Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit: Unterschied zwischen den Versionen
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− | Die Konzeption der C.-Gerechtigkeit etablierte sich in der Nachkriegszeit zunächst in bildungspolitischen Diskursen ([[Bildungspolitik]]), die auf schicht- und geschlechtsspezifische Benachteiligungen reagierten ([[Geschlechtergerechtigkeit]]). Daneben sahen liberale Positionen ökonomische Ungleichheit traditionell gerechtfertigt durch Leistungsdifferenzen bei gleichen Zugangschancen zum Markt. Seit den 1990er Jahren formierte sich in den Diskursen zur Reform des Wohlfahrtsstaates ein neues Paradigma der „Teilhabegerechtigkeit“ (Leisering 2004: 54). Danach sind – ausgehend von dem Postulat der [[Gleichheit]] aller Menschen – vorgefundene Benachteiligungen zu kompensieren, um die Teilhabe ([[Partizipation]]) an den vielgestaltigen Formen des ökonomischen, kulturellen und sozialen Lebens zu ermöglichen. Indem Teilhabegerechtigkeit auf die Verbesserung individueller Zugangschancen zielt, kann sie auch als Neuformulierung einer – nunmehr multidimensional verstandenen – C.-Gerechtigkeit gelten. Diese Konzeption ist anwendbar auf die Überwindung von sozialen Nachteilen z. B. aufgrund von [[Alter]], [[Behinderung]], ethnischer Herkunft, familiärer Lebensform oder Geschlecht, insofern diese den Zugang z. B. zu [[Bildung]], Erwerbsarbeit, gesundheitlicher Versorgung, [[Kultur]] und anderen Lebensbereichen einschränken. Auch [[Generationengerechtigkeit]], bezogen insb. auf die Chancen jüngerer Geburtskohorten zur Teilhabe am Sozialprodukt angesichts einer zunehmenden Zahl von Leistungsempfängern der Sozialversicherungen ( | + | Die Konzeption der C.-Gerechtigkeit etablierte sich in der Nachkriegszeit zunächst in bildungspolitischen Diskursen ([[Bildungspolitik]]), die auf schicht- und geschlechtsspezifische Benachteiligungen reagierten ([[Geschlechtergerechtigkeit]]). Daneben sahen liberale Positionen ökonomische Ungleichheit traditionell gerechtfertigt durch Leistungsdifferenzen bei gleichen Zugangschancen zum Markt. Seit den 1990er Jahren formierte sich in den Diskursen zur Reform des Wohlfahrtsstaates ein neues Paradigma der „Teilhabegerechtigkeit“ (Leisering 2004: 54). Danach sind – ausgehend von dem Postulat der [[Gleichheit]] aller Menschen – vorgefundene Benachteiligungen zu kompensieren, um die Teilhabe ([[Partizipation]]) an den vielgestaltigen Formen des ökonomischen, kulturellen und sozialen Lebens zu ermöglichen. Indem Teilhabegerechtigkeit auf die Verbesserung individueller Zugangschancen zielt, kann sie auch als Neuformulierung einer – nunmehr multidimensional verstandenen – C.-Gerechtigkeit gelten. Diese Konzeption ist anwendbar auf die Überwindung von sozialen Nachteilen z. B. aufgrund von [[Alter]], [[Behinderung]], ethnischer Herkunft, familiärer Lebensform oder Geschlecht, insofern diese den Zugang z. B. zu [[Bildung]], Erwerbsarbeit, gesundheitlicher Versorgung, [[Kultur]] und anderen Lebensbereichen einschränken. Auch [[Generationengerechtigkeit]], bezogen insb. auf die Chancen jüngerer Geburtskohorten zur Teilhabe am Sozialprodukt angesichts einer zunehmenden Zahl von Leistungsempfängern der Sozialversicherungen ([[Sozialversicherung]]), gilt als Form der C.-Gerechtigkeit. |
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Version vom 8. Juni 2022, 08:12 Uhr
I. Sozialethisch
Abschnitt drucken1. Normative Logik
Der Chancenbegriff ist dreistellig. Er verbindet ein Subjekt mit einem erstrebten Gut unter der Perspektive der Erfolgsbedingungen. Formen substanzieller C.-Gleichheit, die ihren Maßstab i. d. R. komparativ bestimmen, garantieren eine Mindestausstattung aller im Wettbewerb um ein bestimmtes Gut. Formen prozeduraler C.-Gleichheit, die einen absoluten Maßstab anlegen, sichern gerechte Zugangsbedingungen zu den jeweiligen Gütern und sind, etwa bei politischen Wahlen, bei der Vergabe von Arbeitsstellen oder beimSport, meist mit einem meritokratischen Prinzip verbunden, wonach der Bestqualifizierte die zu vergebende Position erhalten soll. Im gesellschaftlichen Ordnungsgefüge sind beide Formen unverzichtbar und aufgaben- und handlungsfeldspezifisch zu gewichten.
