatismus und der sozialen „Exklusion“. Gegenüber der modernitätstypischen Problematisierung, Historisierung und Relativierung von Geltungsansprüchen bestreitet der religiöse F. seine eigene Kontingenz und reklamiert für sich Besitz und Gültigkeit vormoderner Garantien: die Irrtumslosigkeit heiliger Schriften, die Unfehlbarkeit von Amtsträgern, die Unantastbarkeit von Doktrinen und Ritualen. Zentrale Glaubensinhalte werden gegenüber kritisch-rationaler Prüfung immunisiert und die historisch-kritische Auslegung kanonischer Texte unterbleibt. Zudem wird beansprucht, Vernunfterkenntnis (z. B. in Fragen der Kosmogenese und Evolution) durch Glaubenserkenntnis ersetzen zu können. Hinzu kommt meist eine dualistisch-manichäische Weltinterpretation, in der die Mächte des Lichtes oder Gottes gegen die der Finsternis bzw. des Satans stehen. Dieser Dualismus kann auch auf politische Konstellationen angewandt werden. So strömen im islamischen F. die zerstörenden Mächte aus den USA, Israel, dem „Westen“ in die arabische Welt ein, wohingegen im protestantischen F. z. B. den Freimaurern die Rolle des Bösen zugewiesen wurde. Das Weltgeschehen wird in einen heilsgeschichtlichen Horizont gestellt, wobei die Gegenwart als religiöse Verfallszeit erscheint, die Vergangenheit als Zeit des wahren Heils idealisiert wird, in welcher der Wille Gottes rein und unverfälscht gelebt wurde, und die Zukunft mit eschatologischen, häufig apokalyptischen Erwartungen besetzt wird. Selbst behutsame Anpassungen von Doktrin und Ethos an neue kulturelle Situationen werden als Verrat an der religiösen Überlieferung diskreditiert. Moderne Grundunterscheidungen wie „säkular/religiös“ oder „Staat/Religion“ werden wieder eingezogen. Anhänger des islamischen F. kritisieren große Teil der gewachsenen islamischen Tradition als Verfallsformen des Islam, lehnen den von der europäischen Aufklärung geprägten Gedanken der Autonomie menschlicher Vernunft und Moral ab und streben die Wiedererrichtung eines von der Anwendung der Scharia geprägten islamischen Staates an. Viele dieser sogenannten Islamisten praktizieren eine militante Auslegung des Dschihad-Gedankens und propagieren die Anwendung von Terror und Gewalt auf dem Weg zur Wiederherstellung eines „urislamischen“ Idealzustands oder erneuerten Kalifates. Mit der Übernahme politischer Herrschaft wollen sie die wahre Identität der islamischen Kultur aus ihrer opportunistischen Nähe zur westlichen Moderne ein für alle Mal befreien. Allerdings wird an diesem Phänomen auch die Unschärfe der Kategorie F. deutlich, deren Verwendungsspektrum vom blindwütigen religiösen Fanatismus bis hin zum ideologisch geschlossenen System eines politischen Antisäkularismus reicht.
3. Fundamentalismuskritik und Gegenkritik
Mit nahezu allen Spielarten des weltanschaulichen F. verbindet sich eine Kampfansage an die westliche Kultur, der man moralischen Niedergang und die Diktatur des Relativismus attestiert. Von der Gegenkritik wird „F.“ als Kampfbegriff gebraucht, mit dem es die Werte der europäischen Aufklärung zu verteidigen gilt. Dabei wird zum einen darauf insistiert, dass ein friedlicher und fairer Umgang mit kulturellen und religiösen Differenzen kaum anders als mit den Mitteln des säkularen und liberalen Rechtsstaates zu gewährleisten ist. An die Adresse von Religionen, die für sich einen (exklusiven) „Heilsweg“ reklamieren, wird die Frage adressiert, was sie von sich aus aufbieten, um gegen fundamentalistische Versuchungen gefeit zu sein und sich einer politischen Instrumentalisierung zu erwehren. Bleiben überzeugende Antworten aus, nährt dies den Verdacht, dass ein fundamentalistischer Grundzug in Struktur und Logik religiöser Überzeugungen eingeschrieben ist.
