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Aktuelle Version vom 20. September 2023, 01:40 Uhr
1. Momente wissenschaftlicher Rationalität: Bausteine zu einer ersten Beschreibung
Als W., griechisch episteme, lateinisch scientia mit seinen fast gleichlautenden englischen und französischen Wortablegern, wird immer ein bes. ausgezeichnetes Wissen und dessen Generierung verstanden. Die Momente dieser Besonderheit werden im Folgenden charakterisiert und erläutert. Dabei werden auch Vernunft (Vernunft – Verstand) und Geist (griechisch logos, das Zauberwort der griechischen Philosophie) erhellt, die im Begriff der W., aber auch in den Bezeichnungen wissenschaftlicher Disziplinen wie Biologie, Anthropologie, Psychologie etc. mitschwingen.
1.1 Das Moment der Begründung
Sokrates unterscheidet in den Dialogen Platons zwischen doxa und episteme, Meinung und W. Letztere zeichnet sich aus durch das Unterscheidungskriterium des logon didonai, des (im logischen Sinne) Rechenschaft Gebens. Meinen kann man vieles, aber erst durch logisches Argumentieren und Begründen wird daraus echtes Wissen, eben Wissen-schaft. Gottfried Wilhelm Leibniz stellt im 17. Jh. alles philosophische und wissenschaftliche Denken auf das „Prinzip des zureichenden Grundes“ (vgl. Leibniz 1998: § 32). Die fundamentale Wichtigkeit des Satzes vom Grund erhellt aus dem Umstand, dass seine Wahrheit eine ganz grundlegende ist; sie ist nicht aus der Erfahrung begründet, vielmehr gilt der Satz apriori, d. h. vor aller Erfahrung. Er ist ein unhintergehbares Prinzip, welches seinerseits nicht weiter begründet werden kann. Arthur Schopenhauer zeigt in seiner Dissertationsschrift „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ (1813 [21847]) nicht nur die Mehrfältigkeit der Warum-Frage – als Erkenntnisgrund, Seins- und Werdegrund (d. h. Ursache) und Handlungsgrund (Motivation) –, sondern stellt den Satz vom Grund als „die Mutter aller Wissenschaften“ (Schopenhauer 1847: § 4) heraus. „Wissenschaft nämlich bedeutet ein System von Erkenntnissen, d. h. ein Ganzes von verknüpften Erkenntnissen, im Gegensatz des bloßen Aggregats derselben. Was aber Anderes, als der Satz vom zureichenden Grunde, verbindet die Glieder eines Systems“ (Schopenhauer 1847: § 4)?
1.2 Das methodisch-systematische Moment
Methode ist geradezu ein Zauberwort wissenschaftlicher Rationalität. Die griechische Grundbedeutung verweist auf einen Weg, hier: einen Weg zu wissenschaftlichem Wissen. Dieses offenbart sich nicht einfach auf intuitive Weise, sondern es wird in einer Folge von Schritten aufgebaut. Die Denkschritte, wie sie in der Logik als Begriffs- und Aussagereihen und Konklusionen beschrieben und regelhaft formuliert werden, gehören ebenso dazu wie die Folge von Problem und Lösung, Frage und Antwort, Suche und Finden. Auf den ersten Blick zeigt die Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens und Wissens bis heute eine Pluralität von Methoden, die sich in ihren Anwendungsgebieten – Formal- und Real-W.en, bei letzteren Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften und Geisteswissenschaften – z. T. beträchtlich unterscheiden.
Aber es gibt auch eine gemeinsame Grundstruktur in der Dualität von Analyse und Synthese, die man als eine Art von Ur-Methodik bezeichnen könnte. Sie findet sich schon in Platons Höhlengleichnis, wo einem Aufstieg von der sinnlichen Wahrnehmung zur Sicht der Ideen ein Abstieg entspricht, der die Sinneswahrnehmungen in den Zusammenhang eines umfassenderen Weltwissens stellt. Von Aristoteles bis heute zieht sich das Motiv durch von Teil und Ganzem (dialektisch formuliert: von Moment und Totalität), die Auflösung eines Ganzen in seine Teile, Momente und Elemente einerseits und andererseits die darauffolgende Zusammensetzung der Teile zu einem Ganzen, das im Durchlauf von Analyse und Synthese erst als solches gewusst wird. Die philosophischen Methodendenker der frühen Neuzeit stellen diese grundlegende Denkstrategie – die nicht nur als Struktur, sondern auch als Bewegung zu verstehen ist – heraus. Resolution und Komposition lauten die lateinischen Leitbegriffe bei René Descartes und Thomas Hobbes. Galileo Galilei spricht zur selben Zeit von metodo risolutivo – compositivo (s. u. zur Hypothesenmethode). Je nach Art des Gegenstandes ergeben sich unterschiedliche Verhältnisse zwischen Ganzem und Teilen. Entweder kommt man zum Ganzen aus der Summierung der Teile (dies wäre der Fall bei mechanischen Ganzheiten), oder das Ganze ist mehr als die Summe der Teile (was organische Ganzheiten charakterisiert).
