Verfahren
I. Rechtswissenschaftlich
Abschnitt druckenEine Rechtsordnung besteht aus drei Grundtypen von Regeln: Organisationsrecht (wer entscheidet), materielles Recht (was wird entschieden) und V.s-Recht (wie wird entschieden). V. ist der Verwirklichungsmodus von Recht. Erst durch V. erhält Recht eine tatsächliche Wirkung (VA, Urteil). Ohne die Konkretisierung durch V. bleiben Gesetze generell-abstrakte Texte, deren Bindungskraft auf der individuellen Selbstverpflichtung beruht, ähnlich wie bei Verträgen, die kein V.s-Recht voraussetzen.
1. Ausgestaltung in der Gewaltenperspektive
Die V. und das V.s-Recht unterscheiden sich, je nachdem welche Gewalt mit der Rechtserzeugung betraut ist. Das Gesetzgebungs-V. (Gesetzgebung) wird vom GG nur geregelt, soweit es um Interorganbeziehungen geht (Gesetzgebungsinitiative, Mitwirkung des Bundesrates); das Willensbildungs-V. unterliegt nur dem Innenrecht der Organe (Geschäftsordnungen). Gleichwohl hat das BVerfG auf dem Umweg über die materielle Kontrolle des Gesetzgebers am Maßstab der Verhältnismäßigkeit den Gesetzgeber einer bisweilen strengen V.s-Kontrolle unterzogen.
Das V. zum Verordnungserlass auf der Ebene der Regierung kann in den zu Rechtsverordnungen ermächtigenden Gesetzen (Art. 80 GG) ausgestaltet werden, ist meist aber kaum geregelt. Mehr noch als Gesetze sind Verordnungen das Produkt eines politischen V.s.
Das V. vor den Verwaltungsbehörden ist im VwVfG nur gering normiert: der Kreis der V.s-Beteiligten ist eng, die Anforderungen an das V. sind nicht hoch, V.s-Fehler können weitgehend geheilt werden (§ 45 VwVfG) und sind nicht isoliert, sondern nur zusammen mit einer materiell unrichtigen Entscheidung gerichtlich anfechtbar (§§ 46 VwVfG, 44a VwGO). In Planfeststellungs-V., spezialgesetzlichen V. (z. B. AO, UVP) und gesetzlich bes. anzuordnenden förmlichen Verwaltungs-V. gelten bereichsspezifisch gesteigerte Anforderungen. Die allg.e Regelung des Verwaltungs-V.s nimmt auf die Behördenstruktur und die Expertise der Verwaltung keine Rücksicht und behandelt die Kreisverwaltung genauso wie eine Bundesoberbehörde.
Am intensivsten ist das Gerichts-V. in den Prozessordnungen (z. B. FGO, StPO, VwGO, ZPO) normiert; hier hat V.s-Recht die stärkste Bindungskraft und Kontrolle (Eröffnung des Rechtswegs, Instanzenzug, Vollstreckung). Die StPO regelt auch das V. der Staatsanwaltschaft. Im Strafrecht ist die V.s-Kontrolle am intensivsten und wird auch grundrechtlich bes. geschützt (Art. 101, 103, 104 GG).
Ein Recht auf faires V. enthält die deutsche Rechtsordnung nicht, was immer wieder der Grund für Beanstandungen durch den EGMR ist. Die unter angelsächsischem Einfluss entstandene EMRK schützt mit Art. 6 ein vom materiellen Recht unabhängiges Recht auf faires V. Der im internationalen Vergleich geringere Schutz von V. macht das deutsche Recht angreifbar und offenbart Schutzlücken.
