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Version vom 16. Dezember 2022, 06:07 Uhr
1. Zur Entwicklung und Internationalisierung des Begriffs des Feminismus
Der Begriff des F. ist heute weltweit verbreitet; zugleich ist er historisch und kulturell variabel. Um diese soziokulturelle Kontextualisierung und Vielfalt des F. auszudrücken, wird im Folgenden auch von Feminismen (F.en) gesprochen. F. wird definiert als eine Gesellschaftstheorie und zugleich als Bewegung für gesellschaftlichen Wandel, die die Geschlechterverhältnisse sowie Ungleichheit und Herrschaft grundlegend hinterfragt, dabei das Geschlecht als zentrale Kategorie für Analyse und Kritik verwendet und davon ausgehend soziale Freiheit und Gleichheit sowie persönliche Selbstbestimmung (auch über den eigenen Körper und Sexualität) fordert.
F.en weisen abhängig von ihrem soziokulturellen Kontext unterschiedliche Bedeutungen und Verortungen auf. International vergleichbare Inhalte werden mit verschiedenen eigenen Begrifflichkeiten ausgedrückt. So wird F. oft zur internationalen Kennzeichnung für einheimische Richtungen der Frauenbewegungen angewandt, die persönliche Autonomie und strukturelle Veränderungen anstreben. Diese haben meist unterschiedliche Selbstbezeichnungen in der eigenen Sprache entwickelt, um ihre nationale und lokale Verortung und Verwurzelung auszudrücken. Diese diskursiven Verbindungen und Aushandlungen sind wichtig, um die vielfältigen nationalen und lokalen F.en zu verstehen.
Der Begriff F. wurde in der französischen Frauenbewegung um 1880 geprägt und nach dem ersten, sich selbst so bezeichnenden feministischen Kongress in Paris (1892) in Frankreich üblich. Daraufhin wurde er auch in England, Belgien, Deutschland, Griechenland, Italien, Spanien, Russland und außerhalb Europas in Argentinien und den USA benutzt. Historisch trat er neben den vorwiegend gebrauchten Begriff der Frauenbewegung: Darunter werden kollektive mobilisierende Akteure verstanden, die sich für soziale Veränderungen für Frauen entspr. ihrer Werte und Ziele einsetzen. Dieser empirische, nicht normative Begriff fokussiert mobilisierende Diskurse und Praktiken v. a. von Frauen (mit möglicher, kulturell variierender Beteiligung von Männern), die für ein breites Spektrum säkularer und religiöser Ziele stehen können. Er ist weiter gefasst als der des F., der Kritik der Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse und persönliche Selbstbestimmung verbindet. Zu unterscheiden ist F. auch von dem Begriff der Emanzipation, der das Erreichen formaler persönlicher Autonomie kennzeichnet, ohne damit von vornherein strukturelle Veränderungen zu verbinden.
Als Leitbegriff und Selbstbezeichnung setzte sich der F. mit dem Neuaufbruch der Frauenbewegungen im Zusammenhang der internationalen Jugend- und Studentenbewegungen ab Mitte der 1960er Jahre und infolge der UNO Prozesse zur Gleichstellung der Frau ab 1975 weithin durch. Das Verständnis des F. wandelt sich gegenwärtig, da sich das gesellschaftliche und wissenschaftliche Wissen über seine zentrale Kategorie, die des Geschlechts, verändert.