Das Ziel von C.-Gleichheit als Gegenmodell zu Konzepten der Ergebnisgleichheit liegt darin, Menschen durch die Gestaltung der Handlungsbedingungen Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen und auf diese Weise soziale Exklusion zu verhindern oder zu verringern. Die Gewährung von C.-Gleichheit trägt dazu bei, dass Menschen als moralisch gleich anerkannt werden.
C.-Gleichheit verlangt einen Ausgleich. Die Egalisierungsforderung des C.-Gleichheitsprinzips kann sich je nach Konzept auf Ressourcen, d. h. interne und externe Handlungsmittel wie etwa angeborene Begabungen, erworbene Fähigkeiten oder finanzielle Mittel, oder auf Erfolgsaussichten beziehen. Mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Kooperations- und Verteilungsverhältnisse, die sich in ihrer moralischen Anspruchslogik von privaten sowie spezifischen gruppen- und organisationsinternen Beziehungen unterscheiden, ist das Ziel der Egalisierung von Erfolgsaussichten abzulehnen, weil es dem übergeordneten Wert der Freiheit widerspricht. Denn den besser Ausgestatteten müssten Handlungsbeschränkungen auferlegt werden, und den schlechter Ausgestatteten drohte eine paternalistische Bevormundung (Paternalismus). Zudem ergäbe sich die zuweilen beschworene Gefahr der Nivellierung nach unten.
C.-Gleichheit erhält damit eine dem Freiheitsgrundsatz nachgeordnete Stellung und Funktion, wobei Freiheit nicht rein negativ verstanden werden kann, sondern immer schon ein Mindestmaß an positiven Freiheitsvoraussetzungen verlangt, weil andernfalls der grundlegende Status der Bürger als moralisch Gleiche verletzt wird.
Im Hintergrund des Bedeutungsaufstiegs von C.-Gleichheit stehen drei zusammenhängende Ursachen:
a) die Anerkennung der Gleichheit aller Bürger, die ein spezifisch moderner Wert ist;
b) die Zunahme von Gestaltungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft aufgrund ihrer technischen, wirtschaftlichen, rechtlichen und organisatorischen Leistungsfähigkeit, wodurch vieles, was früher Schicksal war, in den Bereich gesellschaftlicher Verantwortung rückt; sowie
c) die Steigerung wechselseitiger gesellschaftlicher Verflechtungen, die gestaltungs- und rechtfertigungsbedürftig sind.