2. Die dienende Funktion des Verfahrens
Das Rechtsverständnis in Deutschland kreist um das materielle Recht. Das ist auch dem Erbe einer kodifikationsorientierten Epoche (Kodifikation) geschuldet, in der dem materiellen Gesetz zugetraut wurde, Konflikte auf einer generell-abstrakten Ebene auf eine sachgerechte, zeit- und kontextlose Weise mit subsumtionsfähigen Begriffen zu bewältigen. V.s- und Organisationsrecht haben dann nur eine dienende Funktion, um dem materiellen Gesetz zur Einzelfallrelevanz zu verhelfen. In Deutschland hat man dem V.s-Recht daher keinen eigenen Funktionswert beigemessen, sondern spricht von der dienenden Funktion des V.s. Das V.s-Recht weicht vor richtig erkannten materiellen Lösungen zurück (Heilung von Fehlern im Verwaltungs-V.). Im Strafprozess (Strafprozessrecht) bilden nur wenige V.s-Fehler absolute Revisionsgründe (§ 338 StPO). Rechtswidrig erlangte Beweise werden in Deutschland typischerweise verwertet (wenn sie nicht mit grundrechtsverletzenden Vernehmungsmethoden gewonnen wurden, § 136a StPO). Manche Rechtsordnungen sind hier wesentlich strenger ( fruit of the poisonous tree-Doktrin in den USA). Dieses Grundverständnis setzt voraus, dass der Rechtskonkretisierung im einzelnen Fall keine bes. Relevanz für die Struktur der Rechtsordnung im Ganzen zugebilligt wird, man Einzelfallgerechtigkeit und Systemgerechtigkeit trennt und Rechtsanwendung als deduktiven, nicht induktiven Erkenntnisprozess versteht.
3. Rechtskulturelle Kontraste
Andere Rechtsordnungen, etwa die USA aber auch die EMRK, akzentuieren hier anders. Im Fallrecht des Common Law (Anglo-amerikanischer Rechtskreis) erhält das V. eine herausgehobene Bedeutung, weil jede abstrahierbare materielle Lösung vom Kontext abhängt: Die Erfassung des einzelnen Sachverhalts durch den jeweiligen Spruchkörper geht der generell-abstrakten Behandlung von Recht kognitiv wie temporär voraus, während sie ihr in Deutschland kognitiv wie zeitlich nachfolgt. Materiellrechtliche Lösungen lassen sich im Case Law sinnvoll nur begreifen, diskutieren und transferieren, wenn der zu regelnde Sachverhalt „richtig“ erfasst wurde, während in Deutschland zunächst das materielle Richtig „richtig“ erkannt und erst dann verfahrensrechtlich umgesetzt werden soll. Vom V. erwarten Juristen je nach der Rechtsordnung daher andere strukturelle Leistungen bei der Rechtserzeugung. Entspr. ist in den USA die Juridifizierung des V.s ausgeprägter. Schon die Verfassungsbindung wird als eine weitgehend prozeduralisierte Rechtsbindung verstanden. Die Leitfragen sind etwa, ob die checks and balances im Staatsorganisationsrecht funktionieren oder nicht; ob der Grundrechtseingriff auf einem ordnungsgemäßen V. basiert (due process) oder nicht. In dieser Perspektive kann das Bestimmen klarer materiellrechtlicher Grenzen zugunsten einer situativen und doch zugl. verfahrensrechtlich strukturierten Rechtserzeugung ersetzt werden. Das fördert Rechtspluralismus und dynamischen Wandel, behindert aber die Rechtssicherheit und Erwartungsstabilität.
Die Aufwertung des V.s-Rechts wird auch durch das Europarecht gefördert, das wegen der Umsetzung in 27 Rechtsordnungen bes. oft auf prozedurale Regelungsprogramme und Finalnormen abstellt und dabei auch die Regulierungserfahrungen anderer Rechtskulturen (case law, regulatory agencies, Partizipationskulturen mit Obleuten, körperschaftlich statt monokratisch verfasste Behördenstruktur mit boards oder conseils) verarbeitet. Je wichtiger überdies Richterrecht wird, desto größer wird die Relevanz von V. auch auf Seiten der rechtserzeugenden Dritten Gewalt.