Seit ihrer Herausbildung werden F.en von geschlechtskonservativen wie auch von antifeministischen Kreisen kritisiert. Der Anti-F. um 1900 ging von der Überlegenheit des Mannes in der Gesellschaftsordnung aus und konnte sich auf Massenverbände stützen. Der heutige Anti-F. besteht aus kleinen Kreisen mit mächtigen Verbündeten in nationalistischen Parteien und Medien. Er mobilisiert v. a. im Internet mit der kontrafaktischen Beschwörung einer Frauenherrschaft und einer durchgehenden männlichen Diskriminierung. So bezieht er sich letztlich auf männlich vereinseitigte Gleichheitsdiskurse, tritt aber teils aggressiv mit Hassparolen und Bedrohungen auf. Im Osten und im Süden greifen nationalistische und fundamentalistische autoritäre Gruppen einheimische F.en als „westlich“ oder „dekadent“ an und nutzen so antiwestliche Ressentiments, um deren Einsatz für Gleichheit und Demokratisierung vor Ort abzuwehren und zu delegitimieren.
2. Zur historischen Entwicklung des Feminismus in der Moderne
Die grundlegenden Ideen des F. wurden in der Aufklärung und der Französischen Revolution formuliert: Gleiche demokratische und soziale Teilhabe (Bildung, Beruf, Politik) und persönliche Autonomie, verbunden mit Liebe und Solidarität. Gleiche politische Rechte für alle Menschen hatten der liberale Philosoph Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet und die Schriftstellerin Olympe de Gouges gefordert, letztere in ihrer berühmten „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (1791). Mary Wollstonecraft hatte in ihrer Schrift „Die Verteidigung der Frauenrechte“ (1792) Bildung und geistige Selbständigkeit für Frauen verlangt. Diese feministische Bewusstwerdung führte die frühmodernen Debatten über Frauenrechte und Gleichheit wie der Querelles des Femmes ab dem 16. Jh. weiter und sie wurde in ganz Europa rezipiert und vorangetrieben. Die frühen Feministinnen kritisierten die modernen Normen der Geschlechterungleichheit wie auch den Neopatriarchalismus der bürgerlichen politischen Philosophie, nach dem Männer zu Bürgern (Bürger, Bürgertum) und wirtschaftlichen Akteuren bestimmt wurden, während Frauen im privaten Haushalt verortet und der Autorität ihrer Männer unterstellt waren. Ehefrauen wurden in Deutschland, England, Frankreich, Japan und den USA rechtlich auf die Hausarbeit festgelegt und dem Ehemann/Haushaltsvorstand untergeordnet, der über ihr Vermögen und ihre Erwerbstätigkeit bestimmen konnte. Vom Wahlrecht und politischer Beteiligung (Partizipation) waren Frauen qua Geschlecht fast weltweit bis in das frühe oder mittlere 20. Jh. ausgeschlossen.
Die Frauenbewegung war von Anfang an keine einheitliche Bewegung, sondern differenzierte sich in unterschiedliche weltanschauliche Strömungen aus. An den bürgerlichen demokratischen Revolutionswellen um 1830 in Frankreich und 1848 in Mitteleuropa beteiligten sich liberale und sozialistische Frauen. Mitte des 19. Jh. bildeten sich dann liberale gleichheitsorientierte Frauenverbände wie der ADF heraus, die höhere Bildung und Arbeitsrechte für Frauen forderten. Ferner formierte sich die sozialistische Frauenbewegung um Gewerkschaften und sozialistische Parteien (die SPD in Deutschland). In den USA hatten Frauen u. a. aus der Antisklavereibewegung 1848 in Seneca Falls das Frauenwahlrecht gefordert und dann Wahlrechtsvereine gegründet. Diese Gruppen verlangten aus liberaler oder sozialistischer Sicht gleiche Bildung, öffentliche Teilhabe und v. a. in England, Frankreich und den USA politische Rechte. Sie verbreiteten feministische Ansätze in der sich herausbildenden nationalen wie auch der internationalen Öffentlichkeit, so dass die „Frauenfrage“ als grundlegend relevant für den Stand der gesellschaftlichen Entwicklung angesehen wurde.