Mit Blick auf gesellschaftspolitische Belange (Gesellschaftspolitik) lässt sich C.-Gleichheit gerechtigkeitstheoretisch als ein – durchaus wichtiger – Aspekt sozialer Gerechtigkeit verstehen, wenn diese Kategorie wiederum auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im Ganzen bezogen wird: „Die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit […] ermöglichen die Zuweisung von Rechten und Pflichten in den grundlegenden Institutionen der Gesellschaft, und sie legen die richtige Verteilung der Früchte und der Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit fest.“ (Rawls 1975: 20)
Grundidee der C.-Gleichheit ist die Auffassung, dass das Schicksal der Menschen von ihren Entscheidungen (Entscheidung) und möglichst wenig von zufälligen Umständen bestimmt sein soll. „In allen Teilen der Gesellschaft sollte es für ähnlich Begabte und Motivierte auch einigermaßen ähnliche kulturelle Möglichkeiten und Aufstiegschancen geben.“ (Rawls 1975: 93) John Rawls konkretisiert diese allg.e Vorstellung zu der Vorgabe, dass soziale Ungleichheiten (Soziale Ungleichheit), um legitim zu sein, aus beruflichen Positionen oder öffentlichen Ämtern hervorgehen müssen, die jedem unter der Bedingung fairer C.-Gleichheit offen stehen. Während formale C.-Gleichheit lediglich verlangt, dass jegliche rechtliche Diskriminierung unterlassen wird, nimmt das Konzept der fairen C.-Gleichheit darüber hinaus auch vielfältige soziale Ursachen von Benachteiligung in den Blick; so können etwa hohe Studiengebühren einen Verstoß gegen faire C.-Gleichheit darstellen. Rein formale C.-Gleichheit ist zwar das epistemisch und praktisch einfachere Konzept, insofern sich klar erkennen lässt, ob ein Verstoß vorliegt, und seine Umsetzung mit der Etablierung des Rechtsstaats zusammenfällt. Dennoch genügt formale C.-Gleichheit nicht. In einer solchen Perspektive würden nämlich bestehende und in moralischer Hinsicht zufällige Ungleichheiten in den Ausgangsbedingungen nicht weiter problematisiert und insofern legitimiert.
J. Rawls begrenzt den Anwendungsbereich von C.-Gleichheit auf berufliche Karrierechancen im weiteren Sinn. C.-Gleichheit gilt als moralisch erforderliche Voraussetzung für die Anwendung des Leistungsprinzips (Leistung) in liberalen Gesellschaften. In dieser Hinsicht verlangt faire C.-Gleichheit, dass allzu starke Vermögenskonzentrationen verhindert werden und dass alle die gleichen Bildungschancen haben. Dadurch sollen Klassen- oder Schichtschranken aufgehoben werden. Faire C.-Gleichheit darf dabei jedoch nicht zugunsten größerer wirtschaftlicher Zugewinne für einige oder für die Gesamtheit eingeschränkt werden. Die Ausweitung von J. Rawls’ Ansatz fairer C.-Gleichheit auf gesellschaftliche Teilhabe (Partizipation) überhaupt ist umstritten.
2. Anwendungsbereich Sozialstaat
C.-Gleichheit ist ein wesentliches Konzept in der gegenwärtigen Gesellschaftspolitik und v. a. eine Zentralidee in der Aus- und Umgestaltung des Sozialstaats. Ihr Ziel besteht darin, soziale Ungleichheiten, die den Zugang zu gesellschaftlich erstrebenswerten Gütern erschweren und dadurch Lebenslagen verschlechtern, aufzubrechen und so eine Lebens-C.-Gleichheit sicherzustellen.
2.1 Bildung
Ein wesentliches Anwendungsfeld ist der Bereich Erziehung und Bildung, wobei die Diskussion um C.-Gleichheit nicht mit der Diskussion um die Qualität im Bildungssystem gleichzusetzen ist. Ungeachtet der Bildungsexpansion seit den 1970er Jahren bestehen beträchtliche Ungleichheiten, die das Bürger- bzw. Menschenrecht auf Bildung prekär werden lassen, insb. wenn soziale Faktoren übersehen und Leistungsunterschiede somit ausschließlich auf die Begabung zurückgeführt und also naturalisiert werden. Als Gegenmaßnahmen sollen durch vorschulische Angebote bei allen Kindern zu Schulbeginn möglichst gleich gute Voraussetzungen im Sinne substanzieller C.-Gleichheit geschaffen werden. Diesbezüglich wird bes. die Bedeutung frühkindlicher Förderung in Kindertagesstätten (Kindertagesstätte) für Kinder aus bildungsfernen und sozial schwachen sowie aus Migrationsfamilien hervorgehoben. Ferner wird mit dem Ziel der C.-Gleichheit die Inklusion von Kindern mit Behinderungen in die Regelschule begründet.
