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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2022, 06:13 Uhr
1. Wirtschaft als System
Die W. ist ein Teilbereich menschlichen Lebens. Praktisch alles menschliche Dasein steht in einer meist engen und direkten, jedenfalls aber in einer zumindest indirekten Beziehung zu solchem Geschehen, das man wie selbstverständlich dem Teilbereich W. zuordnet.
Der Soziologe Niklas Luhmann entwickelt seine Gesellschaftstheorie als Systemtheorie. In diesem Ansatz sind Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens als Teilsysteme (Subsysteme) gegeneinander abgegrenzt. Für die Gesellschaft der Moderne (also für den Zeitraum seit ungefähr der Französischen Revolution) kann der Entwurf N. Luhmanns dazu dienen, den Teilbereich „W.“ von anderen Teilbereichen menschlichen Daseins abzugrenzen.
Nach N. Luhmann besteht ein Teilsystem der Gesellschaft aus einer Ansammlung von Elementarphänomenen, deren Zusammenwirken über eine „autopoietische“ Eigendynamik verfügt. Diese bringt eine Abgrenzung gegenüber dem übrigen gesellschaftlichen Leben mit sich.
Die Elementarphänomene eines Teilsystems der Gesellschaft interagieren durch ein Kommunikationsmedium. Dieses ist teilsystem-spezifisch. So gibt es für das Teilsystem „Politik“ das Kommunikationsmedium „Macht“. So gibt es für das Teilsystem „W.“ das Kommunikationsmedium „Geld“. Nach N. Luhmann gibt es weitere Teilsysteme: „Recht“, „Kunst“, „Wissenschaft“, „Religion“, das „Erziehungssystem“. Das „System Gesellschaft“ überwölbt die verschiedenen Teilsysteme.
Im Teilsystem „W.“ ist die „Zahlung“ das Elementarphänomen. Diese erfolgt mittels des Geldes. Durch das Medium „Geld“ kommunizieren die verschiedenen „Zahlungen“ untereinander: Jede Zahlung veranlasst weitere Zahlungen, indem das Geld, das durch die erste Zahlung die Hand gewechselt hat, beim neuen Besitzer weitere Zahlungen ermöglicht und früher oder später auch auslöst.
Folgt man N. Luhmann, dann werden durch diese verketteten und sich immer weiter „autopoietisch“ vervielfältigenden Zahlungen in aller Regel „Preise“ von Waren und Dienstleistungen implementiert. Diese ordnen damit den gekauften und verkauften Objekten eine quantifizierte Bewertung zu.
Soweit N. Luhmann: Von seiner Systemtheorie übernehmen wir nur das Ergebnis, nämlich die Abgrenzung des Systems „W.“ vom übrigen gesellschaftlichen Leben mittels des Kriteriums „Geld“. Unter W. verstehen wir damit den Bereich menschlichen Daseins, in dem Leistungen und Objekte des Bedarfs erstellt werden und mittels des Zahlungsmittels Geld die Hand wechseln. Dadurch werden Preise für diese Objekte generiert.
Wir werfen damit einen nur für die „Moderne“ adäquaten Blick auf das Geschehen, welches man intuitiv mit dem Begriff „W.“ verbindet. In der vormodernen Zeit war die Subsistenz-W. ein so großer Teil des Wirtschaftens, dass man sie auf jeden Fall hätte mit einbeziehen müssen. Erst durch den enormen Bedeutungszuwachs des arbeitsteiligen Produzierens konnte sich ein W.s-System ausbilden, in dem ein überwiegender Teil der Bedarfsdeckung über Märkte mit Preisen und Geldzahlungen bewältigt wird. Dennoch bleibt das Phänomen „Hausarbeit“ auch in der Moderne bestehen. Indessen rechnet man den privaten Haushaltssektor (Haushalt, privater) nicht dem Sektor der arbeitsteiligen W. zu. Aber der private Haushaltssektor und das hier abgegrenzte System „W.“ hängen eng zusammen.
Für einige Jahrzehnte des 20. Jh. gab es die Alternative zwischen dem, was Walter Eucken die „Zentralverwaltungswirtschaft“ nannte, und dem, was bei W. Eucken „Verkehrswirtschaft“ heißt (Eucken 1940: 103). Das historische Experiment der Zentralverwaltungs-W. scheiterte. János Kornais großes Werk „The Socialist System“ (1992) ist das definitive Post-Mortem dieses Experiments.
Das von uns hier abgegrenzte „System W.“ kann damit auch als „Preissystem“ bezeichnet werden. Der „systemische“ Charakter von „W.“ kommt darin zum Ausdruck, dass die Preise der Güter diese in der Dimension des wirtschaftlichen Wertes kommensurabel machen.
Diese Kommensurabilität der Güter ermöglicht die herkömmlichen Beschreibungsmethoden des Wirtschaftens in der Form der Buchhaltung und Bilanzierung (Doppik). So gibt es eindeutige Vergleichsmöglichkeiten zwischen Gütern, Produktionsabläufen, Wohlstandsindikatoren, wie Einkommen und Vermögen, Unternehmensgrößen usw. Im 20. Jh. ist diese früher nur einzelwirtschaftliche Kommensurabilität auch auf der Ebene ganzer Volks-W.en statistisch erfasst worden. Das ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR). Ihre Basis besteht weitgehend aus den betriebswirtschaftlichen Zahlenwerken der zur jeweiligen Volks-W. gehörenden Betriebe.
Wesentliche Erscheinungsformen des volkswirtschaftlichen Geschehens können in einer einzigen Zahl ausgedrückt werden: dem realen BSP pro Kopf. Es ist von einem hohen Aussagewert, wenn man feststellen kann, dass das (kaufkraftbereinigte) BSP pro Kopf des Landes A doppelt so hoch ist wie die entsprechende Größe des Landes B. Hinter dieser großen Aussagekraft eines Vergleichs anhand einer einzelnen Zahl steht das, was wir den „systemischen“ Charakter des Bereichs „W.“ nennen.