Alle Richtungen der Frauenbewegungen gingen von einem sozialen Unterschied von Frauen und Männern („Differenz“) aus, verbanden dies aber mit unterschiedlichen Gesellschaftskonzepten. Die liberalen Strömungen forderten nach dem Motto „Die Menschenrechte haben kein Geschlecht“ gleiche Rechte in Politik, Wirtschaft und Familie und vertraten so „Gleichheit in der Differenz“. Sie setzten sich auch für andere untergeordnete Gruppen wie Arbeiter (Arbeitnehmer) und Sklaven (Sklaverei) ein. Die gemäßigte deutsche bürgerliche Frauenbewegung betonte demgegenüber die Geschlechterdifferenz, die sie i. S. v. geistiger oder organisierter Mütterlichkeit als kulturelle Mission der Frauen in modernen Männerstaat auslegte, so dass man von „Differenz als Grundlage der Teilhabe“ oder von Maternalismus sprechen kann. Die radikalen bürgerlichen Flügel gingen von einem grundlegenden Geschlechtergegensatz und männlicher Gewaltherrschaft im Patriarchat aus. Sie verlangten deswegen radikale gesellschaftliche Veränderungen wie das Frauenwahlrecht, Gleichheit in der Ehe, die Abschaffung der bürgerlichen Doppelmoral und der staatlich reglementierten Prostitution („Geschlechterdifferenz und Strukturreform“). Ferner standen sie für Pazifismus und internationale Verständigung und beteiligten sich an der Gründung des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg. Der sozialistische F. schließlich verband Gleichheits- mit Differenzperspektiven, indem er Frauen als Lohnarbeiterinnen und zugleich als Mütter sah. Er wollte Gleichheit durch den Einbezug von Frauen in die Lohnarbeit als Grundlage ihrer Autonomie und Vergemeinschaftung der Hausarbeit und Kinderversorgung erreichen. Er führte die Frauenunterdrückung auf die Gleichursprünglichkeit von Klassenherrschaft und Patriarchat zurück und nahm an, dass sie durch die sozialistische Revolution und Abschaffung des Kapitalismus aufgehoben werde („Geschlechterdifferenz und Systemrevolution“). Allerdings waren die späteren sozialistischen Staaten in Osteuropa eher als Staatspatriarchat zu kennzeichnen, da auch sie eine ungleiche Arbeitsteilung zwischen Familie und Lohnarbeit und eine Marginalisierung der Frau in der Politik aufwiesen. Der anarchistische F. vertrat die freie Selbstorganisation der Gesellschaft wie auch freie Liebe und Elternschaft und betonte die subjektive Autonomie und Bildung in freien Gemeinschaften.
Durch die internationale Organisierung der Frauenbewegungen wurde ihre Internationalisierung und nationale Verankerung zugleich vorangetrieben. 1888 gründete sich der ICW auf einer internationalen Konferenz, dem Mitgliedsverbände aus Europa, Nordamerika, Australien (1899), Neuseeland (1900), Südafrika (1913), Indien (1925) und aus Lateinamerika (1900–1927) angehörten. Da die Mitgliedschaft im ICW nur nationalen Dachverbänden möglich war, löste dieser internationale Dachverband zugleich Impulse zur Organisation auf nationaler Ebene aus. Aus diesem Anlass schlossen sich etwa in Deutschland unterschiedliche Frauenverbände 1894 zum BDF zusammen mit dem Ziel der „Förderung des weiblichen Geschlechtes in wirtschaftlicher, rechtlicher und geistiger Hinsicht“ und der „Hebung des Allgemeinwohls“.
Weitere wichtige internationale Dachverbände bildeten die IWSA (1904) mit Mitgliedern auch in Lateinamerika, dem Nahen Osten, Ostasien und Südafrika und die WILPF (1915) als internationale Frauenfriedensorganisation während des Ersten Weltkriegs, die sich für den Völkerbund, Frieden und Entkolonialisierung einsetzte. Die sozialistischen Frauen- und Arbeiterinnenbewegungen bildeten ebenfalls eigene Weltbünde im Kontext der jeweiligen gewerkschaftlichen oder linken internationalen Dachverbände heraus.