Formale Gleichbehandlung im Sinne prozeduraler C.-Gleichheit ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit in der Schule, zumal nur unter dieser Bedingung die für die Übernahme weiterer gesellschaftlicher Positionen erforderliche Selektionsfunktion pragmatisch und moralisch adäquat erfüllt werden kann. Die erheblichen Schwierigkeiten in der Umsetzung zeigen sich v. a. an dem Streit darüber, wie hoch die horizontale und vertikale Durchlässigkeit sein soll, d. h. wie früh und in welcher institutionellen Weise Schüler nach Leistungsgruppen eingeteilt werden und also Wechsel zwischen Schularten und -stufen erfolgen sollen, an den Debatten über Ganztagsschulen sowie an der Zunahme sowohl an individuellen Fördermaßnahmen wie Nachhilfe als auch an stressbedingten Störungen wie ADHS.
2.2 Quotensysteme und positive Diskriminierung
Unter Verweis auf C.-Gleichheit werden vielfach für Personengruppen, denen sachlich nicht begründete Hindernisse das Erreichen wertgeschätzter gesellschaftlicher Positionen strukturell erschweren, geeignete Fördermaßnahmen oder auch Quoten verlangt, um die Beeinträchtigung des Erfolgs durch die soziale Gruppenzugehörigkeit zu unterbinden. Derartige Maßnahmen können vergangenheitsorientiert darauf abzielen, erlittenes Unrecht auszugleichen, oder in einem zukunftsorientierten Begründungsansatz darauf hinsteuern, die Gesellschaft gerechter zu gestalten. Akte der positiven Diskriminierung, z. T. auch als affirmative action bezeichnet, haben lediglich eine instrumentelle Funktion und sind somit mit Blick auf ihre faktischen Wirkungen zu beurteilen. Da C.-Gleichheit nur ein nachgeordnetes Prinzip ist, sind die Verletzung von Freiheits- und Gerechtigkeitsansprüchen sowie die Gefahr des Paternalismus zu vermeiden, insb. bei diachron ansetzenden, d. h. Alterskohorten übergreifenden Egalisierungsmaßnahmen.
Bes. schwer in den Blick wie in den Griff zu bekommen sind sekundäre Diskriminierungen, d. h. Verteilungsverfahren, die als solche niemanden direkt benachteiligen, aber bereits bestehende gesellschaftliche Chancenungleichheiten verstärken. So führt z. B. die Anforderung einer ununterbrochenen Berufslaufbahn zu einer indirekten Benachteiligung von Eltern und v. a. Müttern bei Bewerbungsverfahren.
2.3 Sozialpolitik
In der Praxis wie in der Rhetorik der Sozialpolitik lässt sich spätestens seit den 1990er Jahren in Deutschland wie in der gesamten EU ein Wandel beobachten. Das Ziel des sozialen Ausgleichs rückt gegenüber dem Zielkomplex von Vorsorge, Befähigung und Teilhabe in den Hintergrund. Normativer Leitmaßstab ist dementsprechend weniger die Verteilungs- und mehr die C.-Gerechtigkeit. Ähnlich wie beim Leistungsprinzip (Leistung) ist die zunehmende Fokussierung auf Eigenverantwortung nur dann moralisch legitimierbar, wenn jeder über ausreichend Chancen verfügt, diesem Anspruch auch gerecht zu werden. Daher wird Sozialpolitik auf die Erwerbsarbeit zentriert, und an diesem Ziel orientiert sich dann entspr. die aktivierende Sozialpolitik, die Menschen befähigen und mit Chancen versehen will. In Entsprechung zu dieser Neuausrichtung wachsen etwa unter dem Stichwort „Fördern und Fordern“ die Mitwirkungspflichten des Einzelnen.