4. Erweiterte Funktionen des Verfahrens
Dies erklärt, warum die rein dienende Funktion des V.s in Deutschland unter Druck gekommen ist. Die Regelungskomplexität einer pluralistischen Gesellschaft kann nicht mehr alleine mit generell-abstrakten, deduzierbaren Regelungsprogrammen bewältigt werden. An die Stelle von klassischen Konditionalnormen treten zunehmend Finalnormen, die Zweck und Ziel regeln, den Weg dorthin aber der Konkretisierung durch bestimmte Organe und V. überlassen. Finalnormen enthalten unvollständige Normprogramme, die durch V. arbeitsteilig ergänzt werden müssen. Das V. dient hier nicht der Subsumtion auf den Fall, sondern der Erzeugung der zu subsumierenden Norm. Man spricht insofern auch von einer Prozeduralisierung des Rechts. Sie ermöglicht zugl., die Konkretisierungsleistung unterschiedlicher Organe für die Normerzeugung zu nutzen. Eine Oberbehörde (z. B. BNetzA) kann dann einen größeren V.s-Beitrag für die Normkonkretisierung erbringen als eine untere Verwaltungsbehörde (Landratsamt) mit der Folge, dass die Bindung an das Gesetz unterschiedlichen Bestimmtheitsmaßstäben und Anforderungen aus der Wesentlichkeitslehre und dem Parlamentsvorbehalt des BVerfG genügen muss.
Organisations- und V.s-Recht kompensieren insofern eine nachlassende Bindungskraft des Gesetzes. Mit Organisations- und V.s-Recht können auch die daraus folgenden Legitimationsprobleme (Legitimation) behoben werden. Ist das Organ bes. legitimiert und berücksichtigt das V. die grundrechtlichen Partizipationsansprüche (Partizipation) der Betroffenen, lässt sich ein hinreichendes Legitimationsniveau bei schwindender Bindung an das materielle Gesetz erzielen. V.s-Recht kann auch die gerichtliche Vollkontrolle entlasten und teilweise substituieren, wenn eine V.s-Kontrolle an die Stelle einer Ergebniskontrolle tritt. V. lassen sich überdies auch politisch sanktionieren und sind nicht auf judikative Sanktionierbarkeit angewiesen wie das materielle Recht. Organisations- und V.s-Recht erhalten in solchen Konstellationen einen verfassungsrechtlich begründeten Eigenwert gegenüber dem materiellen Recht. V.s-Recht ist kein Selbstzweck, kann aber deutlich mehr Zwecken dienen als bloß der Sachverhaltskonkretisierung von generell-abstrakten Normen.
Das deutsche Rechtsdenken tut sich mit dieser Aufwertung des V.s-Gedankens in allen Gewalten tendenziell schwer und thematisiert dies als eine nachlassende Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) oder als Legitimationsdefizit bei der Rechtserzeugung (Art. 20 Abs. 2 GG). Beides vertraut freilich auf eine Leistungsfähigkeit des materiellen Gesetzes, die verfassungsrechtlich nicht vorgezeichnet ist. Warum soll der Gesetzesvorbehalt nicht auch mit Organisations- und V.s-Recht erfüllt werden? Die materielle Auffangfunktion von Organisations- und V.s-Recht muss auch nicht in allen Regelungsbereichen gleich ausfallen. In klassischen Rechtsgebieten (Strafrecht, Bürgerliches Recht, Steuerrecht) mag sie geringer sein als in „modernen“ Regelungsbereichen (Umweltrecht, Wirtschaftsregulierungsrecht). Die Aufwertung des V.s ermöglicht die sinnvolle Differenzierung von Regelungsprogrammen. Das sollte nicht als Abweichung von verfassungsrechtlichen Grundstrukturen beanstandet, sondern als deren sachbereichs- und gewaltenspezifische Umsetzung akzeptiert werden. Deutsche Rechtswissenschaftler tun sich damit eher schwer, weil es der Juristenstand gewohnt ist, über die Auslegung des materiellen Rechts einen Konkretisierungsbeitrag zu leisten, der naturgemäß entfällt, wenn stärker auf prozeduralisierte Normprogramme und die Rechtserzeugung durch organisatorische Differenzierung abgestellt wird. Der Systemanspruch der deutschen Rechtswissenschaft und ihr Ziel der Dogmatisierung des Rechts in Gestalt von Kommentierungen bremst die V.s-Orientierung. Aber auch die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat engt ein, weil V.s-Recht typischerweise Landesrecht ist, was den Bundesgesetzgeber aus Kompetenzgründen zu materiellrechtlichen Lösungen drängt. Die sich nur langsam ändernde Haltung gegenüber dem V. wirkt sich als Nachteil der deutschen Rechtswissenschaft im Wettbewerb der Rechtskulturen und für ihre Relevanz im Europarecht aus.