2. Arbeitsteilung
Ein grundlegendes Charakteristikum der Moderne ist die Arbeitsteilung. Diese ist auch ein zentrales Moment des Systems „W.“. Der einleitende Satz des „Wealth of Nations“ von Adam Smith sieht in der Arbeitsteilung die Hauptquelle wirtschaftlichen Wohlstands. Diese Behauptung ist im Ernst nie bestritten worden. Karl Marx bezeichnete später dasselbe Phänomen als „Vergesellschaftung der Arbeit“ (MEW 23: 1085), die durch den Kapitalismus geschaffen werde.
Die Arbeitsteilung entsteht als „spontane Ordnung“ (von Hayek 2003: 68) mithilfe des Mediums „Geld“. Durch das Geld wird der Tausch von Gütern zwischen den Menschen wesentlich erleichtert, da „das Geld unter allen möglichen ‚Massstäben des Tauschwerthes‘ der zweckmässigste und deshalb auch der allgemeinste sei“ (Menger 1871: 272) und immer gern als Gegenleistung für die Hergabe eines konkreten Gutes angenommen wird.
Mittels des allgemeinen Tauschmittels „Geld“ entstehen Märkte (Markt) für Güter. Ist auf das Funktionieren eines entsprechenden Absatzmarktes Verlass, dann lohnt sich für einen Produzenten die Spezialisierung auf einen kleinen Ausschnitt aus dem Kosmos der Güter. Er kann dann auch sein Wissen um die Produktion dieses Gutes vertiefen – und daher rationeller und speziell kostengünstiger produzieren, als wenn er eine breite Palette ganz unterschiedlicher Güter produzieren würde. So setzt das Medium „Geld“ durch die damit rationalisierte Technik des Tausches einen Evolutionsprozess der immer weiter gehenden Arbeitsteilung in Gang. Dieser hat zwar auch Rückschläge erlitten, ist jedoch, als säkularer Prozess betrachtet, sehr erfolgreich gewesen. Ihn begleitete das enorme Wachstum an Wohlstand, das die letzten zwei bis drei Jahrhunderte erlebt haben.
Unter dem Titel „Geld und Magie“ (2005) hat Hans Christoph Binswanger Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ neu interpretiert: danach ist quasi Mephisto eine Metapher für das Geld und somit für die Moderne. Oder eben: das „Geld“ eine Metapher für die Abgründe der Moderne.
Schon immer generiert das arbeitsteilige W.s-System ein Phänomen, das man als Marktasymmetrie bezeichnen kann. Auf den meisten Märkten für produzierte Güter ist die Angebotsseite, also die Produktionsseite auf einen kleinen Ausschnitt aller produzierten Güter spezialisiert, während die Nachfrageseite in ihrer Nachfrage stark diversifiziert ist. Nur durch Spezialisierung kann ein Anbieter im Wettbewerb mit anderen Anbietern bestehen.
Die Marktasymmetrie bedeutet zugl., dass die Angebotsseite i. d. R. stärker konzentriert ist als die Nachfrageseite. Soweit es die Produkte dieses Marktes betrifft, kann damit die Angebotsseite Größenvorteile besser nutzen als die Nachfrageseite. Ein Beispiel ist die Lagerhaltung der Produkte: der Bedarf für das einzelne Produkt schwankt beim einzelnen Nachfrager sehr viel stärker als die Gesamtnachfrage nach diesem Produkt beim Anbieter. Das ist das statistische Gesetz der großen Zahl. Daher konzentriert sich die Lagerhaltung weitgehend auf die Angebotsseite.
Die verschiedenen Leistungen, die die Angebotsseite durch Ausnutzung von Größenvorteilen erbringt, werden der Nachfrageseite nicht einzeln in Rechnung gestellt, weil dies gar nicht praktikabel wäre. Dafür verlangt die Angebotsseite einen Preis, der auch unter Wettbewerbsbedingungen höher liegt als die Grenzkosten des gelieferten Gutes. Außerdem setzt i. d. R. der Anbieter den Preis. Der einzelne Nachfrager entscheidet dann über die Menge, die er bei den Preisen der Anbieter nachfragen will. Da der Anbieter in dieser Konstellation an jedem zusätzlichen Absatz etwas „verdient“, ist er bis zu einer gewissen Grenze immer lieferbereit. Dies, zumal es auch zu seinem Ruf gehört, dass er (fast) immer lieferfähig ist. Das Schema „Preisentscheidung des Anbieters, Mengenentscheidung des Nachfragers“ herrscht bei Käufen des täglichen Lebens auch deshalb vor, weil damit die Transaktionskosten des Kaufs minimiert werden. Nur damit kommen derart niedrige Transaktionskosten zustande, dass die Menschen die Zeit finden, auf so zahlreichen Märkten Güter zu kaufen. Die Theorie des „monopolistischen Wettbewerbs“ (Chamberlin 1933) schafft ein Modell für diese Zusammenhänge.
Viele Phänomene des täglichen W.s-Lebens können aus dieser Marktasymmetrie erklärt werden: da die Käuferseite die gekauften Mengen bestimmt, ist sie nach dem Kauf vorerst transaktionsgesättigt. Da die Verkäuferseite den Preis oberhalb der Grenzkosten festlegt, bleibt sie auch nach der Transaktion transaktionshungrig. Werbung betreiben damit v. a. die Anbieter von Gütern. Die Medienwelt (Zeitungen, Fernsehen, Google etc.) lebt von der Werbung der Verkäuferseite.
Aggregiert über die ganze Volks-W. bedeutet diese aus der Arbeitsteilung resultierende Struktur der meisten Märkte für produzierte Güter, dass es in der Volks-W. bei normaler Konjunkturlage (Konjunktur) Produktionsreserven gibt. Es sind diese die summierten Produktionsreserven der Anbieter der einzelnen Märkte. Dabei funktioniert die Summierung durch Umrechnung auf Geldwerte. Somit ist in der kurzen Frist fast immer die volkswirtschaftliche Gesamtnachfrage der begrenzende Faktor für die Höhe des realen Sozialprodukts. Das manifestiert sich in der Praxis der kurzfristigen Konjunkturprognose. Diese besteht schwergewichtig aus der Prognose der großen Nachfrageaggregate.