Das methodische Moment ist notwendigerweise auch ein systematisches, und zwar in einem zweifachen Sinne. Zum einen als Tätigkeit, die eine schrittweise geordnete Strategie darstellt, etwa im Ab- und Aufbau eines Gegenstandes, sei dies als Denkoperation oder auch als reale physische Operation gemeint. Zum anderen als Ergebnis dieser Tätigkeit in einem systemisch Ganzen, das man sich sowohl gedanklicher als auch physischer Art vorstellen kann. In der französischen Aufklärung werden die beiden Aspekte unterschieden als esprit systématique und esprit de système.
1.3 Das Moment der kritischen Prüfung
Es greift nicht nur bei den Ergebnissen der wissenschaftlichen Tätigkeit, sondern auch bei den Methoden. Beide müssen immer wieder auf ihre Validität überprüft und der Kritik ausgesetzt werden: ein grundlegender Imperativ wissenschaftlicher Tätigkeit. Er entspricht einer Logik von Versuch und Irrtum, die sowohl ein faktisches Procedere als auch eine wissenschaftsnormative Verpflichtung darstellt. Überprüfen heißt immer wieder: zur Disposition von Kritik stellen. Bei aller Würdigung des selbstkritischen Potenzials einer einzelnen Person ist es doch der Zusammenhang der sozialen Gruppe der Wissenschaftler – der scientific community –, welcher Prüfung und Kritik bes. wirksam ermöglicht. Die kommunikativen Kanäle und Formen sind vielfältig: mediale Netze, eine Fülle von Publikationsformen, institutionalisierte Tagungen, Workshops, Kongresse, aber auch die vielen Diskussionen mehr informeller Art.
Bei alledem ist genau besehen Dissens wichtiger als Konsens. Letzterer gehört sicherlich auch zur W., wenn Diskussionen sich nach dem Ausräumen oder – realistischer betrachtet – zumindest einer signifikanten Verminderung kontroverser Überzeugungen und Positionen auf eine mögliche Position hin stabilisieren. Weitere Forschung, aber auch das Hinzutreten neuer wissenschaftlicher Akteure kann den erreichten Konsens destabilisieren und dem Dissens neuen Raum schaffen. Der Fortschritt der W. verdankt dem Dissens mehr als dem Konsens. Einzig ein System absoluter Wahrheiten (oder besser: Gewissheiten) könnte dieses asymmetrische Verhältnis aufheben. Dann aber hätten wir es nicht mehr mit W. zu tun, sondern mit einem (quasi-)religiösen Glauben oder einer absolute Geltung beanspruchenden Ideologie. Wie bloßes Meinen noch keine W. ist, so wäre das Sichzufriedengeben mit einer absoluten Glaubensüberzeugung keine W. mehr.
1.4 Das expansive Moment: Fortschritt der Wissenschaft
Die Erweiterung der W. bezieht sich am offenkundigsten auf den Gegenstandsbereich, über den sich immer mehr an Wissen akkumuliert. Dem entsprechen die Einzel-W.en, welche – im Bild gesprochen – die Kontinente und Provinzen des Seins – die Natur, das Weltall, die Lebewesen, die sozialen Gebilde, den Menschen mit seinem Körper, seiner Seele usw. erschließen. Mit der fortschreitenden Erforschung des Baconschen globus intellectualis nimmt die Zahl der weißen Flecken und unerforschten Gebiete immer mehr ab.
Nicht nur das Ausmaß an Gegenständen ändert sich, auch die Inhalte und Methoden der W.en. Das eine ist mit dem anderen verbunden. Der heute mittels hochkomplexer experimenteller Arrangements mögliche Blick in die Quantenrealität ändert unser Verständnis von Materie – ein Beispiel für beliebig viele Inhalte. Eine reflexive Ebene tritt hinzu und beleuchtet die Tiefe der Expansion. Diese wird zum Gegenstand in der W.s-Geschichte, in der W.s-Soziologie und in der philosophischen Erkenntnistheorie der W.en (auch: W.s-Philosophie). Alle drei machen die W.en der Seinsgebiete ihrerseits zum Gegenstand wissenschaftlichen Denkens. Mit der Erkenntnistheorie kommen auch die wissenschaftlichen Weltbilder in den Blick: gewissermaßen ins anschauliche Bild gefasste Überzeugungen vom Ganzen der Wirklichkeit oder zumindest von großen Teilbereichen. Sie heften sich an bahnbrechende und kulturprägende Theorien wie etwa diejenigen von Nikolaus Kopernikus, Isaac Newton oder Albert Einstein.
Im wissenschaftlichen Weltbild wird die temporäre Dimension der Expansion oftmals als Fortschritt bezeichnet, was ein wertendes Moment enthält – ist Fortschritt doch zu verstehen als Weg von etwas Altem zu etwas besserem Neuen. Ein Blick auf Gesellschaft und Politik zeigt, dass dieses Neue sowohl evolutiv als auch revolutionär begriffen werden kann. In seiner Theorie wissenschaftlicher Revolutionen unterscheidet Thomas Samuel Kuhn zwischen einer bestehenden Normal-W. – z. B. der aristotelischen Physik –, in der es nur noch um einen kumulativen Fortschritt durch eine kontinuierliche vollständigere Ausarbeitung und Problemlösung geht, und einer revolutionären W. – im Beispiel: der Galileischen Physik –, die mit der bisherigen Normalität von Grund auf und abrupt bricht. Für erstere könnte man James Clerk Maxwells Gleichungen nennen, die bereits vorhandene theoretische Grundlagen von Elektrizität und Magnetismus in eine Theorie vereinen. Bei der revolutionären W. kommt eine zentrale Rolle dem Begriff des Paradigmenwechsels zu, womit ein Wechsel im gesamten Bezugsystem und der maßgeblichen Perspektive gemeint ist. Beispiel: die Ablösung der aristotelischen Annahme einer beseelten, teleologisch ausgerichteten Natur durch G. Galileis und I. Newtons Auffassung einer unbeseelten, dem Prinzip effektiver Kausalität folgenden Natur. Weiteres Beispiel ist die von Max Planck und A. Einstein durchgeführte grundsätzliche Änderung von einer kontinuierlich fließenden zu einer diskontinuierlichen Auffassung von Energie.