In den antikolonialen Bewegungen formierten sich seit 1900, verstärkt aber seit den 1950er Jahren wichtige Frauenorganisationen, die Frauenrechte wie das Wahlrecht, Gleichheit in Bildung, Beruf und Familie und nationale Unabhängigkeit forderten. Nach der Unabhängigkeit konnten sie trotz verbreiteter Rückschläge meist grundlegende soziale und politische Teilhabe für Frauen erreichen und sie setzten sich in der UNO für Frauen- und Menschenrechte ein.
Diese Entwicklungen wurden unterstützt durch unabhängige Autorinnen, die das feministische Denken wissenschaftlich weiterführten. In ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ (1949) begründete die existentialistische Philosophin Simone de Beauvoir die Abhängigkeit und Unterordnung der Frau damit, dass diese kulturell als die Andere zum freien männlichen Subjekt bestimmt und verankert wurde und sie diese Definition selbst übernimmt. Ihr berühmter Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ wies auf die sozial gewordene (nicht biologisch festgelegte) Existenz der Frau hin. Die US-Ethnologin Margaret Mead konnte die kulturelle Gestaltung von Geschlecht belegen, indem sie die Vielfalt von Geschlechterrollen in verschiedenen Kulturen, auch der eigenen, beschrieb. Verschiedene Autorinnen wie die Ärztin Nawal al Sadaawi in Ägypten, die Soziologin Heleieth Saffioti in Brasilien und die freie Historikerin Takamure Itsue in Japan haben Grundlagenwerke zu der Unterdrückung der Frau und zum Patriarchat im globalen und regionalen Kontext verfasst.
3. Die feministischen Neuaufbrüche ab 1965
In den weltweiten Jugend-, Studenten- und Antikriegsbewegungen ab etwa 1965 formierten sich feministische Gruppen, die viele Frauen in Beruf, Studium und Familie ansprachen und in der Folge Einfluss in Politik, Parteien und Verbänden erreichten. Unter dem Leitwort „Das Private ist politisch!“ lehnten sie die Beschränkung der „Frauenpolitik“ auf den öffentlichen Bereich ab und forderten gleiche Arbeitsteilung in Familie und Betrieb (also gleiche berufliche Chancen für Frauen und gleiche Teilhabe von Männern in der häuslichen Versorgungsarbeit), sexuelle Selbstbestimmung und die Abschaffung der Gewalt gegen Frauen. In Abkehr von den hierarchischen Strukturen der etablierten Frauenverbände betonten sie weltweit subjektorientierte und radikaldemokratische Weisen der Bewusstwerdung und Organisierung.
In Deutschland durchliefen die Neuen Frauenbewegungen drei Entwicklungsphasen. In der Bewusstwerdungs- und Artikulationsphase (1968–1976) arbeiteten engagierte Frauen ihre persönlichen Erfahrungen als Grundlage für politische Analysen auf (Selbsterfahrung) und organisierten sich in basisdemokratischen Gruppen sowohl in der BRD wie auch in kleinen Zirkeln in der DDR, v. a. Ostberlin. Inmitten der damaligen Rhetorik gesellschaftlicher Liberalisierung und sexueller Befreiung entwickelten sie eine radikale Kritik der herrschenden Weiblichkeits- und Sexualnormen und der Geschlechterungleichheit im Rahmen anderer Ungleichheiten wie Klasse oder „Rasse“.
In der folgenden Phase der Pluralisierung und institutionellen Integration von etwa 1976 bis 1989 verbreiteten sich die Frauenbewegungen in Arbeiter- und Mittelschichtmilieus. Die Lesbenbewegung formierte sich wie auch die Mütterbewegung und die feministischen Ökologie- und Friedensbewegungen. Letztere vernetzten sich mit Frauengruppen in der DDR, in Osteuropa und dem Süden. Die Rezeption des Schwarzen F. aus den USA und die Organisierung afrodeutscher Feministinnen verstärkten diese Ansätze der Differenzen und Pluralisierung in der Frauenbewegung. Die Frauenbewegung hatte sich seit 1970 in verschiedenen Klassen und ethnischen Gruppen formiert und beschränkte sich nicht länger auf „weiße Mittelschichtfrauen“.