3. Horizontale Koordination mittels des Preissystems
Die moderne „Verkehrswirtschaft“, also der moderne „Kapitalismus“ (Marx-Schule) verlässt sich primär auf eine Form der gesellschaftlichen Koordination des individuellen Handelns, die wir „horizontale Koordination“ nennen können. Es gibt in diesem System keine Stelle, an der alle dem System zugehörige Information zusammenfließt. Während ein Roboter kraft seiner Konstruktion über eine weitgehend zentrale Steuerungskapazität verfügt, ist dies für das W.s-System nicht der Fall. Die versuchte und letztlich gescheiterte Implementierung einer zentral gesteuerten Volks-W. hat gezeigt, dass es auch bei ihr keine Stelle gab, die über alle relevante Information verfügt. Die in der abendländischen Sozialphilosophie gepflegte Analogiebildung zwischen dem quasi zentral (vom Gehirn) gesteuerten menschlichen Organismus und der gesellschaftlichen Steuerung führt in die Irre. Dies hat Karl Raimund Popper in seiner Philosophie der „offenen Gesellschaft“ (Popper 1945) gezeigt. Der „vertikalen Koordination“ über das Gehirn beim menschlichen oder tierischen Organismus steht die überwiegend horizontale Koordination des Systems „W.“ diametral gegenüber.
Die horizontale Koordination der W. geschieht über die Preise der Güter. Der Produzent einer Ware oder einer Dienstleistung orientiert sich bei seiner Wahl des Produktionsverfahrens an den Kosten. Diese versucht er möglichst gering zu halten. Die Kosten aber repräsentieren den Verbrauch der Güter, der bei dem gewählten Produktionsverfahren anfällt. Dieser Verbrauch unterschiedlicher Güter wird mittels der Einkaufspreise zu einem eindimensionalen Kostenwert aggregiert, den es zu minimieren gilt. Im gesamtwirtschaftlichen Idealfall ist der Einkaufspreis des verbrauchten Gutes ein korrektes Signal für die komparative gesellschaftliche Knappheit dieses Gutes. „Komparativ“ deshalb, weil Knappheit eines Gutes immer nur definierbar ist im Vergleich zur Knappheit eines anderen Gutes.
Damit im Idealfall die Preissignale völlig korrekte Knappheitsindikatoren der jeweiligen Güter sein können, müssen diese Preise universell bekannt sein. Die für diesen Fall vorgestellte Preistafel aggregiert den relevanten Anteil der primär verstreut vorliegenden Informationen über die Tatsachen, die den komparativen Knappheitsgrad der einzelnen Güter bestimmen. So kann dieser Idealfall als Denkmodell einer perfekten Koordination des individuellen Handelns dienen, somit auch als Denkmodell einer gelungenen horizontalen Koordination. Die „unsichtbare Hand“ (Smith 1974: 371) bei A. Smith und das Modell des „Allgemeinen Gleichgewichts“ (1874) von Marie-Esprit-Léon Walras entsprechen diesem Gedanken der perfekten horizontalen Koordination.
Nicht alle Informationen werden zentralisiert, sondern nur diejenigen, die für effektive horizontale Koordination von Bedeutung sind. Und das sind hier nur die lokalen Informationen, die für die Bestimmung der komparativen Knappheiten der Güter relevant sind. Das Preissystem ist damit sehr sparsam in der Informationsübertragung. Es kann in diesem Idealfall jedem „Datenschutz“ genügen.
Das perfekt funktionierende Preissystem ermöglicht es, die Knappheit produzierter Güter auf die Knappheit der für ihre Produktion erforderlichen Produktionsfaktoren zurück zu führen. Die iterative Rückführung der Güter-Knappheit endet erst da, wo es schließlich nur noch um Produktionsfaktoren geht, die ihrerseits nicht mehr im System W. produziert werden. Wir nennen sie exogene Produktionsfaktoren. Das sind Produktionsfaktoren wie menschliche Arbeit, Boden und andere Naturgegenstände. Ferner spielt auch die Zeit als exogener Produktionsfaktor eine Rolle.
So geht es beim perfekten Preissystem nunmehr um die komparative Knappheit der verschiedenen exogenen Produktionsfaktoren. K. Marx folgend hat seine Schule das Problem der komparativen Knappheit unterschiedlicher Produktionsfaktoren nach der Methode „Ei des Kolumbus“ dadurch zu lösen versucht, dass man nur die menschliche Arbeit als wertbildenden exogenen Produktionsfaktor anerkannt hat. Der Wert einer Ware entspricht hiernach der zu ihrer Herstellung „gesellschaftlich notwendige[n] Arbeitszeit“ (MEW 23: 52) (Arbeitswertlehre).
In der neoklassischen Denkrichtung, die bis heute den „Mainstream“ ökonomischen Denkens bestimmt, wird die Diversität der exogenen Produktionsfaktoren anerkannt. Damit aber muss der Horizont erweitert werden, weil man die komparative Knappheit der exogenen Produktionsfaktoren nicht tautologisch aus sich selbst heraus erklären kann. Dies geschieht durch die Einbeziehung der Bedarfsseite, also des Verbrauchs von Konsumgütern (Konsum). Das Modell des homo oeconomicus, der eine (ordinale) Nutzenfunktion maximiert, wird damit Teil des Denkmodells einer rein horizontalen Koordination menschlichen Verhaltens. Für ihre Idealform leitet die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts die Pareto-Optimalität (Pareto-Kriterium) dieses Gleichgewichts ab.
Damit erklärt das Denkmodell des perfekten Systems der Preissignale die komparativen Knappheiten der Güter
a) aus den als exogen angenommenen Verfügbarkeiten von nicht-produzierten Produktionsfaktoren,
b) aus den verfügbaren Produktionsverfahren und
c) aus den als exogen angenommenen Präferenzen der Konsumenten.
