Pfarrei
I. Historische Entwicklung und kirchenrechtliche Verortung
Abschnitt drucken1. Begriff
Der Begriff der P. wird im katholischen und orientalischen, aber auch anglikanischen kirchlichen Kontext verwendet. Die protestantische Reformation hat sich von dieser Tradition abgelöst und aus kirchenverfassungsrechtlichen Gründen stattdessen den Begriff der Kirchengemeinde bevorzugt. Während die P. nach Maßgabe des jeweiligen Rechts einem vom Ortsbischof ernannten Pfarrer zur Leitung anvertraut ist, liegen die wesentlichen Entscheidungen zur Leitung der Kirchengemeinde synodal bei den Presbyterien. Die Anfänge der P. liegen im 4. Jh. Christliche Nachbarschaften erfuhren sich damals als Gemeinschaften in der Fremde; der griechische Begriff paroikia bezeichnet das „Wohnen in einem fremden Land“. Die lateinische Tradition hat den Begriff übernommen und zum terminus technicus für die katholische Ortsgemeinde umgeformt. Zu dieser Zeit entwickelte sich auch der Begriff parochus (Pfarrer) für den Priester, der vom Bischof zur Gemeindeleitung bestimmt wurde. Im Deutschen bürgerten sich für diese örtlichen Christengemeinden (Gemeinde) mit regionalen Unterschieden die Begriffe Pfarre und Pfarrei ein.
2. Geschichte
Im Anschluss an das Mailänder Toleranzedikt (313) und verstärkt durch das Drei-Kaiser-Edikt (380), welches das Christentum zur Staatsreligion erhob, breiteten sich die Christengemeinden, die bis dahin hauptsächlich auf die Städte mit den Bischofssitzen konzentriert waren, in die ländliche Fläche aus. Während in der östlichen Tradition die Landkirchen mit den Chorbischöfen verbunden waren, vertrauten im Westen die Ortsbischöfe Priestern diese Landkirchen an, die im Laufe der Zeit immer präziser territorial und personell gefasst wurden. Handelte es sich in der ersten Zeit nur um sog.e Taufkirchen, in denen die sonntägliche Eucharistie noch nicht gefeiert, sondern nur als Kommunion ausgeteilt wurde, so trat neben das Taufrecht mit der Ernennung der Pfarrer auch das Recht für die Priester, dort eigenständig die sonntägliche Eucharistie zu feiern. Als weitere Rechte kamen das Begräbnisrecht und die Vermögensfähigkeit pfarreilicher Rechtsträger hinzu. Das mittelalterliche Eigenkirchenwesen förderte ab dem 8. Jh. die Ausbreitung der P., wenn auch in rechtlicher und tatsächlicher Abhängigkeit der Eigenkirchenherren. Mit Ablösung des Eigenkirchentums durch das Benefizialwesen (Pfründe) wurde die P. vermögensrechtlich segmentiert. Die Einführung des „Pfarrzwangs“ bzw. „Pfarrbanns“ im 12. und 13. Jh. brachte nicht nur die eindeutige Umschreibung von Territorium und zugehörigem Gottesvolk, sondern auch die Vorgabe, dass die Gläubigen die Sakramente erlaubt nur in ihrer Pfarrkirche empfangen durften. Probleme ergaben sich seit dem 13. Jh. aufgrund der Konkurrenz der pfarreilichen Seelsorge und jener der Bettelorden. Die Reformen des Trienter Konzils (1545–63) erstrebten eine Verbesserung der pfarreilichen Seelsorge. Daher erfolgten eine genaue territoriale Umschreibung sowie die Zuweisung der P. an einen Pfarrer als zuständigen Seelsorger. In der Zeit des aufgeklärten Absolutismus erfolgten immer wieder Eingriffe in die bischöfliche Kompetenz zur Errichtung, Veränderung und Aufhebung von P.en durch die weltlichen Mächte. Im Zeitalter des Staatskirchentums werden die Pfarrer zu staatlichen Beamten. Mit der Industrialisierung stand ab dem 19. Jh. der Pfarrzwang immer mehr in Frage, ebenso der Exklusivanspruch der pfarreilichen Seelsorge. Die Migration der Arbeiter aus dem Osten in die industriellen Zentren im Westen beendete den Status quo