2. Theorie und Logik der Forschung: Ein Überblick
Hier soll an einigen Leitbegriffen der Kern wissenschaftlicher Rationalität dargestellt werden, der zum größten Teil sowohl für die empirischen Natur- und Sozial-W.en als auch für die Geistes-W.en gilt.
2.1 Theorie
Idealiter ist eine Theorie ein Komplex von Sätzen, die nach den Regeln der Deduktionslogik miteinander verbunden sind. Eine Menge von Theoremen wird abgeleitet aus möglichst wenigen Grundsätzen (Prinzipien, Axiomen, Postulaten, Definitionen). Eines der frühesten Modelle bildet die Euklidische Geometrie, die in ihrer deduktiven Logik als mos geometricus bzw. geometrische Methode v. a. in der frühen Neuzeit zum Vorbild eines wissenschaftlich-rationalen Denkens wurde (T. Hobbes, R. Descartes, Baruch de Spinoza etc.). Sprachlich wird in Theorien ein Fachvokabular verwendet, das auch logische und mathematische Symbole enthalten kann, mit klar definierten und möglichst eindeutigen Begriffen.
Dieses Verständnis von Theorie, so richtig es als Idealziel auch sein mag, verdeckt die Dynamik einer Logik der Forschung, die weniger als linearer Prozess, vielmehr als Funktionszusammenhang mit vielen zirkulären Bewegungen zu beschreiben ist. Im Zentrum dieses Prozesses steht die wechselseitige Bezüglichkeit zwischen Hypothesen und deren kritischer Prüfung. Dieses beliebig oft durchlaufbare Verhältnis bildet den Grundzirkel in der Produktion wissenschaftlichen Wissens.
2.2 Hypothesen(-methode)
Einzelne Behauptungen, aber auch ganze Theorien können als Hypothesen begriffen werden. Hier lohnt sich ein genauer Blick auf die Sprache: Das griechische hypothesis und seine lateinische Entsprechung, die suppositio, ist wörtlich zu übersetzen als „Unterstellung“. Das kann auf zweierlei Weise gelesen werden: Zum ersten als zunächst bloße Unterstellung, will sagen als Vermutung – die dann zu erhärten oder abzulehnen ist. Die zweite Lesart ist eine erkenntnistheoretische. Der bereits vor aller W. erfahrbaren Welt, wie wir sie wahrnehmen, wird das Schema einer anderen, eben einer wissenschaftlichen, Welt „unterschoben“ – womit sich eine neue Sicht auf die Welt gewinnen lässt. Hypothesen stellen eine denkerische Transformationsleistung dar insofern, als sie die Welt der vorwissenschaftlichen Erfahrung in eine theoretisch interpretierte Welt umformen. Man kann darin zweierlei Realität erblicken: Aus der Realität I der Sonne, die wir auf- und untergehen sehen, wird die Realität II, dass die Erde um die Sonne kreist und dieser Vorgang physikalischen Gesetzen von Masse, Schwerkraft und Zeit folgt.
2.3 Drei strategische Optionen der Prüfung
2.3.1 (Positive) Bestätigung (Verifikation)
Zumindest in den Erfahrungs-W.en ist es die empirische Bestätigung, nach welcher gesucht und die Hypothese damit als wahr erwiesen wird. Dazu wird die induktive Logik herangezogen. Diese kann freilich keine endgültige Wahrheit verbürgen. Es geht in der Induktion darum, aus einer Reihe bisheriger Einzelfälle, die als All-Aussage formuliert wird, auf den nächsten Einzelfall zu schließen. Satz 1: „Alle bislang beobachteten Schwäne sind weiß.“ Satz 2: „Folglich ist auch der nächste beobachtete Schwan weiß.“ Tritt dieser Fall ein, ist Satz 1 bestätigt. Das ist kein zwingender Schluss auf alle Fälle überhaupt – es sei denn, man würde in einer abgeschlossenen Menge von Fällen und Ereignissen alle kennen – was meist nicht der Fall ist; oder man würde mit statistischen Generalisierungen arbeiten. Es bedarf immer wieder der Bestätigung durch sogenannte empirische Basissätze, die aus Wahrnehmung, genauer: Beobachtung resultieren. In ihrer genauesten Form handelt es sich um sogenannte Protokollsätze mit Daten und Werten, wie sie im Einsatz von Messinstrumenten bei Experimenten gewonnen werden. Dem Experiment als einem Arrangement von Apparaten kommt hier großes Gewicht zu, liefert es doch eine wissenschaftliche „Empirie“, die von der vorwissenschaftlichen „Erfahrung“ im Alltagsleben zu unterscheiden ist. In der W.s-Theorie des Logischen Empirismus (Wiener Kreis, Rudolf Carnap, Hans Reichenbach etc.) werden der Empirie dann theoretische Sätze „zugeordnet“, welche die empirischen Sätze auf eine Theorie hin auswerten und interpretieren.