Literatur
St. Goertz u. a. (Hg.): Fluchtpunkt Fundamentalismus?, 2013 • T. Meyer: Was ist Fundamentalismus?, 2011 • A. Grünschloss: Was ist „Fundamentalismus“?, in: T. Unger (Hg.): Fundamentalismus und Toleranz, 2009, 163–199 • H. W. Schäfer: Kampf der Fundamentalismen, 2008 • K. Armstrong: Im Kampf um Gott, 2007 • K. Kienzler: Der religiöse Fundamentalismus, 2007 • C. Six u. a. (Hg.): Religiöser Fundamentalismus, 2004 • G. Küenzlen: Die Wiederkehr der Religion, 2003 • M. Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, 22001 • H. Bielefeldt/W. Heitmeyer (Hg.): Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, 1998.
Empfohlene Zitierweise
H. Höhn: Fundamentalismus, I. Theologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Fundamentalismus (abgerufen: 25.11.2024)
II. Geschichtlich
Abschnitt druckenVon F. ist zumeist dann die Rede, wenn in der soziokulturellen und intellektuellen Auseinandersetzung mit Modernisierungsprozessen (Urbanisierung, Industrialisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Modernisierung) sowie ggf. der Säkularisierung oder zumindest Umdeutung der Funktion traditionaler Religionen eines der sinnstiftenden und begründenden Elemente dieser Religion zum zentralen, nicht mehr hinterfragbaren Identitätsmarker gemacht wird. Im F., der um 1910 im Kontext des biblizistisch-evangelikalen, mehrheitlich calvinistischen nordamerikanischen Protestantismus entstand, ist die Tendenz vorherrschend, heilige Texte in Gestalt einer vorgeblich von jeder Exegese unabhängigen Literalauslegung zu verabsolutieren. Dies gilt insb. für den F. im Kontext der drei großen Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam), nicht aber für den eher traditionalistischen, schriftarmen Hindu-F. (Hinduismus) Demnach werden in den Buchreligionen religiöse Überlieferungen strikt wörtlich und ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge oder hermeneutische Regeln ausgelegt. Umgekehrt büßen überkommene Autoritäten und Traditionen an Wert ein. In diesem Sinne unterscheidet sich der F. vom Traditionalismus, der eine, freilich verwandte, Form des Umgangs mit Modernisierungsphänomenen darstellt. F. bedeutet dabei keinesfalls eine totale Gegnerschaft zur Moderne oder gar eine angestrebte Rückkehr in eine oft imaginierte idealisierte Vergangenheit, sondern vielmehr einen selektiven Umgang mit der technologisch und kommunikativ bestimmten Industriemoderne. Der F. ist grundsätzlich ein Anverwandlungsphänomen und kein vormoderner Anachronismus. Mitunter handelt es sich beim F. sogar um eine ausgesprochen antihistorische Weltanschauung. Man denke etwa an den Umgang sunnitisch-wahabitischer Fundamentalisten mit den Denkmälern der Prophetenzeit in Mekka und Medina, die bedenkenlos gesprengt wurden, um modernen Gebäuden Platz zu machen, oder an die Zerstörung vorislamischer Kulturgüter, die über Jh. auch von islamischen Herrschern und Geistlichen akzeptiert worden waren, durch die Taliban in Afghanistan oder den „Islamischen Staat“ im Irak und in Syrien. Da es sich beim F. um ein heterogenes und kulturabhängiges Phänomen handelt, empfiehlt es sich, von divergierenden Fundamentalismen zu sprechen, die je nach der religiösen Tradition, an die sie anknüpfen, komplett unterschiedlich ausfallen können und deren soziokulturelle Praktiken sich vielfach radikal voneinander unterscheiden. So war etwa der amerikanische protestantische F. zu Beginn zwar gleichzeitig staatskritisch und patriotisch sowie ablehnend gegenüber der (kulturprotestantisch inspirierten) historisch-kritischen Exegese, aber weder antideutsch noch bes. militant. Viele amerikanische Fundamentalisten waren in den 1910er und 1920er Jahren noch pazifistisch eingestellt (Pazifismus). Obwohl der amerikanische protestantische F. seit den 1920er Jahren politisch konsequent in das rechte politische Spektrum gerückt ist, blieb er weiterhin verfassungspatriotisch und lehnte, von einer kleinen postmillenaristischen Minderheit der Dominion Theology abgesehen, die Aufhebung der Trennung von Staat und Kirche (Kirche und Staat) ab, um so am Primat lokalistischer Einzelgemeinden vor einer institutionalisierten Kirchenorganisation festhalten zu können. Ferner bekennen sich diese Fundamentalisten durchwegs zum liberalen Marktkapitalismus. Überdies hat der amerikanische protestantische F. bei aller Militanz in der Sprache und aller Radikalität etwa im Kampf gegen die Abtreibungsgesetzgebung oder die Homosexuellenehe in den USA weitgehend auf Gewalt verzichtet. Demgegenüber haben Fundamentalismen anderer Religionen, oft auch vor dem Hintergrund negativer Gewalt- und Repressionserfahrungen innerhalb der eigenen Kultur oder durch das imperialistische Expansionsstreben des liberalen Westens, eine markantere Gewaltkultur, eine heftige Ablehnung kultureller oder verfassungsrechtlicher Elemente des „Westens“ sowie des Kapitalismus entwickelt, die nicht selten in spezifische Formen postkolonialer Gewaltanwendung (Postkolonialismus) umschlagen. Dies gilt primär für den sunnitischen islamistischen F., aber auch für hinduistische, buddhistische und jüdische Fundamentalismen.