konfessioneller Regionen und führte zur ersten konfessionellen Durchmischung der Bevölkerung. Das brachte das Erfordernis der territorialen Neuorganisation der betreffenden Bistümer mit sich. Personale Seelsorge für Arbeiter, Handwerker, Kaufleute, Jugend etc. entstand im 19. und 20. Jh. und wuchs sehr stark. Bisweilen gelang die Integration in die pfarreiliche Ebene. Der Pfarrzwang mutierte zum Pfarrprinzip. Die konfessionellen Durchmischungen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg hoben die konfessionelle Einheit der Regionen endgültig auf. Eine weitere Welle der pfarreilichen Restrukturierung wurde wegen des Primats der territorialen Seelsorge erforderlich. Die fortschreitende Säkularisierung im letzten Drittel des 20. Jh. löste, wegen drastischer Reduktion der Gläubigen, eine dritte Welle der Restrukturierung mit dem Ziel der Fusion mehrerer P.en aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die P.en verstärkt gesellschaftliche Aufgaben übernommen. Sie wurden zu Betreibern von Bildungs- und Pflegeeinrichtungen mit nicht unerheblichem Personal. Neben die pastoralen Aufgaben traten nach dem durch Personalmangel unausweichlichen Rückzug der Orden aus diesen sozialen Aufgaben gesellschaftliche und wirtschaftliche, die den P.en einen unternehmerischen Verantwortungsbereich haben zuwachsen lassen, der im 21. Jh. der Neuorientierung und der Neuumschreibung von Verantwortung in der P. bedarf. Seelsorge und unternehmerisches Handeln sollten nicht dem Pfarrer allein aufgegeben werden. Pfarreiliche Verwaltungsleiter werden sukzessiv eingeführt.
3. Kirchenrechtliche Bestimmungen
Kirchenrechtlich ist die P. die unterste, territorial und personal verfasste pastorale Einheit in einer Teilkirche. Sie erhielt ihre definitive kirchenverfassungsrechtliche Umschreibung durch das Trienter Konzil (Conc.Trid. Sess. XXIV: 9, 13). Der CIC/1917 rezipierte diese Rechtslage unverändert. Der rechtliche Akzent lag auf dem Territorialprinzip. Personale Seelsorgeeinheiten waren nicht ausgeschlossen, blieben allerdings nachrangig. Personal-P.en bedurften eines bes.n apostolischen Indults. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und seiner Volk Gottes-Ekklesiologie erfolgte eine kirchenrechtliche Neudefinition der P., die in cann. 515, 518 CIC/1983 im Regelfall territorial als eine bestimmte Gemeinschaft von Gläubigen bezeichnet wird, deren Hirtensorge unter der Autorität des Diözesanbischofs einem Pfarrer als pastor proprius anvertraut wird. Neu ist, dass die P. gemäß can. 513 § 3 CIC Rechtspersönlichkeit besitzt und der Bischof zur Errichtung von Personal-P.en nicht mehr der apostolischen Genehmigung bedarf. Die pfarrliche Leitung kann auf dreierlei Weise erfolgen: gemäß cann. 515 § 1, 526 § 1 CIC durch den Pfarrer; in anderen Fällen gemäß cann. 517 § 1, 542–544 CIC durch ein Priesterteam unter Leitung eines Moderators und im Fall der Vakanz der P. gemäß can. 517 § 2 CIC im Wege der Teilhabe an der pfarreilichen Hirtengewalt durch Diakone und Laien unter der Leitung eines Priesters, der aber nicht Pfarrer der P. ist. Schließlich kann einem Pfarrer gemäß can. 526 § 1 CIC die Leitung mehrerer benachbarter P.en übertragen werden. Vor jeder Veränderung einer P. muss der Bischof gemäß can. 515 § 3 CIC den Priesterrat hören. In Deutschland sind zudem die partikularrechtlichen Normen über Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände/ Verwaltungsräte zu beachten, die in pastoralen und vermögensrechtlichen Fragen, vom CIC abweichend, Laien eine Mitbestimmung in pastoralen und verwaltungsrechtlichen Fragen einräumen.
