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Version vom 16. Dezember 2022, 06:07 Uhr
1. Allgemeine Bedeutung
E. ist ein Zentralbegriff im sozialen und politischen Vokabular der Moderne. Er bezeichnet den Akt der Befreiung des Menschen von vorgegebenen gesellschaftlichen Zwängen, die als willkürlich und ungerecht verstanden werden. Gelegentlich wird auch eine E. von „der Natur“ (Natur) für möglich gehalten. Doch davon kann nur im übertragenen Sinn die Rede sein, wenn es gilt, eine fälschlich als „natürlich“ verteidigte Herrschaft zu überwinden. Im strengen Sinn ist eine E. von der Natur nicht möglich, weil der Mensch als Naturwesen notwendig an Natur gebunden bleibt (Anthropologie). Also lässt sich der Begriff der E. nur auf soziale Verhältnisse beziehen, von denen sich der Mensch mit dem Ziel größerer individueller und politischer Eigenständigkeit (Autonomie) zu befreien sucht.
Die den Begriff leitende Erwartung ist, dass E. den Menschen in die Lage versetzt, sein Leben nach eigener Einsicht zu führen. Dabei beruht sie selbst schon auf einem Akt der Selbstbestimmung, den sie auf Dauer ermöglichen und sichern soll. In diesem Sinn ist E. historisch wie systematisch eng mit dem Programm der europäischen Aufklärung verbunden. Auch E. setzt Aufklärung voraus, um ihr durch Fortsetzung aus eigenem Anspruch eine möglichst alle Menschen umfassende Zukunft zu eröffnen. Auf diesen sich selbst steigernden Prozess der Selbstbildung ist auch das Verlangen nach E. gegründet, die nur gelingen kann, sofern sie vom sich emanzipierenden Subjekt selbst gewollt ist.
2. Emanzipation des Begriffs der Emanzipation
Der Ausdruck E. kommt im 18. Jh. in Umlauf und findet Aufnahme in alle europäischen Sprachen; dabei eröffnet er sich ein weitläufiges Anwendungsfeld mit einem zunehmend breiter werdenden Bedeutungsspektrum, das die vielfache Verwendung des Begriffs begünstigt.
Sein Ursprung liegt in der römischen Antike. E. meinte ursprünglich den Verzicht auf die rechtlich verankerte Verfügung und Verantwortung einer Person durch eine andere (Verantwortung). Nach römischem Recht wurde der Erwerb eines Verfügungsrechts über eine anderen Person durch den (manicipium genannten) symbolischen Akt des Handauflegens (von manus = Hand) besiegelt. Emancipatio war somit der Rechtsakt, der einen juridischen Tatbestand rechtswirksam rückgängig machte. So konnte ein Hausgenosse oder Sklave in die ihm persönlich rechtlich zugesicherte Selbständigkeit entlassen werden.
Diese Bedeutung blieb im kirchenrechtlichen Institut der emancipatio canonica erhalten, die es z. B. erlaubte, Kinder der elterlichen Verantwortung zu entziehen, um sie einer der Kirche angemessen erscheinenden Bestimmung zuzuführen. So geschah es mit den Kindern verurteilter Ketzern, die in der Obhut von Klöstern vor dem verderblichen Einfluss ihrer Eltern geschützt und auf Dauer davon abgebracht werden sollten.
Der sich über Jh. erstreckende juridische Wortgebrauch ändert sich erst mit der reflexiven Verwendung des Verbums emancipere, das nicht länger auf einen institutionellen Vorgang der Befreiung von bestehenden Verbindlichkeiten beschränkt ist. Es kann nunmehr auf eine eigene Entscheidung des sich befreienden Individuums gegründet sein. Dadurch wird, zumindest im Selbstverständnis der aktiven Individuen und Gruppen (Gruppe), anerkannt, dass Menschen sich selbst emanzipieren können. So wird die Verschränkung von eigener Einsicht und eigenem Wollen anerkannt, die ihrerseits die Verbindung von eigener Tat und allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklung voraussetzt. Diese Verbindung ist für die neuzeitliche Verwendung (Neuzeit) des Begriffs der E. charakteristisch und führt zu seiner semantischen Symbiose mit den modernen Topoi der Selbstbestimmung, der individuellen Verantwortung, der moralischen Autonomie und der politischen Souveränität. Damit kann E. sowohl zur Motivierung wie auch zur Erklärung unterschiedlicher Akte persönlicher wie politischer Selbstverwirklichung herangezogen werden, ganz gleich, ob es sich um Kritik oder Protest, Reform, Revolte oder Revolution handelt.