Der nordamerikanische F. nahm seinen Ausgang als professoral-akademische Intellektuellenbewegung zu Beginn des 20. Jh. im Rahmen der innerprotestantischen Auseinandersetzungen um die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift als Materialprinzip des protestantischen Glaubens. An Popularität gewann der F., indem er in der Folgezeit (bis Mitte der 1920er Jahre) die bereits seit den 1880er Jahren laufende, deutlich volkstümlichere, oftmals antiintellektuelle evangelikale Erweckungsbewegung überformte und ihr einen gesellschaftskritischen Anstrich verlieh. Allerdings fielen Evangelikalismus und F. nie in eins, ebenso wenig Pfingstchristentum und F. Der Wort- und der Geist.-F. stellten eine bes. radikale Variante von Evangelikalismus und Pfingstchristentum dar. Politisch und sozial reagierte der F. in den USA auf den Zerfall der bürgerlich-liberal-evangelikalen Reformkoalition, die in der Partei der Whigs seit 1834 und dann im Rahmen der Republikanischen Partei seit 1854 das gesellschaftliche Leben in den USA maßgeblich im Sinne beschleunigter soziokultureller Reformprozesse gekennzeichnet hatte. Mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Exegese aus der Aufklärungstradition einerseits, dem historistischen darwinistischen Evolutionismus (Evolution) andererseits und drittens dem Scheitern des letzten gemeinsamen sozialen Reformprojekts, der Prohibition (nationales Alkoholverbot), zerbrach diese Koalition. Im evangelikalen Lager, v. a. bei den Fundamentalisten, wuchs in den 1920er Jahren – auch vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen der viktorianischen, nunmehr eher ländlich konnotierten, repressiv-sozialdisziplinierenden Sexualmoral und als urban und modern empfundenen, konsumistischen und individualistischen Sexualpraktiken – die Furcht, allmählich aus den Aushandlungen nationaler Identität und kultureller Hegemonie herausgedrängt zu werden. Mit den soziokulturellen „Revolutionen“ der 1960er Jahre intensivierte sich diese Bedrohungsperzeption kulturell, aber nicht sozial marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, was den Widerstand gegen bestimmte Elemente des Modernisierungsprozesses anheizte und zu den sogenannten Kulturkriegen der Gegenwart führte.
Vieles an diesen nordamerikanischen Vorgaben findet sich auch in den Fundamentalismen des Nahen Ostens, Nordafrikas, Ost- und Südasiens, hier nur verstärkt durch postkoloniale Erfahrungen und mit einem erheblich gewaltaffineren Auftreten. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch diese Fundamentalismen sich zeitlich parallel zum protestantischen F. der USA im Kontext globaler religiöser Erweckungsbewegungen im 19. Jh. vor dem Hintergrund des Hochimperialismus (Imperialismus) entwickelten. Das zeigen etwa die wahabitische Reaktion in Saudi-Arabien auf die Osmanische Herrschaft oder die Bewegung des Mahdi im Sudan der 1880er Jahre, die sich gleichermaßen gegen osmanische und britische Herrschaftsansprüche richtete. Die weitere Radikalisierung etwa bei den Muslimbrüdern in den 1920er Jahren verknüpfte erneut antiimperialistische, postkoloniale und binnenislamische Kontroversen. Vergleichbare Radikalisierungsvorgänge lassen sich bei indischen Hindus ausmachen. Nach dem Ende der binären Ordnung des Kalten Krieges konnten sich diese zuvor durch prowestliche oder prokommunistische Modernisierungsdiktaturen in Schach gehaltenen Bewegungen dann, nicht zuletzt aufgrund ihrer sozialen Aktivitäten unter einer stark verarmten Bevölkerung, besser entfalten. Die Interventionen der USA im nahöstlichen Raum, insb. die Golfkriege, bereiteten schließlich den weiteren Boden für einen neuerlichen Radikalisierungsschub, der weiterhin anhält.