Das Denkmodell des perfekt funktionierenden Preissystems ist ein Idealtypus (in Max Webers Sinn), der nicht zu verwechseln ist mit einer realistischen Beschreibung des Systems „W.“. Es dient als Referenzpunkt, den man zur besseren Beschreibung des realen Systems verwenden kann. Abweichungen von diesem Idealtypus werden im Folgenden behandelt.
4. Der Raum als Rahmen der Wirtschaft: Globalisierung
Das System „W.“ ist eingebettet (englisch: embedded) in die Welt. Zu unterscheiden ist die physische Außenwelt, zu der auch Raum und Zeit gehören, und die soziale Welt. In der W.s-Soziologie wird besonderer Wert auf diese Embeddedness in die soziale Welt gelegt.
Wirtschaftliche Aktivität spielt sich im Raum ab. Die Raum-W.s-Lehre, die Standorttheorie und die Verkehrs-W.s-Lehre sowie andere Spezialgebiete der W.s-Lehre befassen sich mit den Raumaspekten des Wirtschaftens. Es war schon A. Smith, der erkannte, dass die Höhe der Transportkosten von großer Bedeutung dafür ist, wie ausdifferenziert die Arbeitsteilung werden könne. Er erklärte auf diese Weise das Faktum, dass die Länder, die den Seetransport nutzen können, über ein höheres Maß der Arbeitsteilung und daher auch über einen höheren Wohlstand verfügten als die Länder, bei denen der Transport weitgehend über Land abgewickelt werden musste. Denn der Seetransport war zu seiner Zeit wesentlich günstiger als der Transport über Land. Ein vorgegebener Grad der Arbeitsteilung setzt eine bestimmte geographische Größe des Marktes voraus, damit die Kundschaft der spezialisierten Betriebe hinreicht, um die Spezialisierungsvorteile zu nutzen. Die geographische Größe des Marktes hängt invers von der Höhe der Transportkosten ab.
Es gibt ein Gesetz der zunehmenden Distanzkosten-Degression. Definiert man die Distanz als Luftlinien-Entfernung, so verlaufen die Kosten der Distanzüberwindung nie proportional zur Distanz. Je nach Transportmedium gibt es einen stärker oder schwächer ausgeprägten Grad der Distanzkosten-Degression. Für den Fußgänger kann man die Kosten der Distanzüberwindung ungefähr proportional zur Distanz ansetzen. Bei einer eingefahrenen Infrastruktur des Warentransports über Straße und Schiene stellt man eine erhebliche Distanzkosten-Degression fest: es ist bei weitem nicht hundertmal aufwendiger, Ware über 1 000 km als über nur 10 km zu transportieren. Die Distanzkostenkosten-Degression ist noch ausgeprägter beim Flugtransport von Personen oder Waren. Im Zeitalter des Internets sind die Kosten der Distanzüberwindung von Informationen nahezu unabhängig von der Distanz. Es stellt sich heraus, dass das relative Gewicht der Transport-Medien mit hoher Distanzkosten-Degression im säkularen Wandel ständig zugenommen hat. Dies kann seinerseits durch den Evolutionsprozess der Transporttechnologie und der Kommunikationstechnologie erklärt werden: Zentral hierfür ist der Gedanke des induzierten technischen Fortschritts.
Aus dem Gesetz der zunehmenden Distanzkosten-Degression folgt der evolutorische Prozess der Globalisierung im System „W.“. Selbst wenn sich (z. B. in Arbeitsaufwand gerechnet) die durchschnittlichen Transportkosten nur gleich schnell vermindert haben wie die Herstellungskosten und die distanzunabhängigen Absatzkosten von Waren, so sind wegen der zunehmenden Distanzkosten-Degression die Distanzkosten über große Entfernungen schneller gefallen als die Herstellungskosten und die distanzunabhängigen Absatzkosten. Daher treten immer weiter voneinander entfernte Standorte zueinander in Konkurrenz. Die beiden seit Jahrhunderten andauernden Prozesse der Globalisierung und der zunehmenden Arbeitsteilung können als Prozess der Ko-Evolution betrachtet werden: Sie stärken sich gegenseitig.
Die Infrastruktur des Transports von Personen, Waren und Informationen besteht aus Netzen. Bei den Netzen kann man zwischen Bruttonetzen und Nettonetzen unterscheiden. Ein typisches Nettonetz ist das Zahlungssystem. Wenn Zahlungen über Pole, die wir „Banken“ nennen können, abgewickelt werden, dann gibt es jeden Tag (oder jede Stunde, oder vielleicht jede Minute) sowohl Zahlungen von Bank A zu Bank B, als auch Zahlungen von Bank B zu Bank A. Durch das Clearing werden diese entgegenlaufenden Zahlungsströme saldiert. Der faktische Zahlungsstrom zwischen den Polen ist dann nur der Saldo zwischen diesen beiden Strömungen. Andere Nettonetze sind das Netz der Stromleitungen, der Gasleitungen (bei gegebener, genormter Gasqualität), des Transports von Massengütern (genormter Qualität), aber auch, im übertragenen Sinne, Kassa- und Terminmärkte für Waren oder Wertpapiere, jeweils homogener, genormter Qualität. Bruttonetze sind solche, in denen sich die gegenläufigen Ströme nicht saldieren. Dazu gehören Transportnetze für Personen und für nicht-genormte Waren und Dienstleistungen. Auch Informationsnetze sind Bruttonetze.
Offensichtlich ist die Kostenstruktur bei Nettonetzen und bei Bruttonetzen ganz verschieden. Während bei Bruttonetzen das summierte Transportvolumen in erster Approximation ausschlaggebend für die Gesamtkosten ist, sind dies bei Nettonetzen die Salden zwischen den verschiedenen Netzknoten. Ein Grund für die Standardisierung und Harmonisierung von Waren und Dienstleistungen ist die Kostenersparnis, die erreicht werden kann, wenn man dadurch Bruttonetze in Nettonetze transformiert.