Staatskirchenrechtlich besitzt die P. den Status einer K.d.ö.R.; d. h. bei jeder rechtlichen Veränderung sind die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen aus Vertrag und Gesetz zu beachten (Staatskirchenrecht).
Literatur
M. Böhnke/T. Schüller (Hg.): Gemeindeleitung durch Laien? Internationale Erfahrungen und Erkenntnisse, 2011 • R. Ahlers (Hg.): Hdb. der Pfarrverwaltung, 4. Erg.-Lfg., Stand: Dezember 2010 • B. Kämper/H.-W. Thönnes (Hg.): Kirche im Wandel, 2010 • M. Udeani/H. Eder/M. Heilmann (Hg.): Kirche bleiben im Nahbereich. Pfarrgemeindliche Leitungsmodelle mit Beteiligung Ehrenamtlicher, 2009 • H. Hallermann: Pfarrei und pfarrliche Seelsorge, 2004 • J. A. Coriden: The Parish in Catholic Tradition, 1997.
Empfohlene Zitierweise
M. Pulte: Pfarrei, I. Historische Entwicklung und kirchenrechtliche Verortung, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Pfarrei (abgerufen: 22.11.2024)
II. Soziologische Aspekte
Abschnitt drucken1. Pfarrei als Organisation und als Gemeinschaft
In der P. wirken zwei basale religiöse Sozialformen zusammen, die gleichermaßen darauf zielen, religiöse Kommunikation bzw. Handlungen zu ermöglichen und deren Weiterführung zu gewährleisten. Es handelt sich
a) um Organisationen: P.en stehen als (zumeist territorial zugeordnete) Teilorganisationen der Diözesen unter der Leitung eines Pfarrers. Dieser reguliert die „Verwaltung göttlicher Heilsgüter“ (Weber 2005: 592), wobei das erforderliche Charisma von der Person gelöst und stattdessen mit dem Amt gekoppelt ist. P.en sind i. d. R. nicht spezialisiert, sondern erfüllen nebeneinander identische Funktionen. Analog dem Staat mit seinen Gebietskörperschaften zielen sie auf die Durchsetzung der kirchlichen Ordnungen für alle ortsansässigen Mitglieder. P.en gelten
b) als Gemeinschaften, deren Mitglieder sich als zusammengehörig verstehen. Dafür sind personale Interaktionen konstitutiv, die ein Bewusstsein gemeinsamer Erfahrungen, geteilter Normen und Ziele sowie ein Gemeinschaftsgefühl ermöglichen. Der Zusammenschluss der Mitglieder „zu einem dauernden Gemeinschaftshandeln“, auf welches sie „irgendwie auch aktiv einwirken“, wird als „Gemeindereligiosität“ (Weber 2001: 199) bezeichnet.
Die beiden Sozialformen stehen zueinander in einem Spannungsverhältnis: Organisationen kommunizieren sachorientiert und entscheiden aufgrund formaler Kriterien (z. B. über den Zugang zu Sakramenten). Dagegen beziehen Gemeinschaften ihre Mitglieder als Personen mit wechselnden Dispositionen, Motiven und Interessen ein. Zudem legitimieren letztere Rollendifferenzierungen nicht aufgrund von Satzungen (wie Organisationen), sondern über wechselseitige Anerkennung. „[J]e mehr die Organisation spezifischen Gemeindecharakter trägt“, desto stärker sind Pfarrer als Amtsträger darauf angewiesen, „den Bedürfnissen der Laien Rechnung zu tragen“ (Weber 2001: 201).