Zugleich engagierten sich Frauen aus Parteien, Verbänden und Gewerkschaften und die ersten Gleichstellungsbeauftragten in der Neuen Frauenbewegung. So bildete sich ein „samtenes Viereck“ zwischen autonomen Gruppen, Frauen in Verbänden, Politikerinnen und Frauenforschung heraus. Sie kooperierten von ihren unterschiedlichen Positionen her und konnten so den Bewusstseinswandel verstärken und einen generellen institutionellen Wandel einleiten.
Die damalig dominierenden feministischen Ansätze lassen sich nach ihrer Vorstellung von Geschlechterdifferenz und -gleichheit in Verbindung mit ihren Gesellschaftskonzepten unterscheiden, die jeweils an dem Vorrang von „Kapitalismus“ oder „Patriarchat“ ansetzten. Dabei wurden Geschlechtergleichheit und -differenz unterschiedlich interpretiert. Der sozialistische F. kritisierte den „patriarchalen Kapitalismus“ und seine doppelte Unterdrückung der Frau in Beruf und Hausarbeit und forderte Gleichheit im Beruf, Anerkennung der Versorgungsarbeit (Care) und ein auch erotisch gleiches Verhältnis zwischen Frauen und Männern statt der ungleichen Versorger-/Hausfrauenehe. Der radikale Gleichheits-F. kritisierte die Ideologie der Geschlechterdifferenz, den „kleinen Unterschied“, als Legitimation sozialer Ungleichheit. Die Mütter-, Friedens- und Ökologiebewegungen gingen eher von der sozialen Differenz von Frauen und Müttern aus, die eine friedliche und nachhaltige Gesellschaft begründen könne. Der radikale und der lesbische F. sah das Patriarchat als Ursache der Frauenunterdrückung und forderte die Anerkennung der weiblichen Differenz und separate Organisierung.
In der folgenden Phase der Internationalisierung, Vereinigung und Neuorientierung (1989–2000) musste sich die westdeutsche Frauenbewegung, die sich bisher an einem nationalstaatlichen Rahmen orientiert hatte, rasch zum Osten und zur Globalisierung hin öffnen. Zugleich konnte sich nun die Frauenbewegung in Ostdeutschland frei formieren u. a. in dem „Unabhängigen Frauenverband“. Sie wehrte sich gegen Vereinnahmungen durch westliche Gruppen und entwarf eine umfassende Theorie und Programmatik. Die Bewegungen in Ost- und Westdeutschland kooperierten im Protest gegen die Massenarbeitslosigkeit von Frauen, den Abbau von Kindergärten und das neue Verbot der Abtreibung (Schwangerschaftsabbruch) in Ostdeutschland, sowie in der Forderung für die Aufnahme der Gleichheit als Staatsziel (Staatszielbestimmungen) in die Verfassung 1994.
4. Feminismen und neue Geschlechteransätze in der Globalisierung
Ab 1990 hat sich die Vorstellung der sozialen Konstruktion des Geschlechts weltweit verbreitet. Dabei waren der Einfluss der Geschlechterforschung, wie auch die globalen Frauenbewegungen und die internationalen und nationalen Gleichheitspolitiken verantwortlich. Geschlecht wird seither sowohl als Differenz- und Klassifizierungskategorie für alle Menschen wie auch als Ungleichheitskategorie aufgefasst, die gesellschaftliche Strukturen und Prozesse grundlegend prägt. Einbezogen werden verschiedene Formen von Männlichkeiten, von der hegemonialen Männlichkeit bis zu den untergeordneten Formen etwa von Arbeitern, Migranten oder Homosexuellen (Homosexualität). Der Ansatz der Intersektionalität führt die Ungleichheiten nach Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Begehren in der Analyse wechselwirkender Ungleichheiten und ihrer Ursachen zusammen. Dieser verbindet sich oftmals mit Konzepten von sexueller Vielfalt, die Anerkennung und Gleichheit für Homosexuelle, Transgender Personen und Inter*Personen fordern. Neue F.en schließen international an diese sozialkonstruktivistischen Geschlechterkonzepte (Konstruktivismus) an und fordern gleiche Teilhabe und individuelle Selbstbestimmung unabhängig vom Geschlecht.