2.3.2 Bewährung (negative Bestätigung) oder Widerlegung (Falsifikation)
Karl Raimund Poppers „Kritischer Rationalismus“ unterscheidet sich vom Empirismus insofern, als er das kritische Moment mehr betont. Möglich ist keine Bestätigung, sondern nur eine Bewährung (Corroboration), zu der die Prüfung im günstigsten Falle führt – dann nämlich, wenn die Prüfung für die angesetzte Hypothese positiv ausfällt. Ist dies nicht der Fall, so kommt es zur Widerlegung (Falsifikation). Die kritisch-rationale Logik funktioniert im logischen modus tollens. Satz 1, Hypothese: „Alle Schwäne sind weiß.“ – Satz 2: „Dieser einzelne beobachtete Schwan ist schwarz.“ – Folgt im Rückschluss Satz 3: „Die Hypothese ist falsifiziert.“
2.3.3 Exhaustionsmethode
Freilich gibt es gute Gründe, am Alleinvertretungsanspruch eines solchen logischen Verfahrens zu zweifeln. Das Prüfverfahren und seine Konsequenzen für die Hypothese kann auch auf eine gegenüber der Hypothese konservative Weise durchgeführt werden, wie das aus der Geometrie stammende, von Hugo Dingler favorisierte Exhaustionsverfahren zeigt. Wenn bei einer Verknüpfung zweier Sätze i. S. einer „Wenn …, dann …“-Verbindung die Konklusion nicht erfüllt wird, so ist der Ausgangssatz, die Prämisse, damit nicht zwangsläufig zu streichen. Ihre Negierung wäre dann nicht zwingend, wenn man sie erweitern würde durch zur Prämisse hinzutretende Störbedingungen. Das klassische Beispiel liefert G. Galileis Fallgesetz, wonach alle physikalischen Körper gleich schnell fallen, nämlich mit gleichförmig beschleunigter Geschwindigkeit. Legt man dieses Gesetz zugrunde, so könnte es unschwer durch Beobachtung widerlegt werden; eine Bleikugel wird schneller zu Boden fallen als eine Vogelfeder – wie wissenschaftsgeschichtlich wohl am Schiefen Turm von Pisa beobachtet wurde. Die Exhaustionsmethode bietet hier die Möglichkeit, G. Galileis Fallgesetz auch gegen den einfachen empirischen Augenschein aufrechtzuerhalten, indem man die Abweichung des Augenscheins vom vorhergesagten Gesetz durch die Hinzunahme des Luftwiderstands erklärt, der die Feder langsamer fallen lässt als die Bleikugel. Die empirischen Gegebenheiten werden sozusagen auf das Fallgesetz als ideale Denkfigur hin „ausgeschöpft“, eben exhauriert.
Es gibt weitere Gesichtspunkte, welche die Präferenz und Akzeptanz einer Hypothese bestimmen können. Erwähnt sei nur noch das Postulat der Einfachheit, dass man die einfachere Hypothese gegenüber weniger einfachen bevorzugen sollte. Diese Präferenz nach dem Einfachheitskriterium, auch bekannt als Sparsamkeitsprinzip, lex persimoniae, ist in der W.s-Theorie in (nicht ganz korrekter) Anlehnung an den mittelalterlichen Philosophen Wilhelm von Ockham als Ockhams Rasiermesser, Occam’s razor bekannt. Das Prinzip lässt sich sowohl ästhetisch als auch denkökonomisch verstehen: Einfachheit erscheint auch als Schönheit und Eleganz, die man Theorien zusprechen kann. Zugleich kann sie als Ausdruck einer Denkökonomie des „kleinsten Kraftmaßes“ interpretiert werden, wie sie von Richard Avenarius beschrieben wurde. Entscheidend ist dabei, dass eine einfachste Mittelwahl umgesetzt wird, um mindestens das gleiche Ergebnis zu erreichen wie mit einem größeren Aufwand. Man könnte diesen Zusammenhang auch als Effizienz charakterisieren. Bes. bedeutsam sind solche Überlegungen, wenn es um Erklärungsleistungen für Sachverhalte geht. So sind etwa in den Sozial-W.en empirische Theorien verschwörungstheoretischen Konstrukten dann vorzuziehen, wenn sie einen Sachverhalt – etwa das Zustandekommen eines Krieges oder politischer Veränderungen – aus faktisch nachweisbaren Gründen und Ursachen erklären, während Verschwörungstheorien sich auf Gruppen beziehen, die angeblich im Geheimen agieren, ohne dass man dies faktisch belegen und sozusagen in einer gerichtsverwertbaren Weise beweisen könnte – weswegen man es heute vorzieht, eher von Verschwörungsmythen zu sprechen. Die Möglichkeit konspirativer Machenschaften ist damit nicht völlig ausgeschlossen, und vielleicht kann sie sogar einmal als historisch-faktische Wirklichkeit nachgewiesen werden. Den Regelfall wird diese Art der Erklärung aber nicht darstellen.