Literatur
P. Reimer: Verfahrenstheorie, 2015 • Siebter Teil. Verwaltungsverfahren, in: W. Hofmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hg.): Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 22012 • E. Schmidt-Aßmann: § 27, in: ebd., 495–556 • J.-P. Schneider: § 28, in: ebd., 557–662 • H. Rossen-Stadtfeld: § 29, in: ebd., 663–730 • H. C. Röhl: § 30, in: ebd., 731–798 • M. Sachs: § 31, in: ebd., 799–850 • I. Appel: § 32, in: ebd., 851–942 • E. Gurlit/M. Fehling: Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, in: VVDStRL, Bd. 70, 2011, 227–337 • A.-B. Kaiser: Die Kommunikation der Verwaltung, 2009 • R. Wahl: Verfahren, Verfahrensrecht, in: StL, Bd. 5, 71995, 628–633 • H. M. Hart, jun./A. Sacks: The Legal Process, 1994 • P. Lerche/W. Schmitt Glaeser/E. Schmidt-Aßmann: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984.
Empfohlene Zitierweise
O. Lepsius: Verfahren, I. Rechtswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Verfahren (abgerufen: 25.11.2024)
II. Sozialethisch
Abschnitt druckenAus sozialethischer Perspektive – zumal aus der Perspektive einer theologischen Sozialethik (Christliche Sozialethik) – stellt sich v. a. die Frage nach dem Verhältnis von Normenbegründung und Implementierbarkeit von Normen im Rahmen von V. Die „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann 1969) kann dort an ihre Grenzen stoßen, wo normative Grundsätze etwa aus Heiligen Schriften, aus religiösen Traditionen oder aus einem „Naturrecht“ als verbindlich vorgegeben erachtet werden. Auch aus der Perspektive säkularer Sozialethiken gibt es diese Spannung zwischen normativem Begründungsdiskurs auf der einen Seite und systemtheoretischer Betrachtungsweise (Systemtheorie) des zweckmäßigen V.s auf der anderen Seite.
1. Von der Naturrechtsdoktrin zur Verfahrensethik
Auf die funktionale Differenzierung von Recht und Politik und die damit verbundene (sukzessive) Emanzipation politischer V. aus dem Anspruchsbereich kirchlich-religiöser Sittlichkeit reagierten v. a. die katholische Kirche und Theologie mit einem umfangreichen System der Normenbegründung aus der Natur. Das Naturrechtssystem, bei dem es um die Begründung von universellen, gleichwohl inhaltlich sehr detaillierten Normen geht, wurde einer vom religiösen Wahrheitsanspruch abgelösten Legitimation durch V., bei der es um Verbindlichkeit und Rechtssicherheit, Gewaltmonopol und Souveränität geht, gegenübergestellt. Diese Naturrechtsdoktrin war im 19. und 20. Jh. kaum mehr anschlussfähig an den V.s-Begriff der politisch-philosophischen, sozialwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Diskurse und wendete sich abwertend-kritisch („antimodernistisch“ [ Antimodernismus ]) gegen viele Entwicklungen der westlichen Modernisierung. V. a. mit und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich in der kirchlichen und wissenschaftlichen theologischen Ethik eine Abkehr vom Naturrechtsdenken und eine Hinwendung zu unterschiedlichen V.s-Ethiken vollzogen. Dabei wurden methodisch wie inhaltlich die überaus starken Prämissen der Naturrechtsdoktrin fallen gelassen; die grundsätzliche Orientierung an ethischen Prinzipien und Rechtfertigungspostulaten wurde jedoch meist beibehalten. Eine normative und handlungstheoretische (gegenüber einer rein systemtheoretischen) Betrachtungsweise von V. wird nun aber auf die Begriffe etwa einer modernen vernunftrechtlichen oder diskurstheoretischen V.s-Ethik gebracht.