Literatur
R. Hermann: Endstation Islamischer Staat, 2015 • J. Manemann: Der Dschihad und der Nihilismus des Westens, 2015. H. Schmidt-Glintzer (Hg.): Weist der Fundamentalismus die Wissenschaft in die Schranken?, 2012 • S. Bruce: Fundamentalism, 2007 • M. Hochgeschwender: Amerikanische Religion, 2007 • C. Six: Religiöser Fundamentalismus, 2005.
Empfohlene Zitierweise
M. Hochgeschwender: Fundamentalismus, II. Geschichtlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Fundamentalismus (abgerufen: 25.11.2024)
III. Politikwissenschaftlich
Abschnitt druckenDer weltweite Aufstieg militanter religiös-politischer Bewegungen zum Ausgang des 20. Jh. induzierte im politischen und wissenschaftlichen Diskurs des Westens eine grundsätzliche Debatte über den essentiellen Charakter dieses Phänomens, das im generischen Begriff des globalen F. auf einen idealtypischen Nenner gebracht wurde und die einschlägigen Forschungsprogramme in Form und Inhalt bestimmte.
1. Ursprünge und Elemente des Fundamentalismusbegriffs
Begriffsgeschichtlich entstammt die semantische Prägung F. der religiös-kulturellen Formensprache des amerikanischen Protestantismus. In diesem Kontext entfaltete sich im späten 19. Jh. ein spezifischer theologisch-konfessioneller und letztlich politischer Komplex von Ideen, Haltungen und Sentimenten, der in binnenamerikanischen Selbstverständigungsdiskursen als eigenständiger politisch-religiöser Ausdruck moderner christlicher Frömmigkeitskultur beschrieben und auf deren gemeinsame Züge hin als christlicher F. interpretiert und kritisiert wurde.
Die inhaltliche Bestimmung der Definitionsmerkmale dieses F. waren geprägt vom biblizistisch-millenarisch gestimmten evangelikalen Protestantismus, der auf Basis gemeinsamer Glaubensüberzeugungen (Fundamentals) zum kollektiven nativistisch gefärbten Widerstand gegen Modernismen in Kirche, Gesellschaft und Wissenschaft aufrief. In der Verbindung mit dem populistisch-demokratischen Parteiführer William Jennings Bryan formierten sich die Fundamentalisten politisch und führten 1920 bis 1925 einen Anti-Evolution Crusade mit dem Ziel, in den Südstaaten die Lehren der Evolutionstheorie in Universitäten und Schulen zu verbieten. Als man zudem eine informelle Allianz mit dem Ku Klux Klan einging, war politisches Scheitern programmiert. Die Evangelikalen zogen sich in ihre kirchliche Glaubenskultur zurück und schienen zunehmend gesellschaftlich isoliert. Für diesen F. schien zu gelten, was die herrschende Lehre von der modernisierungstheoretisch konturierten globalen Säkularisierung generell postulierte: fortschreitende Marginalisierung der Religion bis hin zu deren gänzlichen Verschwinden. Doch dem widersprach die unerwartete Persistenz fundamentalistischer Glaubensgemeinschaften. Diese wurden in der Folge im öffentlichen Diskurs der 50er Jahre auf ihre antiliberale und antisäkulare Position hin interpretiert und kategorial als historischer Prototyp des antimodernen Geistes in den USA begriffen. Damit wandelte sich der Bedeutungsgehalt von F., der nun im Sinn eines Kampfbegriffs jede Form von Irrationalität und Anti-Intellektualismus in den USA umfasste. So lautete Richard Hofstadters berühmte These: F. „represented a thorough-going and militant reaction to the prevailing forces of modernity“ (Wuthnow/Lawsen 1994: 20). In dieser Sicht war F. ein resistenter traditionalistischer Fremdkörper in der modernen Gesellschaft.