3. Das weite Feld des Vortheoretischen: Heuristische Strategien
Ein Großteil der W.s-Theorien des 20. Jh. befasst sich v. a. mit dem context of justification, d. h. der Hypothesen- und Theorienbildung und der Logik der Forschung. Dem context of discovery, wie Hypothesen überhaupt generiert werden, kommt vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zu. Mit diesem vortheoretischen Bereich beschäftigt sich v. a. die Heuristik. Diese ist weniger eine eigene W.s-Disziplin, als vielmehr eine Kunst, wissenschaftlich bedeutsame Ideen zu gewinnen, wo sie noch gar nicht existieren. Diese Findekunst hat eine lange ideengeschichtliche Tradition. Schon bei den klassischen Griechen bekannt, wird sie zu Beginn der Neuzeit als ars inveniendi in Abhebung von einer ars demonstrandi reflektiert. Während die letztere idealiter die deduktive Ableitung von Theoremen aus Grundsätzen meint, befasst sich die erstere damit, die Grundsätze selbst zu (er)finden. Die Findekunst richtet den Scheinwerfer auf die grundlegende Frage, wie es überhaupt zu Hypothesen kommt und wie diese ihrerseits zu begründen sind. Die heuristischen Antworten auf diese Frage verweisen auf Voraussetzungen, die in den Theorien nicht weiter zum Gegenstand werden, aber implizit in ihnen enthalten sind.
So stellt K. R. Popper sein Verständnis von Theorienfortschritt – Hypothesen, vorläufige Bewährung, Widerlegung und neue Hypothesen – in den Zusammenhang eines Lernens aus Irrtümern. Die Methode von trial and error ist aber nicht beschränkt auf wissenschaftliche Theorien; sie findet sich im menschlichen Alltagsleben, im Leben der Tiere und in der Evolution von Leben überhaupt. Sie ist nicht nur eine wissenschaftliche Hypothese, sondern die W. ahmt hier sozusagen ein organisches Grundmuster nach.
Anders erschließt T. S. Kuhn den Bereich des Vortheoretischen in seiner Theorie des wissenschaftlichen Fortschritts. In einer Werner-Heisenberg-Vorlesung, die T. S. Kuhn 1984 in München hielt, fügt er seinem Konzept von wissenschaftlicher Revolution als eines Paradigmenwechsels zwei weitere strukturelle Merkmale hinzu: Zum einen das Moment eines Bedeutungswandels (meaning change) bei grundlegenden theoretischen Begriffen. Während Aristoteles unter den Begriff der Bewegung so unterschiedliche Vorgänge wie das Wachsen und Altern eines Lebewesens, den Farbwechsel eines Apfels, den Wechsel zwischen krank und gesund oder die Ortsveränderung eines Körpers fasst, wird in der modernen Physik ab G. Galilei Bewegung auf Ortsveränderung reduziert. Zum zweiten ein grundlegender Wandel in den Leitanalogien und Modellen, der das ganze Begriffsgefüge ändert. Diese taxonomische Verschiebung zeigt sich beim Bewegungsbegriff darin, dass ein aristotelischer Forscher die genannte Reihe von analogen Phänomenen zusammendenken kann, während in der modernen Physik die Analogie verlorengegangen ist.
Der Verweis auf Leitanalogien und Modelle – T. S. Kuhn erblickt darin das wichtigste Moment wissenschaftlicher Revolutionen – ist heuristisch für alle W.en höchst bedeutsam. Das analogische, mit Ähnlichkeiten operierende Denken erweist hier seine heuristische Fruchtbarkeit. So wird etwa in der Politikwissenschaft bei der theoretischen Erfassung totalitärer Ideologien und Praktiken (Totalitarismus) die Ähnlichkeit zu Religionen herangezogen; „Politische Religionen“ wird dadurch zum Schlüsselkonzept. Platon hat mit seinen Gleichnissen (Sonne, Linie, Höhle) vorgemacht, wie erkenntnistheoretische, metaphysische und anthropologische Themen strukturell anschaulich gemacht werden können, was nicht nur heuristisch, sondern auch didaktisch interessant ist. Hinzutretende narrative Elemente können eine ganze conditio humana in analogischer Konkretion deutlich machen, wie das Höhlengleichnis zeigt. Kaum zu überschätzen ist die heuristische Kraft von Modellen. Siehe dazu die von Herbert Stachowiak entwickelte „Allgemeine Modelltheorie“ (1973). In der einfachsten Fassung steht ein physisches, strukturelles oder funktionales Modell in einer Analogiebeziehung zu einem Original; vom Modell aus können dann vergleichende Schlüsse auf das Original gezogen werden. Selektiv seien erwähnt soziomorphe Modelle (z. B. eine arbeitsteilige Gesellschaft als Modell für den menschlichen Geist [Marvin Minsky]), organische Modelle (z. B. der menschliche Körper, als Modell für Politik und Staat), technomorphe Artefakte (z. B. unterschiedliche Typen von Maschinen, als Modelle für Staat und Gesellschaft als Originale). T. Hobbes modelliert den Staat im menschlichen Körper (als „großer Mensch“) und auch in der Maschine eines mechanischen Uhrwerks (im 17. Jh. der neueste Stand der Maschinentechnik). Im selben Jh. erfindet William Harvey seine neue Theorie vom geschlossenen Blutkreislauf, angeregt durch das technische Vorbild einer Parkbewässerung mittels eines Röhrenpumpsystems. Analogisch gedachte Bilder, Metaphern und Erzählungen führen zu begrifflichen Elementen von Theorien: die Metapher des Schiffs für den Staat – dazu passend Platons Erzählung vom Steuermann; die Schifffahrt inkl. des Schiffbruchs als Metapher für das menschliche Leben, aber auch für das menschliche Wissen, seine Erschließung von Neuem und seinen Verlust eines ganzheitlichen Weltbildes; die seit dem 17. Jh. weitverbreitete Metapher vom Leben als Bühne; Hirt und Herde als Modell für ein paternalistisches Herrschaftsverständnis, etwa bei Platon, aber auch für Michel Foucaults Untersuchungen zur Gouvernementalität als eigenem Herrschaftstypus gegenüber demjenigen der Souveränität. All diese Beispiele verweisen auf die Fülle der Wissensfelder, der Begriffe und Theorien. Wie eng dabei heuristische Modelle und Metaphern mit theoretischen Begriffen verwandt sind, zeigt sich in der heutigen Politik-W. und ihrem ein breites Forschungsfeld leitenden Begriff der Governance. Letzterer verweist nicht nur etymologisch, sondern auch semantisch zurück in die Kybernetik, die allgemeine Lehre von Regelung und Steuerung, und darüber hinaus in die Kunst des Steuermanns (die griechische Ursprungsbedeutung von kybernetes).