Literatur
I. Wallimann-Helmer: Chancengleichheit im Liberalismus, 2013 • Bertelsmann Stiftung/Institut für Schulentwicklungsforschung (Hg.): Chancenspiegel. Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme, 2012 • A. Kunze: Freiheit im Denken und Handeln, 2012 • K.-H. Krüger u. a. (Hg.): Bildungsungleichheit revisited, 2011 • W. Kersting: Die Bedeutung der Gerechtigkeit, 2010 • S. Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen, 2008 • M. Heimbach-Steins/G. Kruip/A. Kunze (Hg.): Das Menschenrecht auf Bildung und seine Umsetzung in Deutschland, 2007 • R. Kreckel: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, 2004 • W. Kersting: Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 2000 • B. Rössler: Quotierung und Gerechtigkeit, 1993 • B. Gräfrath: Wie gerecht ist die Frauenquote, 1992 • J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975 • P. Bourdieu/J.-C. Passeron: Die Illusion der Chancengleichheit, 1971 • R. Dahrendorf: Bildung ist Bürgerrecht, 1966.
Empfohlene Zitierweise
J. Ostheimer: Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit, I. Sozialethisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Chancengerechtigkeit,_Chancengleichheit (abgerufen: 02.11.2024)
II. Soziologisch
Abschnitt drucken1. Als Konzeptionen von Gerechtigkeit
Soziologische Analysen beziehen sich nicht auf die normative Geltung, sondern auf die empirische Relevanz von Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit und auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen von deren Plausibilität. Während sich die Kriterien der Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit auf Verteilungsergebnisse richten, fragen C.-Gerechtigkeit/C.-Gleichheit nach den Möglichkeiten des Zugangs zu Verteilungsprozessen. Eine vollkommene C.-Gleichheit ist aufgrund immer verbleibender Unterschiede der individuellen Voraussetzungen, z. B. Motivationen und Begabungen, in der Realität nicht herstellbar. Daher beschränkt sich der Anspruch zumeist auf C.-Gerechtigkeit: Aufgabe des Wohlfahrtsstaates ist demnach, die Bürger angesichts vorgefundener systematischer Benachteiligungen in Richtung einer relativen Verbesserung der Ausgangspositionen zu unterstützen.
Die Konzeption der C.-Gerechtigkeit etablierte sich in der Nachkriegszeit zunächst in bildungspolitischen Diskursen (Bildungspolitik), die auf schicht- und geschlechtsspezifische Benachteiligungen reagierten (Geschlechtergerechtigkeit). Daneben sahen liberale Positionen ökonomische Ungleichheit traditionell gerechtfertigt durch Leistungsdifferenzen bei gleichen Zugangschancen zum Markt. Seit den 1990er Jahren formierte sich in den Diskursen zur Reform des Wohlfahrtsstaates ein neues Paradigma der „Teilhabegerechtigkeit“ (Leisering 2004: 54). Danach sind – ausgehend von dem Postulat der Gleichheit aller Menschen – vorgefundene Benachteiligungen zu kompensieren, um die Teilhabe (Partizipation) an den vielgestaltigen Formen des ökonomischen, kulturellen und sozialen Lebens zu ermöglichen. Indem Teilhabegerechtigkeit auf die Verbesserung individueller Zugangschancen zielt, kann sie auch als Neuformulierung einer – nunmehr multidimensional verstandenen – C.-Gerechtigkeit gelten. Diese Konzeption ist anwendbar auf die Überwindung von sozialen Nachteilen z. B. aufgrund von Alter, Behinderung, ethnischer Herkunft, familiärer Lebensform oder Geschlecht, insofern diese den Zugang z. B. zu Bildung, Erwerbsarbeit, gesundheitlicher Versorgung, Kultur und anderen Lebensbereichen einschränken. Auch Generationengerechtigkeit, bezogen insb. auf die Chancen jüngerer Geburtskohorten zur Teilhabe am Sozialprodukt angesichts einer zunehmenden Zahl von Leistungsempfängern der Sozialversicherungen (Sozialversicherung), gilt als Form der C.-Gerechtigkeit.