2. Idee und Realität des globalen Fundamentalismus
Aber: „(R)eligion was not disappearing, it was relocating“ (Marty 1987: 18). Die herrschende Deutung der Moderne wurde in den 70er Jahren ernsthaft in Frage gestellt, nicht zuletzt durch die Rückkehr der amerikanischen Fundamentalisten in die Politik
Eingeleitet durch den sogenannten evangelical upsurge, formierte sich eine politisch-religiöse Allianz, die New Christian Right. Diese koalierte mit dem Neokonservatismus in einer „ballot box marriage“ (Diamond 1998: IX), welche Präsident Ronald Reagan und der Republikanischen Partei 1980 zur Mehrheit im Land verhalf. Diese ordnungspolitisch motivierte machtvolle Rückkehr des religiös-politischen F. erschütterte das liberal-säkulare Establishment um so mehr, als diese innenpolitischen Konfliktlinien auf analoge Erscheinungsformen in Gestalt neuer weltpolitischer konfliktärer Konstellationen verwiesen: die religiös-politische Herausforderung der westlichen Moderne insgesamt. Das entsprechende Schlüsselerlebnis war die für die westliche Weltsicht konsternierende islamisch-politische Revolutionierung der nahöstlichen Welt, die 1979 im Iran begann, 1981 zur Ermordung des ägyptischen Präsidenten Muhammad Anwar as-Sadat führte und unmittelbar auf die westliche, insb. aber amerikanische globale Ordnungspolitik zurückwirkte. Diese tiefgreifenden Wandlungen in der politisch-kulturellen Tektonik der Welt bedingten eine selbstkritische Reflexion der säkularistisch aufgeklärten Wissenschaft. Der religiös motivierte Radikalismus jenseits des religiösen Traditionalismus schien westlichen Beobachtern unvermittelt einen weltweiten bewegungspolitischen Auf- und Umbruch zu signalisieren. Die islamische Gesellschaft, so lautete das Urteil, hat nur eine bes. virulente und potentiell globale Form der Politik hervorgebracht, „other major religious traditions have also given birth to movements that can be fruitfully compared with the Islamic movement“ (Almond/Appleby/Sivan 2003: 6 f.). Die Emergenz dieses allem Anschein nach international akzentuierten pluriformen religiös-politischen Komplexes bestimmte zunehmend die intellektuellen und politischen Debatten in den USA und Europa in den 80er Jahren. Diskursübergreifend stellte sich die Frage nach einem Terminus „if it is to make sense of a set of global phenomena which urgently bid to be understood“ (Marty/Appleby 1991: VIII). Für eine wissenschaftliche Konzeptualisierung dieses Phänomens rekurrierte die akademische Forschung auf die spezifisch amerikanisch konnotierte semantische Prägung F. und entwickelte auf dieser Grundlage einen generischen F.-Begriff. Federführend war das Fundamentalism Project der American Academy of Arts and Sciences, dessen Ergebnisse 1991 bis 1995 in fünf Bänden vorgelegt wurden. Das Resultat war ein zehnjähriges interdisziplinäres Forschungsprogramm, das antimoderne, antisäkularistische militante religiöse Bewegungen auf fünf Kontinenten und innerhalb der fünf Weltreligionen (Christentum, Judentum und Islam sowie Hinduismus und Buddhismus) einschließlich ostasiatischer Formationen wie den Sikhismus und Konfuzianismus auf den Kollektivbegriff des F. hin interpretierte, sodass nun der Aufstieg eines globalen F. diagnostiziert werden konnte.
Diese programmatisch formulierte, wissenschaftlich grundierte Konzeptionalisierung des modern religious fundamentalism war nicht nur terminologisch, sondern auch in der inhaltlichen Bestimmung der Definitionsmerkmale beeinflusst von der amerikanischen Vorgabe: „The Fundamentalism Project issues from the world called Western, the sphere in which the ‚modern‘, ‚liberal‘ and ‚secular‘ achievements were most readily experienced, and where fundamentalism had appeared to be recessive […]“. So wurde das fundamentalistische Syndrom als Herausforderung verstanden „to those who have held non- and counterfundamentalist understandings of reason, practice, and politics“ (Marty/Appleby 1991: XIII).