5. Die Zeit als Rahmen der Wirtschaft: Kapitaltheorie
Im Zentrum des Begriffes „W.“ steht der Begriff der Produktion. Produktion ist eine zweckorientierte menschliche Tätigkeit. Hier werden Mittel eingesetzt, die mit dem Anglizismus Input bezeichnet werden. Der Zweck der Produktion sind produzierte Güter, denen man die Bezeichnung Output gegeben hat. Die Input-Output-Analyse, deren Pionier Wassily Leontief war, teilt das Produktionssystem in mehrere Subsysteme ein, die vielfach „Sektoren“ oder „Branchen“ genannt werden. Sie untersucht die Verflechtung unter den Branchen. So entsteht die Input-Output-Matrix. Diese ist in ihrer Grundform eine quadratische Matrix mit nicht-negativen Koeffizienten. Das einzelne Element dieser Matrix aij gibt an, wie viele Einheiten des Gutes i als Input benötigt werden, um eine Einheit des Gutes j zu produzieren. Für einen planwirtschaftlichen Ansatz ist eine derartige Input-Output-Analyse unentbehrlich.
Um Zwecke zu erreichen, benötigt der Mensch geeignete Mittel – und er benötigt Zeit. Vielfach müssen die Mittel verfügbar sein, lange bevor die damit angestrebten Zwecke erreicht sind. Daher ist auch die Zeit Teil des natürlichen Rahmens für das menschliche Wirtschaften. In der Ökonomik ist es unüblich, von der „Zeit-W.s-Lehre“ zu sprechen – anders als beim oben besprochenen Raum, dem die „Raum-W.s-Lehre“ zugeordnet ist. Die Zeit als Teil des Rahmens fließt aber ein in die „Kapitaltheorie“. Seit dem großen Werk vom K. Marx ist das „Kapital“ sogar der namengebende Produktionsfaktor für das Zeitalter, in dem wir bis heute leben. Weit über die Anhängerschaft von K. Marx hinaus wird die seit mehr als zwei Jahrhunderten herrschende W.s-Form als „Kapitalismus“ bezeichnet. Aber auch für diejenigen Kommentatoren, die diese W.s-Form mit „Markt-W.“ bezeichnen, ist der Produktionsfaktor „Kapital“ ein zentraler Begriff.
Für K. Marx ist der Wert von Kapital gleich dem Wert „vorgetaner Arbeit“. Eugen Böhm-Bawerk hat das Ausmaß des eingesetzten Kapitals (Bestandsgröße) pro Werteinheit des Konsumgutes (Strömungsgröße) auf den durchschnittlichen zeitlichen Vorlauf des Arbeitseinsatzes vor der Verfügbarkeit des produzierten Konsumgutes zurückgeführt. Diesen zeitlichen Vorlauf in der Gesamtwirtschaft nannte er die „durchschnittliche Produktionsperiode“ (Böhm-Bawerk 1921: 470). Die Produktionsperiode war für ihn die Maßeinheit für das, was er „Produktionsumwege“ (Böhm-Bawerk 1921: 302) nannte. Er stipulierte ein Gesetz der Mehrergiebigkeit längerer Produktionsumwege. Dieses ist kompatibel mit der modernen Vorstellung, dass die volkswirtschaftliche Arbeitsproduktivität mit steigender Kapitalintensität vergrößert werden kann.
Mithilfe der modernen Kapitaltheorie, die auf E. Böhm-Bawerk und John R. Hicks aufbaut, kann man folgendes zeigen: Man setzt die Rahmenbedingung „Zeit“ über eine Steady-State-Analyse in Analogie zu einem räumlichen „Nettonetz“, das oben besprochen wurde. Hier geht es um die „Transportkosten“, die durch die Zeitverschiebung von ökonomischen Werten entstehen. Dem räumlichen Analogon des Gleichgewichts ohne Transportkosten entspricht in der zeitlichen Interpretation folgendes: Die gleichgewichtige Produktionsperiode des Produktionssystems T ist gleich hoch wie die gleichgewichtige volkswirtschaftliche „Warteperiode“. Unter der privaten Warteperiode des repräsentativen Haushalts Z, verstehen wir den durchschnittlichen zeitlichen Abstand zwischen dem Lohneinkommen und der Verausgabung für Konsumgüter. Diese wird „korrigiert“ um die Staatsschuldenquote D, um so die volkswirtschaftliche Warteperiode Z-D zu erhalten. Ist der risikobereinigte Realzins ein korrektes Preissignal und sind die beiden Perioden T und Z-D gleich groß, dann ist der Jahreskonsum gleich dem Volkseinkommen abzüglich der Verzinsung des Kapitals mit dem risikobereinigten Realzinssatz. Diese Verzinsung entspricht dann den Steady-State-Nettoinvestitionen. Der Realzinssatz entspricht dann der Wachstumsrate des Systems. Dieser Zustand des Steady State wird auch als Golden-Rule-Pfad bezeichnet, nachdem einer der Entdecker seiner Steady-State-Optimalität ihn so bezeichnet hatte (Edmund Strother Phelps). Mit anderen Worten: man kann den Golden-Rule-Pfad als den Steady-State-Pfad bezeichnen, in dem quasi keine „intertemporalen Transportkosten“ anfallen. Das ist der tiefere Grund für seine Optimalität. In Verallgemeinerung des Ansatzes von Peter Arthur Diamond kann man die Staatsschuldenquote D auch als Steuerungsgröße verstehen, mit deren Hilfe die intertemporalen „Transportkosten“ auf null reduziert werden können. Wäre ohne Staatsschulden der gleichgewichtige Realzins höher als die Wachstumsrate, dann müsste die Staatsschuldenquote D negativ sein, um die intertemporalen Transportkosten auf null zu bringen. Wäre ohne Staatsschulden der risikobereinigte Realzinssatz kleiner als die Wachstumsrate, wäre eine positive Staatsschuldenquote erforderlich, um den Golden-Rule-Pfad zu erreichen. Im 21. Jh. ist letzteres der Fall.