Auch Gedankenexperimente sind heuristisch bedeutsam. Ein Beispiel aus der politischen Theorie liefert John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“ (1979), die ihre Gerechtigkeitsprinzipien ableitet aus der Annahme einer fiktiven original condition der Menschen: In ihr wirkt ein „Schleier des Nichtwissens“ (Rawls 1979: 159), indem die Individuen ihre eigene Beschaffenheit, ihre Lage und ihren Status in der Gesellschaft nicht kennen und unter dieser Voraussetzung entscheiden, welche Art von sozialen Beziehungen als gerecht zu bezeichnen wären.
Eng damit verwandt sind die Perspektiven und ihr Wechsel – Denkansätze, die von verschiedenen variablen Stand- bzw. Sehepunkten aus die theoretische Erschließung ihrer Gegenstände ermöglichen. Bekanntlich liefert der Blick von unten nach oben andere Inhalte als der Blick von oben nach unten. Das gilt nicht nur für Wahrnehmungen und Beobachtungen vom Tal hinauf zum Berggipfel und umgekehrt, sondern auch für soziale und politische Standorte „oben“ oder „unten“ – eine Differenz, auf die bereits Niccolò Machiavelli am Anfang seines „Principe“, im Widmungstext an Lorenzo de’ Medici, hingewiesen hat. In den Sozial-W.en – bes. genannt seien Soziologie und Ethnologie – wird der individuelle oder institutionelle Standort des Beobachters in die Entwicklung von Theorien einbezogen. Insb. in Systemtheorien, exemplarisch die funktionale Systemtheorie von Niklas Luhmann, wird mit einem doppelten Perspektivenwechsel gearbeitet: zum einen, indem die handlungstheoretische, von Akteuren und deren Motiven und Zwecken ausgehende Perspektive in den systemischen Blickwinkel wechselt, der statt Zwecken Funktionen und Strukturen zeigt. Und zum anderen, indem dabei der Frage des Beobachters eine Schlüsselfunktion zukommt, indem es um Beobachtung von Beobachtung geht. Diese reflexive Verdoppelung – Heinz von Foerster spricht hier von „second-order cybernetics“ (Foerster 2003: 287) – kann mit N. Luhmann als substantielles Merkmal von Modernität aufgefasst werden.
Hinzuweisen ist auf zwei spezifische Zugänge zur Heuristik. Die Wissenspsychologie (bspw. David Perkins) zeigt in der Untersuchung von „Geistesblitzen“ und „Einfällen“, die zu einem „Heureka“-Erlebnis neuer Einsichten führen, wie spontane mit regelhaften Momenten zusammenkommen. Die ideengeschichtlichen Forschungen von Lorraine Daston zeigen, wie wichtig affektive Dispositionen und damit verbundene kulturelle Wertungen für die (Er-)Findung neuer Hypothesen und neuen Wissens sein können. Als Beispiel diene die Neugierde, deren Negativwertung in der frühen Neuzeit geradezu umgepolt wurde. Neugierde wurde als Schlüsselleidenschaft für die propagierte Erneuerung der W. emphatisch bejaht.