3. Der Fundamentalismusdiskurs: Widersprüche und Aporien
Der wissenschaftliche und der ihm folgende öffentliche F.-Diskurs werden durch vier letztlich in sich widersprüchliche Elemente bestimmt.
a) Die Formenvielfalt antimoderner und antisäkularer, religiös motivierter militanter Bewegungen muss als Antimodernität in der Modernität beschrieben werden.
b) Die Restriktion auf die Revolte der traditionellen, insb. theistischen Religion gegen eine säkulare Moderne setzt den generischen christentumsinduzierten Religionsbegriff voraus, der spezifische religiöse Vergemeinschaftsformen impliziert. Indogene religiös unterfütterte nationalrevolutionäre und ähnliche Formen des kulturellen Revivals (z. B. im Konfuzianismus) oder des religiösen Nativismus in Südost- und Ostasien können daher nur durch Analogieschluss als fundamentalistisch analysiert werden.
c) Unter der religionstheoretischen Voraussetzung werden westliche ideologisch motivierte militante Bewegungen, also der totalitäre Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus, als „secular movements“ nicht dem F. zugeordnet. „(T)hey are pseudoreligious rather than authentically religious. They may call upon their followers to make ultimate sacrifice, but, unlike the monotheistic religions, […] they do not assure their followers that God or an eternal reward awaits them“ (Almond/Appleby/Sivan 2003: 15). Einzig ein Autor im Projekt, der Zivilisationstheoretiker Shmuel Noah Eisenstadt, thematisiert die innerweltliche politische Religiosität als bestimmenden Idealfaktor moderner Bewegungspolitik. Er verweist auf den Totalitarismus des Jakobinismus der Französischen Revolution als Prototyp des modernen F., der den heterodoxen christlich-jüdischen Messianismus in ein aktivistisches Programm der Umgestaltung der Welt mit dem Ziel der Errichtung einer ultimativen Heilsordnung transformiert und in der religiösen Welt des Islams und des Fernen Ostens analoge politische Messianismen entstehen ließ. Damit wird die Unterscheidung zwischen säkularem und religiösem F. hinfällig und eine Differenzierung von innerweltlichem politisch-aktivistischem Messianismus einerseits und traditionsgeleitetem politisch-religiösem Aktivismus andererseits in der Analyse des modernen F. möglich.
d) Jenseits dieser Engführung des F.-Konzepts reüssierte langfristig ein diffuses Verständnis des F., das im Sinn eines Kampfbegriffs jede gesellschaftliche Gruppierung oder Bewegung, die einen vorgeblich modernitätskritischen Absolutheits- und Wahrheitsanspruch geltend macht, unter F.-Verdacht stellt. Solchermaßen inflationär erweitert auf religiösen, politischen, moralischen und sogar staatlichen F., endet der F.-Diskurs in einer intellektuellen Sackgasse.
Literatur
J. Gebhardt: Das religiös-kulturelle Dispositiv in der modernen Politik, in: H. Vorländer (Hg.): Demokratie und Transzendenz, 2013, 41–79 • G. A. Almond/R. S. Appleby/E. Sivan: Strong Religion, 2003 • S. N. Eisenstadt: Comparative Civilizations and Multiple Modernities, Bd. 2, 2003 • S. Diamond: Not by politics alone. The Enduring Influence of the Christian Right, 1998 • M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.): Fundamentalisms Comprehended, 1995 • S. N. Eisenstadt: Fundamentalism, Phenomenology, and Comparative Dimensions, in: ebd., 259–276 • M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.): Accounting for Fundamentalisms, 1994 • R. Wuthnow/M. P. Lawsen: Sources of Christian Fundamentalism in the United States, in: ebd., 18–56 • M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.): Fundamentalisms and the State, 1993 • M.-E. Marty/R. S. Appleby (Hg.): Fundamentalisms and Society, 1993 • M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.): Fundamentalisms Observed, 1991 • H. Papenthin: Entstehung und Entwicklung des (klassischen) amerikanischen Fundamentalismus, in: C. Colpe/ders. (Hg.): Religiöser Fundamentalismus, 1989, 13–52 • M. E. Marty: Religion and the Republic, 1987 • S. E. Ahlstrom: A Religious History of the American People, 1972 • H. S. Commager: The American Mind, 1950.
Empfohlene Zitierweise
J. Gebhardt: Fundamentalismus, III. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Fundamentalismus (abgerufen: 25.11.2024)