6. Externe Effekte
Die ökonomische Theorie hat spätestens seit Arthur Cecil Pigou den Sammelbegriff externe Effekte für eine große Anzahl von Abweichungen tatsächlichen Preisgeschehens vom idealen Preissystem verwendet. Diese wurden ihrerseits begrifflich unterteilt in negative und positive externe Effekte. Zum Verständnis der externen Effekte ist es sinnvoll, ein Drei-Ebenen-Schema menschlicher Aktivität einzuführen. Diese drei Ebenen seien mit „Konsum“, „Produktion“ und „Innovation“ bezeichnet. Die mittlere Ebene der „Produktion“ entspricht dem herkömmlichen Lehrbuchmodell des W.s-Systems. Es ist dies im Idealfall das perfekt funktionierende Preissystem, welches oben behandelt wurde.
Das Ziel jedes Produzierens ist letztlich der Konsum. Die mittlere Ebene der Produktion ist damit Mittel für die Zwecke, die in der untersten Ebene angesiedelt sind, die wir die Ebene des Konsums nennen. Im weiteren Sinne rechnen wir dieser Ebene auch quasi produzierende Tätigkeiten zu, sofern diese nicht arbeitsteilig, markt- und preisvermittelt erfolgen. Die Trennlinie der beiden Ebenen ist damit bestimmt durch das Kriterium der Arbeitsteilung. Für ein ideales Preissystem ist Wettbewerb zwischen den Produzenten erforderlich. Wettbewerb auf der Ebene der Produktion bedeutet den freien Zugang der (potentiellen) Produzenten zu den Produktionsmethoden. Zugleich aber müssen Eigentumsrechte vorhanden sein, die es den Produzenten erlauben, die von ihnen produzierten Güter solange in ihrem exklusiven Eigentum zu halten, bis sie diese an andere W.s-Teilnehmer verkaufen. Das staatliche Gewaltmonopol hat sich als eine Voraussetzung dafür herausgebildet, dass das Eigentum seine bedeutsame Funktion bei der horizontalen Koordination des arbeitsteiligen Produktionssystems erfüllen kann. Die „unsichtbare Hand“ bei A. Smith baut auf dem „Leviathan“ (1651) des Thomas Hobbes auf.
Auf der Ebene des Konsums kann „Wettbewerb“ definiert werden als der freie Zugang zu den Gütern. Dies in Analogie zum freien Zugang zu Produktionsverfahren auf der Ebene der arbeitsteiligen Produktion. Damit wird klar, dass Wettbewerb als Organisationsprinzip nicht durchgängig erwünscht sein kann. Denn auf der Ebene des Konsums verletzt der so definierte Wettbewerb das Eigentumsrecht an Gütern, das auf der Ebene der Produktion unabdingbar für das gute Funktionieren der horizontalen Koordination ist.
Allerdings gibt es „freie“ Güter. Das sind Güter, die nicht knapp sind, weil sie die Natur in genügender Menge zur Verfügung stellt. Traditionell galt die See als Medium für den Transport von Waren und Menschen als ein freies Gut. Das Prinzip des offenen Meeres wurde ins Völkerrecht aufgenommen, da die Handelsseeschifffahrt des einen Landes physisch kein Hindernis für die Handelsseeschifffahrt eines anderen Landes darstellte. Auch für den Fischfang galt lange Zeit das Prinzip des offenen Meeres. Das Beispiel des Fischfangs zeigt aber, dass ein Gut, das traditionell als freies Gut gelten konnte, durch starke Nutzung zu einem knappen Gut werden kann. So besteht insb. seit dem 20. Jh. das Bemühen, das nunmehr knappe Gut der Fischfang- oder Walfanggründe durch Vergabe von Eigentumsrechten besser, also restriktiver zu bewirtschaften (Theorie der Eigentumsrechte).
Hier kommt der Begriff des negativen externen Effekts ins Spiel. Man kann diesen definieren als den Schaden, der dadurch für Dritte entsteht, dass es einen freien Zugang zu einem knappen Gut gibt. In der Tradition von A. C. Pigou (1920) plädiert die Ökonomie, und hier speziell die Umweltökonomik, dafür, dass man die Übernutzung von knappen Gütern verhindern sollte, indem man diese Güter mit einem Preis versieht. Dieser fungiert im Idealfall als korrektes Preissignal für die komparative Knappheit dieses Gutes unter Berücksichtigung der Schäden, die seine Produktion mit sich bringt. Ein aktuelles Paradebeispiel für diesen Gedanken ist das Plädoyer für einen Preis des Rechts auf Emission von CO2, Lachgas, Methan und anderen Spurengasen in die Atmosphäre, um so die Klimaeffekte dieser Emissionen unter Kontrolle zu bringen.
Das W.s-Leben der Moderne ist keineswegs statisch. Damit kommen wir zur dritten Ebene menschlicher Aktivität. Ihr geben wir die Bezeichnung „Innovation“. Es gibt hier eine Symmetrie: das Verhältnis der oberen Ebene „Innovation“ zur unteren Ebene „Produktion“ ähnelt dem Verhältnis der oberen Ebene „Produktion“ zur unteren Ebene „Konsum“: In beiden Fällen dient die obere Ebene dazu, die Beschränkungen oder Knappheiten der unteren Ebene durch Aktivitäten der oberen Ebene zu mildern oder gar aufzuheben. So wie die Ebene der Produktion die Knappheit an Konsumgütern abmildert, so hebt die Ebene der Innovation tendenziell die Knappheit der verfügbaren Produktionsverfahren auf. Und in beiden Fällen dienen Zugangssperren auf der unteren Ebene dazu, die Aktivitäten der jeweils oberen Ebene zu stimulieren.