Was den Zusammenhang von theoretischem und vortheoretischem Bereich angeht, so verdient ein Komplex von pragmatischen W.s-Theorien bes. Aufmerksamkeit. Als repräsentativ für die Bandbreite dieses Denkansatzes kann das von H. Stachowiak herausgegebene „Hdb. pragmatischen Denkens“ (5 Bde., 1986–95) gelten. Die grobe Grundidee des Ansatzes führt menschliches Wissen überhaupt und im speziellen wissenschaftliches Wissen auf die Vornahme von Handlungen zurück, die insb. als technische, aber auch – in einer Variante dieses Theorienkomplexes – als sprachliche zu betrachten sind. Die pragmatische Perspektive gilt bzgl. der W. zunächst speziell den grundlegenden Begriffen und deren Definitionen. Dafür steht Percy Williams Bridgmans Operationalismus, der Begriffe wie Länge als Synonyme für die entsprechenden Messoperationen auffasst. H. Dingler bezog das operative Moment in seine Theorie des Experiments ein und begründete beides mit einem „Prinzip der pragmatischen Ordnung“ (Dingler 1931: 108), wonach methodisch gelingendes Handeln nur möglich ist, wenn eine Reihenfolge der Handlungsschritte eingehalten wird. So setzt die experimentelle Natur-W. die technische Herstellung von Messapparaten voraus, deren funktionale Zuverlässigkeit ebenfalls zu begründen ist. Der von H. Dingler auf eine ausgearbeitete Begründung von Geometrie und Arithmetik sowie mechanischer Physik konkretisierte pragmatische Ansatz wurde von der sogenannten Erlanger Schule um Paul Lorenzen und vom nachfolgenden Deutschen Konstruktivismus um Peter Janich u. a. fortgeführt. Dabei wurden einerseits sogenannte Prototheorien entwickelt, wie z. B. Protogeometrie, Protophysik etc. Diese wurden unter dem Stichwort „kulturalistische Wende“ auf lebensweltliche Voraussetzungen hin weiterverfolgt. In ihrer elaborierten Form bildet diese pragmatisch begründete W.s-Theorie eine aktuelle Alternative zu einer empiristischen oder kritisch-rationalistischen Theorie.
4. Wissenschaft und Macht: Ein modernes Leitmotiv und seine Grenzen
In den Anfangsjahrzehnten des 17. Jh. verfasste Francis Bacon, praktizierender Wissenschaftler und W.s-Theoretiker, die W.s-Utopie „Nova Atlantis“ (1627). Auf dieser Insel gibt es eine Art W.s-Aristokratie, die im Haus Salomons auf eine arbeitsteilig organisierte Weise überaus erfolgreich W. betreibt und entspr. hoch angesehen ist. Die staunenden Zeitgenossen, die zufällig auf die Insel verschlagen wurden, erfahren von den technischen und sonstigen Leistungen der Wissenschaftler: Vordringen in die Tiefe der Erde und in die Höhe des Himmels, Flugzeuge, U-Boote, medizinische Forschungen und Therapien, die das Leben verlängern, Lebensmitteltechnologie, Simulation von Naturereignissen, Telefonie, Mikroskope und Ferngläser etc. Die Wörter sind von heute, in der Sache entsprechen sie jedoch genau dem Erzählten. Da zur damaligen Zeit nichts davon faktisch existierte, ist es eine Utopie – die heute längst Wirklichkeit ist.
Im Kontext von F. Bacons Gesamtwerk ist klar, dass W. das Mittel ist, welches einem Zweck dient: die Herrschaft bzw. das Königtum des Menschen – das Regnum Hominis – über die Natur zu etablieren. Das Motto lautet: scientia propter potentiam, Wissen(-schaft) um der Macht willen. Mit diesem instrumentellen Charakter der W. wird ein neues W.s-Verständnis markiert. Aus einer von Aristoteles konzipierten sich selbst genügenden Lebensform (bios theoretikos) wird nun ein Mittel zum Zweck, und dieser Zweck ist Macht. F. Bacon formuliert den Zusammenhang noch schärfer, indem er W. und Macht gleichsetzt. Im dritten Aphorismus des „Novum Organum“ (1620) heißt es: „Scientia et potentia humana in idem coincidunt“ (Bacon 1857: 157), „Wissenschaft und Macht des Menschen fallen in eins zusammen“. Das Mittel selbst nimmt die Qualität des Zwecks an.
Die damit eröffnete Denklinie wird, begleitet von einem enormen Ausbau der W. und einer entsprechenden Verwissenschaftlichung der Lebenswelt, im 20. Jh. von M. Foucault in einer Reihe von kulturgeschichtlichen Untersuchungen wieder aufgenommen, die zu einer Machtanalyse systematisiert werden. Macht erscheint dabei als ambivalent: Einerseits im traditionellen Sinne als Unterwerfung und Unterdrückung von oben herab innerhalb einer Machtpyramide; dieses Modell wird als souveräne, majuscule, d. h. großgeschriebene Macht bezeichnet. Andererseits die Macht, wie sie in einer Vielheit von „Dispositiven“ netzartig zirkuliert; das ist eine minuscule, kleingeschriebene Macht; sie ist gerade deswegen wirksam bis in den Alltag hinein, weil sie die Menschen durchdringt und kontrolliert, sie dabei aber auch formt und fördert. Dabei kommt der W. eine substantiell wichtige Funktion zu. Wissenschaftliche Expertise ist gefragt in der Regierung und Verwaltung, in der Rechtsprechung und ihrem Straf- und Gefängnissystem, in der Wirtschaft, im Militär, im Erziehungs- und Bildungssystem, in der Klinik und in der Psychiatrie. Immer geht es um Kontrolle und Disziplin, anschaulich repräsentiert im Benthamschen Gefängnismodell des Panopticon, einem Rundbau, wo die Wächter den Blick in alle Zellen haben, ohne selbst gesehen zu werden. Auch Wahrheit ist keine übergeordnete Instanz, sondern Produkt der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. M. Foucault spricht von einer „Politik der Wahrheit“ (Foucault 1978: 54). Der Ort dieser Wahrheit ist die W. Das ist der moderne Zusammenhang von wissenschaftlichem Wissen und Macht.