Der gleichermaßen historische wie systematische Zusammenhang macht die eminente Rolle verständlich, die dem Begriff der E. in der politischen Geschichte der letzten drei Jh. zugefallen ist. Der im 18. Jh. einsetzende und bis heute nicht abgeschlossene Prozess der Vergewisserung, Entfaltung und Durchsetzung der Menschenrechte wurde zunehmend als E. erfahren und gedeutet. In ihm sind gerade auch in begriffsgeschichtlicher Perspektive zwei immer wieder hervorgehobene Entwicklungsstränge von besonderer Bedeutung: die E. der Juden und die der Frauen (Frauenbewegungen). Darüber hinaus wird E. als Anspruch auf ein geistiges Geschehen verstanden, das sowohl die individuelle wie auch die sozio-kulturelle Entwicklung von Menschen nach Art eines Fortschritts versteht. Bei aller Neigung, die speziesistische Differenz zwischen Menschen und anderen Lebewesen einzuebnen, ist es bemerkenswert, dass sich der Mensch die Fähigkeit zur E. offenbar nach Art eines ultimativen Privilegs vorbehält.
3. Die exemplarische Emanzipation der Juden
Man darf es als einen besonderen Verdienst des Begriffs der E. verstehen, dass er seine historische Kontur und seinen intellektuellen Rang in der Anwendung auf zwei Problembereiche gewonnen hat: Die in beiden Fällen viel zu spät einsetzende E. der Juden (Judentum) und die der Frauen.
Während in der ersten Erklärung der Menschenrechte, der Bill of Rights im Jahre 1776 sowie in den sich allmählich mehrenden Übernahmen menschenrechtlicher Prinzipien in die Verfassungen (Verfassung) europäischer Staaten stets nur allgemein vom „Menschen“ die Rede ist, wird im Vorgriff auf das „Bürgerrecht“ im aufgeklärten Absolutismus (Absolutismus) des habsburgischen Kaisers Joseph II. eine erste Lockerung der rechtlichen Ausgrenzung der Juden verfügt. 1782 wird die „Leibmaut“, eine Kopfsteuer für Juden, abgeschafft, die „Judenhäuser“ genannten Ghettos werden aufgelöst und den Juden wird eine begrenzte Gewerbefreiheit zugestanden.
Die weitergehende theoretische Begründung findet sich in der von Moses Mendelssohn geförderten Schrift des preußischen Juristen Christian Wilhelm von Dohm „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781. Deren Spuren sind ab 1791 in den Verfassungsberatungen der französischen Nationalversammlung und später in der napoleonischen Gesetzgebung zu verfolgen. Unter dem Druck Napoleon Bonapartes folgen zwischen 1800 und 1812 fast alle deutschen Staaten den Empfehlungen C. W. von Dohms. In Preußen veranlasst Friedrich von Hardenberg 1812 den König, das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden“ zu erlassen. 1817 wird dafür erstmals der Begriff der „Juden-E.“ verwendet, der rasch in das politische Vokabular übernommen wird.
Es sind keineswegs nur die bestehenden Machtverhältnisse, die es mit sich bringen, dass der Begriff hier noch einmal ganz im alten Sinn des römischen Rechts verwendet wird. Obgleich die jüdischen Bürger (Bürger, Bürgertum) durch ihre politische und ökonomische Mitwirkung Anteil an ihrer Befreiung haben, stehen sie weiterhin unter dem auch von liberalen Denkern vertretenen Vorurteil, sie müssten erst zu Vollbürgern erzogen werden. In dieser Absicht werden ihnen religiöse Unterweisung und eine Ausbildung bei christlichen Lehrherren aufgenötigt. Erst in der (zunächst nur als Deklaration wirkenden) Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung findet sich die Feststellung: „Durch das religiöse Bekenntnis wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.“
1862 ist es das liberal regierte Großherzogtum Baden, das als erster deutscher Staat den Juden die volle Gleichberechtigung gewährt. Wie wenig damit tatsächlich erreicht war, hat die nachfolgende politische Geschichte in Deutschland gezeigt. Sie belegt, dass E. nicht gelingen kann, solange sie unter paternalistischen Konditionen erfolgt. Das ist bereits ein wesentlicher Punkt in der 1843 von Karl Marx verfassten Abhandlung „Zur Judenfrage“, wenn er in Abgrenzung gegenüber Bruno Bauer feststellt: „Wir müssen uns selbst emanzipieren, ehe wir andere emanzipieren können“ (MEW 1: 348).