Auch von der UNO wurde der Ansatz des sozialen Geschlechts (Gender) anerkannt und übernommen. Auf den vier UN-Weltfrauenkonferenzen von 1975 (Mexiko) bis 1995 (Beijing) beteiligten sich Frauenbewegungen aus allen Regionen. Drei wichtige Ergebnisse sind festzuhalten: Das erste Ergebnis besteht in der Entwicklung von globalen Frauennetzwerken und einer gemeinsamen Sprache und Semantik, in der die internationalen und interkulturellen Differenzen und Machtverhältnisse ausgetragen und bearbeitet werden konnten. Der Genderbegriff und der Frauen- und Menschenrechtsdiskurs ermöglichten es, den Eurozentrismus zu überwinden und globale Ziele und Normen zu Gleichheit in Arbeit, Bildung und Politik sowie zur Gewaltfreiheit im persönlichen und öffentlichen Bereich aufzustellen. Das zweite Ergebnis waren internationale Abkommen zur Geschlechtergleichheit, v. a. die CEDAW von 1979, die Weltaktionsplattform der Vierten Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 und die Resolution des Sicherheitsrates 1325 für eine geschlechtergerechte Sicherheitspolitik. CEDAW verankert Gleichheit in der politischen Beteiligung, in Bildung, Beruf und in der Familie und hat internationale und nationale Rechtskraft bei allen ratifizierenden Staaten. Die Weltaktionsplattform enthält Ziele und detaillierte Schritte in zwölf wesentlichen Feldern u. a. zu Gleichheit in Bildung, Wirtschaft, bezahlter und unbezahlter Arbeit und in der Politik. Gewalt gegen Frauen wurde in ihren verschiedenen Formen wie Vergewaltigung, sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten und Frauen- und Menschenhandel thematisiert und abgelehnt. Schließlich hielt die Weltaktionsplattform auch den Grundsatz des Gender Mainstreaming fest, also die Orientierung an Gleichheit im Handeln von Organisationen sowie die gleiche Beteiligung von Frauen und Männern in ihnen. Das dritte Ergebnis ist die Einrichtung von Abteilungen für Gleichstellung in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Organisationen, auf die sich die Regierungen nach 1975 weltweit verpflichteten. In Aushandlungen entlang des globalen Mehrebenensystems wurden diese Gleichheitsnormen national und lokal umgesetzt und auf globaler Ebene in der UNO und der EU, u. a. im Vertrag von Amsterdam 1999, bekräftigt.
Seit dem Jahr 2000 differenziert sich der F. weiter aus – auch als Ergebnis der weltweiten Vernetzung. Die unterschiedlichen Spielarten betonen zwar alle die Vielfalt von Gender und Sexualitäten wie auch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Männern – und werden deshalb in Europa und Nordamerika als third wave feminism bezeichnet –, sie unterscheiden sich aber v. a. in der Beschreibung der eigentlichen Problemursachen. Folgende Typen des „Neuen“ F. lassen sich identifizieren:
a) Der integrative oder liberale F. richtet sich auf Gleichstellung der Frau in den vorhandenen Institutionen. Problemursachen sind die Diskriminierung und Minderbewertung von Frauen trotz ihres gleichen Potentials.