2. Verfahrensgerechtigkeit
Mit diesem (ethischen, nicht soziologischen) Verständnis des V.s gewinnt der Begriff der V.s-Gerechtigkeit Bedeutung für die Sozialethik. Zum einen geht es dabei um den Gesichtspunkt der gerechten Gestaltung von V. der Rechtsfindung und des Rechtsvollzugs bzw. der Rechtsprechung (iustitia legalis). Dazu zählen die Allgemeinen Rechtsgrundsätze des audiatur et altera pars, des Anspruchs jeder Person auf rechtliches Gehör, des nemo iudex in causa sua, der Unparteilichkeit des Gerichts, des nulla poena sine lege, die Unschuldsvermutung sowie darüber hinaus die Grundsätze fairer verfassungs- und verwaltungsrechtlicher V. Zum anderen wurde mit der Aufwertung der Beteiligungsgerechtigkeit (iustitia contributiva) der Blick auf die zentrale Bedeutung der Partizipation aller Personen an gesellschaftlichen und politischen V. für die gerechte Gestaltung von Gesellschaften insgesamt gelenkt. Gerechte V. der Rechtsetzung bzw. gerechte V. demokratischer Willens- und Meinungsbildung setzen dann die Möglichkeit der gleichberechtigten Beteiligung prinzipiell aller von den Ergebnissen möglicherweise Betroffenen an diesen V. voraus. Beteiligungsgerechtigkeit wird zum Inbegriff der „sozialen Gerechtigkeit“ (wie im Hirtenbrief der US-amerikanischen Bischöfe „Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle“ 1986: Nr. 71) oder zum „roten Faden“ oder „heuristischen Leitfaden“ der Sozialethik insgesamt (Heimbach-Steins 2005: 11 f.). Bemerkenswert an diesen Ansätzen ist eine Art Verschränkung des Partizipationsrechts mit einer Partizipationspflicht: Wie es einerseits eine Forderung der Gerechtigkeit ist, dass alle die Möglichkeit der Partizipation (d. h. etwa des Vortrags ihrer Geltungsansprüche) haben, müssen sich andererseits grundsätzlich alle an den V. beteiligen, weil nur dann die Möglichkeit gerechter V. und V.s-Ergebnisse besteht.
3. Verfahrensethik und kirchliches Lehramt
Anders als die wissenschaftliche Sozialethik tut sich das katholische kirchliche Lehramt, trotz der oben beschriebenen Neupositionierung im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils, schwer mit V.s-Ethik und V.s-Gerechtigkeit. So wird für partikularmoralische Normen der kirchlichen Tradition nach wie vor universelle Gültigkeit beansprucht, indem diese Normen mit der Schöpfungs- und Naturordnung begründet und als alleine mit der „rechten Vernunft“ übereinstimmend qualifiziert werden. „Katholische Parlamentarier“ werden – etwa im Kontext der Frage der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften – zum „persönlichen absoluten Widerstand“ ermahnt und darauf hingewiesen, dass es eine „schwerwiegend unsittliche Handlung“ darstelle, in demokratischen V. für der kirchlichen Sittenlehre widersprechende Gesetze zu stimmen (Kongregation für die Glaubenslehre 2003: Nr. 10). Oder es wird sogar darauf hingewiesen, dass das „staatliche Gesetz […] seinen das Gewissen bindenden Charakter“ verliere, wenn es in einen Widerspruch zur von der kirchlichen Sittenlehre definierten „rechten Vernunft“ trete (Kongregation für die Glaubenslehre 2003: Nr. 6).
Literatur
C. Spieß: Zwischen Gewalt und Menschenrechten, 2016 • M. Heimbach-Steins (Hg.): Christliche Sozialethik, Bd. 2, 2005 • G. Drösser: Demokratische Verantwortung und politische Partizipation, in: ebd., 17–49 • Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen, 2003 • G. Kruip: Sozialethik als Verfahrensethik, in: H. J. Höhn (Hg.): Christliche Sozialethik interdisziplinär, 1997, 41–58 • W. Huber: Gerechtigkeit und Recht, 1996 • W. Lesch/A. Bondolfi (Hg.): Theologische Ethik im Diskurs, 1995 • B. Emunds: Das naturrechtliche Schneckenhaus, in: F. Hengsbach/ders./M. Möhring-Hesse (Hg.): Jenseits Katholischer Soziallehre, 1993, 33–56 • Nationale Konferenz der Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika: Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle, 1986 • N. Luhmann: Legitimation durch Verfahren, 1969.
Empfohlene Zitierweise
C. Spieß: Verfahren, II. Sozialethisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Verfahren (abgerufen: 25.11.2024)