4. Die Emanzipation der Frau
Das ist auch die Lehre, die mit der nicht weniger langen E.-Geschichte der Frauen verbunden ist (Frauenrechte, Frauenfrage). Hier kommt der Begriff der E. zwar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zum Durchbruch, wird dafür aber so beherrschend, dass man derzeit bei E. fast nur noch an den Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen denkt. Doch es gibt eine Vorgeschichte, die bis in die Tage der Französischen Revolution zurückreicht. 1791 fordert Olymp de Gouges mit ihrer „Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne“ die gleichen Rechte für Männer und Frauen.
Für politische Debatten und zunehmende theoretische Aufmerksamkeit sorgt hier der jahrzehntelange Kampf um das Frauenwahlrecht in England, in den Vereinigten Staaten und auf dem europäischen Kontinent. Nach dem Ersten Weltkrieg mehren sich die Stimmen für eine Gleichberechtigung in Beruf, Bildung und bei der Erfüllung der familiären Pflichten. Doch der ausdrücklich unter dem Anspruch auf E. geführte Kampf um die soziale Gleichstellung der Frau beginnt erst Jahre später, und zwar nach den Rassenunruhen in den USA und der kurz darauf einsetzenden Studentenrevolte in Amerika und Europa (Gender). Die mit der Verbreitung pharmakologischer Antikonzeptiva einsetzende „sexuelle Revolution“ zieht seit dem Ende der sechziger Jahre die sogenannte „autonome“ Frauenbewegung nach sich, die mit ihrem Verlangen zeitweilig alle anderen Bedeutungen von E. überlagert.
5. Aufgaben und Grenzen der Emanzipation
Unter den Bedingungen einer fortschreitenden Globalisierung erscheint es aus der Sicht der westlichen Zivilisation geradezu natürlich, den Gesellschaften (Gesellschaft), die sich in ihren Formen des Lebens, des Handelns und des Glaubens nicht den Standards aufgeklärten Denkens angepasst haben, einen hohen E.s-Bedarf zu unterstellen. So wird insb. von den Angehörigen religiöser Gemeinschaften verlangt, sie hätten sich von ihren Gewohnheiten und Gebräuchen zu emanzipieren.
Das Verlangen ist unvermeidlich, sofern es sich im Namen eines friedlichen Zusammenlebens in wechselseitiger Toleranz, in Anerkennung der Prinzipien des Rechts und im Respekt vor der Würde des Menschen versteht. Sobald es jedoch um religiöse Verbindlichkeiten, um Erziehung, Ernährung oder Kleidung geht, stößt der Anspruch auf E. an seine Grenzen. Er kann in Konflikt mit dem Gebot religiöser und kultureller Toleranz geraten und hat Rücksicht auf den zur E. gehörenden Willen des Einzelnen zu nehmen. Während im Interesse einer rechtsstaatlichen Ordnung ein Gebot äußerer Anpassung unerlässlich ist, kann es in sittlich-moralischen Fragen keinen Rechtszwang geben. Wie die Aufklärung steht auch die E. unter der Voraussetzung individueller Einsicht und persönlicher Entscheidung. Überdies ist zu beachten, dass auch die Glaubensfreiheit (Religionsfreiheit) zu den Menschenrechten gehört.
Dass dieser Zusammenhang nicht auf Individuen (Individuum) beschränkt sein darf, hat auch Konsequenzen für das Verhalten politischer Organisationen. Sie macht überdies verständlich, warum der Begriff der E. in der Debatte über die Erziehung zur Mündigkeit so große Beachtung gefunden hat und immer noch findet.
Literatur
U. Gerhardt: Frauensituation, 1990 • M. Greifenhagen (Hg.): Emanzipation, 1982 • H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. 4, 1980 • I. Fetscher: Herrschaft und Emanzipation, 1976 • K. M. Grass/E. Koselleck: Emanzipation, GGB, Bd. 2, 1975, 153–107 • K. Mollenhauer: Erziehung und Emanzipation, 41970 • K. Marx: Zur Judenfrage (Deutsch-Französische Jahrbücher 1844), in: MEW 1, 1969, 347–377 • B. Bauer: Die Judenfrage, 1843 • B. Bauer: Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen frei zu werden, in: G. Herwegh (Hg.): Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz, 1843, 56–71;
Empfohlene Zitierweise
V. Gerhardt: Emanzipation, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Emanzipation (abgerufen: 22.11.2024)