2. Plausibilitätsvoraussetzungen
Basale Voraussetzungen ihrer Plausibilität findet C.-Gerechtigkeit in der Sozialstruktur: In funktional differenzierten Gesellschaften (Gesellschaft) wird der Zugang zu sozialen Teilsystemen (wie Erziehung, Gesundheit, Politik, Recht, Wirtschaft) durch Kriterien dieser Systeme selbst geregelt. Ungleichheiten der Inklusion in die jeweiligen Leistungszusammenhänge werden als ungerecht verstanden, sofern die Schlechterstellung nicht auf systemspezifische Selektionen zurückgeführt werden kann, z. B. wenn die Schulaufnahme an einer Behinderung scheitert. Davon ausgehend betont C.-Gerechtigkeit die Gewährleistung der Zugangschancen, während deren Realisierung individuellen Präferenzen und Fähigkeiten zugeschrieben wird.
Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit sind politisch umstritten, da sie jeweils der Rechtfertigung sozialpolitischer Interventionen (Sozialpolitik) dienen und dabei mit unterschiedlichen Interessenlagen korrespondieren. Im Rahmen normativer Diskurse zielen sie insb. auf die Unterstützung oder Vermeidung wohlfahrtsstaatlicher Umbauten (Wohlfahrtsstaat). Neben ihrer begrifflichen Unschärfe, die aus den vielgestaltigen Anwendungsmöglichkeiten resultiert, wird C.-Gerechtigkeit aufgrund ihrer Nähe zu Ansätzen sozialpolitischer Aktivierung kritisiert, welche die Bewältigung sozialer Probleme v. a. über Verantwortungszuschreibungen an die betroffenen Individuen anstreben.
3. Empirie und sozialtheoretische Diskussion
Empirische Analysen, wie weit C.-Gerechtigkeit/C.-Gleichheit realisiert sind, beziehen sich weiterhin primär auf die Tradierung sozialer Ungleichheit im Rahmen intergenerationeller Mobilität. Bzgl. der Bildung zeigt sich eine hohe, im Bereich höherer Bildung sogar zunehmende Abhängigkeit biographischer Chancen von der sozialen Herkunft (insb. von Bildungsabschlüssen der Eltern sowie deren finanziellen Ressourcen). Die ererbte Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital trägt zur Reproduktion sozialer Ungleichheit gerade über das Bildungssystem bei, was durch die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) nur verdeckt wird. Dem seit der Bildungsexpansion zunehmenden Anteil von Schul-/Hochschulabsolventen, deren Eltern jeweils über einen niedrigeren Abschluss verfügen, steht die relative Entwertung ihrer Abschlüsse gegenüber. Die Statusreproduktion verlagert sich z. B. auf bestimmte Schulen sowie Fachbereiche und wird neben familiärer Unterstützung z. B. über Auslandsaufenthalte, Praktika und Netzwerke ermöglicht. Nach wie vor wirkt sich die soziale Herkunft auf die berufliche Position aus, obschon dieser Einfluss zumindest für Männer in Westdeutschland seit den 1950er Jahren kontinuierlich zurückging.
Über die Nachkriegszeit hinweg verbesserten sich die Lebensbedingungen in allen Bevölkerungsgruppen nachhaltig, woraus verbesserte Chancen der Teilhabe resultierten (erkennbar z. B. im Blick auf Größe und Qualität der Wohnungen, Verfügbarkeit von Konsumgütern, Gesundheit und Lebenserwartung). Seit den 1990er Jahren werden jedoch für wachsende Gruppen Phänomene der Exklusion diagnostiziert. Faktoren wie fehlende Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit, Migrationserfahrung und unzureichende Sprachkenntnisse, alleinerziehende Elternschaft oder chronische Krankheiten können zum Ausgangspunkt von Exklusionskarrieren werden, die für die jeweiligen Individuen sowie für bes. betroffene Stadtteile oder Regionen C.-Gerechtigkeit einschränken.
Literatur
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Empfohlene Zitierweise
M. Breuer: Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit, II. Soziologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Chancengerechtigkeit,_Chancengleichheit (abgerufen: 02.11.2024)