Macht ruft Gegenmacht hervor. Letztere kann wissenschaftsextern generiert werden, aber auch in einer Art von dialektischem Prozess intern aus der W. selbst kommen. Beide Male finden sich sowohl falsche Freunde als auch wahre Feinde. Beide tauchen dort auf, wo ideologische, religiöse, moralische, politische und weltanschauliche Überzeugungen absolut gesetzt werden und die Eigenlogik und Autonomie der W. diesen Überzeugungen prinzipiell untergeordnet werden.
Falsche Freunde können diejenigen sein, die sich erklärtermaßen auf wissenschaftliche Theorien, Studien und Ergebnisse beziehen, um ihre eigenen nichtwissenschaftlichen Überzeugungen zu untermauern. Problematisch wird dies, wenn der generelle Verweis auf wissenschaftliche Forschung eine echte Argumentation oder zumindest den Versuch eines Nachvollzugs ersetzt. Damit einher gehen oftmals überzogene Erwartungen an W., die doch viel Mühe und Zeit an die immer wieder erfolgende kritische Prüfung von Behauptungen wenden muss, wo es Nichtwissenschaftlern oft nur um die schnelle Bestätigung ihrer eigenen Meinungen geht. Für die schnelle Taktung in Messengern erweisen sich wissenschaftliche Fragen der Bestätigung, Bewährung, Evaluierung von Hypothesen als zu umständlich und kompliziert; von der wichtigen Frage ganz abgesehen, wie Ergebnisse aufgrund welcher Methoden überhaupt zustande kommen. Noch gefährlicher ist eine dem selbstkritischen Geist der W. fremde W.s-Gläubigkeit, die von der W. Sinn und Orientierungswissen oder gar Heilswissen erwartet.
Die wahren Feinde der W. findet man überall dort, wo in einer langen Geschichte bis in die heutige Zeit mit Zensur, Publikationsverboten, Indizierungen von Büchern und ideologischen Vereinnahmungen gegen die W. und deren freie, ungehinderte Ausübung vorgegangen wird. Aus heutiger Sicht fallen zunächst v. a. die totalitären Systeme des 20. Jh. ins Auge. Aber auch die westlich-liberalen Demokratien der letzten Jahrzehnte liefern reichlich Belege. So lehnen sogenannte Leugner wissenschaftlich untermauerte Sachverhalte total ab. Der Holocaust oder die Mondlandung können ebenso als Fake denunziert werden wie die medizinische Existenz von Viren. Der Phantasie scheinen hier keine Grenzen gesetzt, was für Soziologen, Politikwissenschaftler, Philosophen und Psychologen durchaus Anlass gibt, sich mit derartigen Phänomen der Leugnung, die oft auch mit Verschwörungsnarrativen einhergehen, rational zu beschäftigen.
Ein weiteres Feld ist die sich paradoxerweise an den Universitäten abspielende Cancel Culture, die freie akademische Forschung, Lehre und Debatte über „heikle“, weil politisch (oder auch religiös) kontroverse Themen beschränken will. Betroffen sind konservative Positionen z. B. zu Genetik, Vererbung, Intelligenzforschung, Rassen und Ethnien, Klimawandel oder Gendertheorien. Durch affirmative action (meist) studentischer „Diskurswächter“ sollen Vorlesungen und Vorträge verhindert, Professoren überwacht und „anstößige“ theoretische Positionen durch unangemessene Begriffe und Vorwürfe (z. B. des Rassismus) mundtot gemacht werden. Der akademische Raum spiegelt die Gesellschaft, in der sich Political Correctness in Denken, Sprache und Medien immer mehr verbreitet. Die Folgen: offenes Sprechen und Denken werden gelähmt; die Risikobereitschaft zur Vertretung riskanter Positionen sinkt ab, wenn Forschungsgelder oder akademische Stellen dadurch selbst unter Risiko geraten.
Sieht man einmal von Betrug und Plagiierung als Verletzungen der Regeln guter wissenschaftlicher Praxis ebenso ab wie vom vorauseilenden Gehorsam mancher Universitätsleitung gegenüber Angriffen auf die Wissenschaftsfreiheit, so verdient eine bes. Schwächung und Gefährdung der W. bes. Aufmerksamkeit: der Szientismus, die Haltung, die W. selbst und ihre Denkweise als Letztinstanz absoluter und einziger Wahrheit zu beanspruchen und damit gerade das kritische Moment aller wissenschaftlichen Rationalität in der Reflexion auf diese preiszugeben. Es gibt andere Orte von Wahrheit – man kann auch sagen: es gibt andere Wahrheiten als die wissenschaftliche: die viel zu wenig beachtete Alltagsklugheit (Klugheit), Religion und Mythos, die Formen von Kunst. Ihr Zugang zur Wirklichkeit ist hauptsächlich Intuition. Es wäre Verblendung und Maßlosigkeit, wollte W. sie ersetzen.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
U. Weiß: Wissenschaft, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Wissenschaft (abgerufen: 24.11.2024)