So entsteht in Analogie zum Eigentum an Sachen auch ein Eigentumsrecht an Ideen, um zusätzliche Anreize zu schaffen, auf der Ebene der Innovation tätig zu werden. Das Patentrecht und das Urheberrecht, aber auch das Markenrecht werden hiermit gerechtfertigt. Diese Rechte des geistigen Eigentums (Immaterialgüterrecht) beschränken vielfach den freien Wettbewerb der Produzenten auf der Ebene der Produktion. Die beste Abwägung der Eigentumsrechte und des Wettbewerbs auf den Ebenen der Produktion und der Innovation kann nicht ein- für allemal gefunden werden, sondern hängt von der tatsächlichen historischen Entwicklung auf den drei Ebenen ab. Sie ist auch ein Dauerthema der Wettbewerbspolitik und des Kartellrechts.
Positive externe Effekte gehören denknotwendig zu den Aktivitäten der Ebene „Innovation“. Ein Schumpeterscher Unternehmer, der erfolgreich ein neues Produkt auf den Markt bringt, mag hohe Gewinne einfahren; aber zugleich ist der volkswirtschaftliche Gesamtnutzen seiner Aktivität weitaus höher als sein eigener Gewinn. Dennoch ist die Frage, ob im Vergleich zu einer Idealsituation zu viele oder zu wenige Ressourcen in die Tätigkeit der Ebene drei fließen, nicht einfach zu beantworten. Man muss berücksichtigen, dass der Wettbewerb in der Erfinder- und Innovationstätigkeit bei gegebenem rechtlichen Rahmen auch zu solchen Phänomenen wie Parallelforschung und Patentmacht führen kann; letztere könnte nachfolgende Innovationen obstruieren.
Die Ebene der Innovation verschiebt den Blick vom Preissignal als volkswirtschaftliches Kostensignal auf die Preisbildung in Abhängigkeit des Konsumentennutzens. Indem der Innovator über ein (meist vorübergehendes) Monopol verfügt, muss seine Preispolitik sich primär mit dem geschätzten Verlauf seiner Nachfragekurve, also dem Kundennutzen seiner Innovation abgeben. Das Betriebsleben erfährt hier einen außerordentlich komplexen Problembereich, dessen volkswirtschaftliche Durchdringung noch gar nicht weit gediehen ist.
So sehr auch das Phänomen der ständig weiter gehenden Innovationen als „Störfaktor“ für das aus statischer Sicht „ideale“ Preissystem fungiert, so fundamental ist, dass man das moderne W.s-System unter dem Aspekt der Evolution und damit auch des Fortschritts versteht. Auch unter diesem Aspekt ist der horizontale Modus des Wirtschaftens dem vertikal-zentralverwaltungswirtschaftlichen weit überlegen. Jedoch darf die Rolle des Staates als direkter und indirekter Innovationsförderer nicht unterschätzt werden. Seine Kernaufgabe ist zwar die Durchsetzung des Rechtsstaates und des Gewaltmonopols. Aber seine Wissenschafts- und Forschungs-, Infrastruktur- und Bildungspolitik spielen eine zentrale Rolle im Systemwettbewerb der Staaten.
7. Fortschritt als wirtschaftspolitisches Kriterium
Mit und seit der Aufklärung ist der Glaube an den Fortschritt dominant. Aggregiert über die gesamte Volks-W. und von großen Kriegen abgesehen ist W.s-Wachstum ein recht stetiger Prozess. Er setzt sich aber aus vielen Einzelprozessen zusammen, die teilweise disruptiv sind. Hieraus ergeben sich vielfach Widerstände; v. a., wenn sie mit dem Verlust von Arbeitsplätzen verbunden sind. Dennoch gehörte die Förderung des Fortschritts ganz überwiegend zur wirtschaftspolitischen Programmatik (W.s-Politik). Immer hat es allerdings Streit darüber gegeben, ob ein Staat, der mittels „Industriepolitik“ in das Marktgeschehen eingreift, mehr Nutzen als Schaden anrichtet. Die Kritiker der Industriepolitik verweisen auf den Erfolg von Wettbewerbsmärkten bei der Durchsetzung von Fortschritt. Diese könnten durch Industriepolitik beschädigt werden.
Ob der sich selbst überlassene Prozess des wirtschaftlichen Wachstums unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit zufrieden stellt, wird heute kontrovers diskutiert.
Wie oben ausgeführt, hat die W.s-Theorie herkömmlich mit der Annahme gearbeitet, dass die Präferenzen der Bürger vorgegeben sind. Unter dieser Annahme entwickelte sich das Kaldor-Hicks-Scitovsky-Kriterium zur Beurteilung der Frage, ob ein Vorgang im Marktgeschehen (wie z. B. die Einführung eines neuen Produkts) oder eine staatliche Maßnahme (wie z. B. der Bau einer Brücke oder eine Gesetzesänderung) aus Sicht der Wohlfahrt der Bevölkerung zu befürworten oder abzulehnen sei. Indem mittels des Gedankens der „revealed preference“ (Samuelson 1938) geschätzte und prognostizierte Nachfragefunktionen als Ausdruck dahinter stehender Präferenzen verstanden werden, kann man nicht nur die Kosten, sondern auch den in Geldeinheiten umgerechneten Nutzen eines vorgeschlagenen Projektes abschätzen – und so zu einer Entscheidung über dieses Projekt kommen. Dies begründet die in der Praxis vielfach angewandte Methode der Kosten-Nutzen-Analyse für die Evaluierung (Evaluation) von möglichen Projekten der öffentlichen Hand, etwa im Verkehrsbereich. Dass weitgehend partialanalytische Projektevaluation gelingt, liegt an der „Fast-Zerlegbarkeit“ (Simon 1962: 475) des Systems „W.“.