b) Der soziale transformative F. fordert Gleichheit in Beruf und Sorgearbeit, soziale Gewaltfreiheit und Abschaffung vergeschlechtlichter Gewalt und soziale Gerechtigkeit. Die Problemursache sieht er in modernisierten ungleichen Genderbildern und -normen, männlich zentrierten Gewaltverhältnissen und dem flexibilisierten globalen Kapitalismus. Er vertritt globale Geschlechtergerechtigkeit und -demokratisierung u. a. durch Regulierung oder Umgestaltung des Kapitalismus und Gleichheitspolitiken.
c) Der ökologische F. fordert soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit durch eine Neuorientierung an natürlichen Kreisläufen und bisher ausgeschlossenen weiblichen Werten. Die Problemursache sieht er in der männerzentrierten modernen Wissenschaft und Naturbeherrschung und der Abwertung von Frauen, Kolonialisierten und Natur.
d) Der postkoloniale F. kritisiert die internationale Geschlechterungleichheit, die weiße Männer und weiße Frauen – in verschiedener Form – privilegiert, und die Abwertung und Exklusion der Kolonisierten und Subalternen verursacht. Die Problemursache liegt in den rassistischen (Rassismus) und sexistischen Diskursen und Praktiken von Kolonialismus und Neokolonialismus des „Westens“, die dieser ideologisch, aber auch militärisch aufrechterhalten will.
e) Der antirassistische und der Schwarze F. kritisieren die sexistische und rassistische Ausgrenzung von und Gewalt gegen schwarze Frauen und Männer in der Gesellschaft wie auch im „weißen Mittelschicht-F.“ und fordern gleiche soziale Rechte.
f) Der queere F. verlangt sexuelle Vielfalt und Anerkennung differenter Subjekte entlang des LGBTI-Spektrums. Die Problemursache sieht er in der Konstruktion von Geschlecht als Grunddifferenz, die unbewusst in der Sprache verankert sei, und der Heteronormativität, also der vorbewussten Privilegierung von Heterosexualität als natürlicher und allein legitimer Praxis. Er fokussiert symbolische Praktiken und Kämpfe der Anerkennung und Exklusion, wobei er sich an Judith Butler und Michel Foucault orientiert, während das Gesellschaftsbild diffus bleibt.
g) Religiöse (v. a. christliche und islamische) F.en kritisieren die Unterordnung der Frau in ihrer Religion und verlangen Anerkennung und Gleichheit für Frauen im Glauben, in der Kirche oder der Moschee, den Gemeinden und in der Gesellschaft.
F.en sind heute vielfältiger denn je und können weder auf die eigene Nation noch auf das „weibliche Geschlecht“ begrenzt werden. Insgesamt betrachtet verstehen sie sich inzwischen als globale und geschlechterübergreifende Bewegungen für Geschlechtergerechtigkeit – in ihrem jeweiligen soziokulturellen Kontext.
Literatur
L. Disch/M. Hawkesworth (Hg.): The Oxford Handbook of Feminist Theory, 2016 • I. Lenz: Equality, difference and participation. Women’s movements in global perspective, in: S. Berger/H. Nehring (Hg.): The History of Social Movements in Global Perspective, 2016, 449–483 • R. Baksh/W. Harcourt: The Oxford Handbook of Transnational Feminist Movements, 2015 • A. Wizorek: Weil ein #Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute, 2014 • F. Waylen: The Oxford Handbook of Gender and Politics, 2013 • M. Ferree: Varieties of feminism. German gender politics in global perspective, 2012 • I. Lenz: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland, 22010 • U. Gerhard: Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, 2009 • A. Schaser: Frauenbewegung in Deutschland, 2006 • L. Heywood: The women’s movement today. An encyclopedia of third-wave feminism, 2006 • K. Offen: European Feminisms 1700–1950, 2000.
Empfohlene Zitierweise
I. Lenz: Feminismus, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Feminismus (abgerufen: 21.11.2024)