2. Sozialgeschichtliche Veränderungen und Strukturreformen
Das frühchristliche Konzept der Gemeinde trat im Mittelalter hinter jenes der P. zurück, wurde aber seit dem 19. Jh. wieder deutlicher hervorgehoben: Während Religion in ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichen (z. B. Wirtschaft, Politik, Erziehung) an Bedeutung verlor, erlangten P.en zentrale Relevanz für religiöse Inklusion (Inklusion, Exklusion). Sie erlaubten die Tradierung vielfältiger Formen kollektiver Frömmigkeit und bildeten den Rahmen für zugehörige Vereine und weitere Teilgruppen, blieben aber an ein stabiles konfessionelles Milieu gebunden. Seit den 1950er Jahren versuchte man, rückläufigen kirchlichen Bindungen mit einer „Gemeindetheologie“ (Bucher 2013) zu begegnen, die auf intensive Gemeinschaftserfahrung und Möglichkeiten der Mitwirkung zielte. In der Anordnung neu gebauter Kirchen mit angeschlossenen Gemeindezentren fand diese Programmatik architektonischen Ausdruck.
In jüngerer Zeit treten die Sozialformen von P. und Gemeinde wieder stärker auseinander: Aufgrund fortschreitender Individualisierung und Pluralisierung lösten sich bereits seit der Nachkriegszeit für wachsende Teile der Bevölkerung zentrale Lebensbereiche (z. B. Beruf, Familie, Freizeit) vom Wohnort, was deren Einbindung in die P. als lokale Gemeinschaft erschwert. Zudem dominieren in den Gemeinden oftmals spezifische Lebensstile und soziale Milieus, während sich andere Teilgruppen der Mitglieder weniger angesprochen sehen. Kirchenaustritte sowie nachlassende Partizipation werden jedoch primär durch eine rückläufige subjektive Relevanz von traditioneller Religion in der Bevölkerung verursacht. P.en bilden innerhalb der Großkirchen nach wie vor den wichtigsten Rahmen kirchlich-ritueller Praxis und weiterer Formen der Mitwirkung, die allerdings von einem großen Teil der Mitglieder allenfalls selektiv wahrgenommen werden. Aufgrund rückläufiger finanzieller und personeller Ressourcen (v. a. der Zahl der Priester sowie hauptberuflicher Laien) sehen sich die katholischen Bistümer (und ähnlich die evangelischen Landeskirchen) zu massiven Reformen gezwungen. Dabei können nicht mehr alle Gemeinden mit den Ressourcen der P. ausgestattet werden bzw. müssen sich diese in P.-Verbänden oder Groß-P.en teilen. Zugl. sind die neuen Strukturen der P. räumlich und aufgrund ihrer Mitgliederzahl i. d. R. zu groß, um noch als Gemeinschaft erfahrbar zu sein. Die fortdauernden Veränderungsprozesse und Modelle unterscheiden sich je nach Diözese.
Literatur
K. Gabriel/S. Leibold: Vergleichender Blick auf die Kirchenentwicklung in deutschen Diözesen, in: HerKorr 72/2 (2018), 48–51 • D. Pollack/G. Rosta: Religion in der Moderne, 2015, 98–174 • R. Bucher: Die Gemeinde nach dem Scheitern der Gemeindetheologie, in: M. Sellmann (Hg.): Gemeinde ohne Zukunft?, 2013, 19–54 • V. Krech/J. Schlamelcher/M. Hero: Typen religiöser Sozialformen und ihre Bedeutung für die Analyse religiösen Wandels in Deutschland, in: C. Wolf/M. Koenig (Hg.): Religion und Moderne, 2013, 51–71 • M. Breuer: Religiöser Wandel als Säkularisierungsfolge, 2012 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, in: MWG, Bd. 1/22–4, 2005 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften, in: MWG, Bd. 1/22–2, 2001.
Empfohlene Zitierweise
M. Breuer: Pfarrei, II. Soziologische Aspekte, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Pfarrei (abgerufen: 22.11.2024)