Kann ein konsistenter Begriff des Fortschritts aufrechterhalten werden, wenn man von der Annahme abgeht, dass die Präferenzen der Bürger fest vorgegeben sind? Ansätze hierzu gibt es einmal im Feld der Behavioral Economics (Verhaltensökonomik). Hier werden Einflüsse auf Präferenzen insb. auch mittels experimentaler Methoden untersucht. Indessen ist hier noch keine theoretische Grundlegung vorhanden, die es erlaubte, zwischen „eigentlichen“ Präferenzen und „falschen“ Präferenzen zu unterscheiden. Einzig quasi „paternalistische“ Vorentscheidungen der politischen Entscheidungsträger führen zu entsprechenden staatlichen Beschränkungen der persönlichen Entscheidungsfreiheit. Dort, wo offenkundige Geschäftemacherei unter Ausnutzung von Suchtphänomenen beobachtet werden kann, gibt es nach gesundem Menschenverstand Anlass zu staatlichen Eingriffen, z. B. in der Form von Verboten oder der Besteuerung entsprechender Aktivitäten. Das hier einfließende Element des Paternalismus kann als eine Art pragmatische Konzession seitens einer im Prinzip liberalen Weltsicht verstanden werden. Theoretisch gewendet: Man erkennt dem Süchtigen oder Suchtgefährdeten ab, dass seine Sucht Ausdruck autonomen Handels sei.
Auch die moderne Variante des Paternalismus in der Form des Nudging kratzt ein Stück weit an der Grundvorstellung, dass der Bürger im Rahmen seiner Möglichkeiten autonom handle. Eine unkontroverse Grenze zwischen einem akzeptablen und einem problematischen Nudging-Paternalismus ist nicht in Sicht.
Der Begriff des Fortschritts ist mit dem normativen Individualismus kompatibel, wenn die individuellen Präferenzen zwar variabel, also auch beeinflussbar sind, wenn sie aber die Eigenschaft der Adaptivität besitzen. Der Begriff der Präferenzen wird in diesem Ansatz als Korrelat zum Begriff der „bürgerlichen Freiheit“ (v. Weizsäcker 2015: 71) verstanden. Präferenzen der Bürger werden dann als adaptiv bezeichnet, wenn sie die Tendenz haben, den jeweiligen Status Quo gegenüber Alternativen „aufzuwerten“. Sie sind damit zwar nicht fix, bringen aber einen gewissen Konservativismus zum Ausdruck.
Den Begriff des Fortschritts kann man in einem Modell mit variablen Präferenzen mithilfe des Konzepts des Fortschrittspfades präzisieren. Eine Fortschrittsfolge einer Person ist eine Abfolge von „Warenkörben“ derart, dass jeder Übergang zu einem weiteren Warenkorb von dieser Person als Verbesserung angesehen wird, wobei die von dem vorangehenden Warenkorb induzierten Präferenzen zugrunde gelegt werden. Eine Fortschrittsfolge soll Fortschrittspfad heißen, wenn die Fortschrittsfolge nicht-zirkulär ist. Eine analoge Formulierung für einen Strom von Warenkörben in der als Kontinuum aufgefasster Zeit ist auch möglich. Ein sinnvoller Begriff des Fortschritts ist mithilfe der Fortschrittsfolgen nur dann zu gewinnen, wenn alle Fortschrittsfolgen auch Fortschrittspfade sind.
Im Rahmen eines recht allgemeinen mathematischen Modells kann man zeigen: Sind die Präferenzen der Person adaptiv, dann ist jede Fortschrittsfolge ein Fortschrittspfad. Damit „retten“ die adaptiven Präferenzen den Begriff des Fortschritts für eine Welt mit endogen bestimmten Präferenzen. Im Übrigen gilt auch die Umkehrung: Sind alle Fortschrittsfolgen auch Fortschrittspfade, dann sind die Präferenzen adaptiv. Die fixen Präferenzen des homo oeconomicus sind ein Spezialfall adaptiver Präferenzen. Diese können damit als Verallgemeinerung der herkömmlichen Welfare Economics angesehen werden.
Die bisherigen Ergebnisse der Behavioral Economics scheinen alle kompatibel mit der Generalhypothese zu sein, dass der Mensch ein Wesen mit adaptiven Präferenzen ist.
8. Umverteilung und Soziale Marktwirtschaft
Der moderne evolutorische Fortschrittsprozess generiert Ungleichheit – und dies selbst dann, wenn im Rahmen einer Demokratie ein gewisses Maß an Chancengleichheit (Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit) hergestellt worden ist. Viele unternehmerische Ausbruchsversuche aus dem Status Quo scheitern; manche führen zu kommerziellen Erfolgen, wodurch die einen reich werden, während andere verlieren. Das Kaldor-Hicks-Scitovsky-Kriterium berücksichtigt keine Verteilungseffekte. Der Grundgedanke der Sozialen Markt-W. propagiert die Koexistenz des Marktprinzips mit dem Sozialstaat. Auch die Theorie der optimalen Besteuerung (Steuern) basiert auf dem Gedanken, einen optimalen Kompromiss zwischen dem Prinzip des materiellen Leistungsanreizes und dem Ziel einer möglichst gleichmäßigen Wohlstandsverteilung zu schaffen.
Dieser Koexistenz-Gedanke macht insb. aus folgendem Grund Sinn: Bei einer hinreichend progressiven Einkommensbesteuerung ist zu erwarten, dass ein Projekt, das insgesamt das reale Volkseinkommen steigert, selbst dann die meisten ärmeren Menschen begünstigt, wenn es v. a. die Primäreinkommen der Wohlhabenden erhöht. Denn durch die Besteuerung dieser zusätzlichen Primäreinkommen kann die Fähigkeit des Fiskus steigen, Leistungen zugunsten der Bezieher kleinerer Einkommen zu finanzieren.
Die Optimierung dieser Koexistenz zweier Prinzipien erfolgt sinnvollerweise nach dem Popperschen Konzept des Piecemeal-Engineering: Basierend auf Erfahrung, Analyse und Diskurs – und in kleinen Schritten.
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Empfohlene Zitierweise
C. C. von Weizsäcker: Wirtschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Wirtschaft (abgerufen: 27.11.2024)