Tourismus
I. Soziologisch
Abschnitt druckenDer T. als einer der wichtigsten Wirtschaftszweige der Welt ist eines der auffallendsten sozialen und kulturellen Phänomene postmoderner Gesellschaften (Postmoderne). Dennoch sind eine sozialwissenschaftliche Betrachtung des Phänomens und eine theoriegeleitete interdisziplinäre Analyse des Reisens eher marginal ausgeprägt, weil in vielen Fragestellungen die ökonomische Wertschöpfung touristischer Destinationen im Vordergrund steht. Ziel und Aufgabe einer T.-Soziologie ist es, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der touristischen Entwicklung zu analysieren, den Reisenden selbst in seinen Motiven, Bedürfnissen, Erlebnissen und Verhaltensweisen und interkulturellen Begegnungen zu verstehen (Mikroperspektive), die Struktur und Funktionsweise des touristischen Systems in den Blick zu nehmen (Makroperspektive), und insb. die soziokulturellen Folgen des Reisens zu behandeln.
1. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Für die Entstehung des Massen-T. können drei Bereiche genannt werden, die wesentlich zum heutigen massenhaften Reisen beitrugen. Es sind dies
a) strukturell-materielle Rahmenbedingungen (wie Mobilitätsveränderungen [ Mobilität ] oder Einkommenssteigerungen in breiten Bevölkerungsschichten),
b) immaterielle gesellschaftsbezogene Bedingungen und Faktoren (wie Aspekte des Wertewandels und der Milieuzugehörigkeit [ Milieu ], die unterschiedliche Reisestile prägen) sowie
c) politisch institutionelle Bedingungen welche Reisefreiheit garantieren (Visaregelungen) oder die Reisefrequenz erhöhen (vertraglich geregelte Urlaubszeiten etc.).
Die aus diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entstehenden Reiseaktivitäten können als Spiegelbilder des gesellschaftlichen Bedürfnis- und Wertewandels gesehen werden. In den Prozess der Reiseentscheidung und des Urlaubsverhaltens greifen heute v. a. soziale Medien (Social Media) und neue Informations- und Kommunikationstechnologien ein, welche durch Reiseblogs, Hotelbewertungsportale, Visualisierungen von Destinationen sowie auch neue Technologien entscheidende Impulse in der Reisezielwahl setzen sowie zunehmend auch destinationsspezifische Verhaltensweisen prägen.
2. Zum Reiseerleben und -verhalten (Mikroperspektive)
In der Nachkriegszeit, in der die Epoche des Massen-T. eingeleitet wurde, galt für den Großteil der Gesellschaft eine außenorientierte Lebensauffassung, die in einer klar sozial strukturierten und geschichteten Gesellschaft die externe Vorgabe von Zielen und Normen für das Individuum bedeutete. Dies ist nun im Zuge der Individualisierung von einer stärker nach innen gerichteten Lebensauffassung abgelöst worden, bei der die Gestaltungsidee eines „schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens“ (Schulze 2002: 37) in den Vordergrund tritt. Das Leben in der individualisierten Leistungsgesellschaft erklärt damit den Drang zu tiefgreifenden Erlebnissen und zu authentischen Erfahrungen, die insb. in der Freizeit und im T. entfaltet werden können. Nicht zuletzt deshalb gelten memorable experiences als wesentliche Ressource der T.-Industrie.
3. Ausdifferenzierungen (Makroperspektive)
Reisen ist in der westlichen Gesellschaft weitgehend zur Selbstverständlichkeit geworden und bedingt im Zuge der pluralisierten Interessen eine enorme Ausdifferenzierung des touristischen Systems. Die UNWTO gibt mittlerweile weltweit ein jährliches Reiseaufkommen von über 1,2 Mrd. internationaler T.-Ankünfte an (UNWTO 2017), wodurch sich das touristische System quasi auf natürlichem Wege längst funktional differenziert und in Teilsysteme aufgespalten hat. Diese Diversifikation zeigt sich sowohl in den Angebotsstrukturen (Konkurrenzdruck) als auch in den Nachfragestrukturen des T. (heterogene Bedürfnisse der Reisenden). Dies bewirkt eine Fülle von Reiseformen, die dichotome Kategorien (wie Sommer- und Winter-T.) obsolet werden lassen.
4. Folgen des Tourismus
Der T. wird – zumindest in der Sichtweise der T.-Ökonomie – überwiegend positiv bewertet. Die Vorzüge werden in der Bereitstellung von Arbeitsplätzen, in der Verbesserung der Infrastruktur und im kulturellen und sozialen Fortschritt der Region gesehen. Der Einfluss des T. im Kontext der allgemeinen Entwicklungsdynamik der Globalisierung ist jedoch strittig und ambivalent. Wenn entsprechende Infrastrukturen geschaffen wurden (Airports, Hotels, Gastronomie etc.), können transnational aktive Manager tätig werden und die globale Urlaubskultur in neue Destinationen tragen. Die Touristen wollen ihre Erwartungshaltungen und Wünsche an Komfort global ähnlich befriedigt wissen; internationaler Standard verdrängt die Authentizität der Region. Obwohl der Anteil der T.-Einnahmen steigt, hat der Großteil der Einheimischen die Konsequenzen des Massen-T. wie Übervölkerung, Veränderungen traditioneller Strukturen und erhöhte Preise zu tragen.
5. Künftige Herausforderungen
Die dynamische Entwicklung der Gesellschaft stellt die T.-Soziologie vor große Herausforderungen und rückt auch neue Themen ins Blickfeld. So ist im Zuge der terroristischen Bedrohung (Terrorismus) und der COVID-19-Pandemie das Thema Sicherheit und T. weltweit in den Vordergrund gerückt. Neue Reiseformen wie Dark- und Slum-T. erfordern eine tiefgehende Analyse touristischer und voyeuristische Motive. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels und der Digitalisierung sollten in zukunftsweisenden Arbeiten zum T. dringend thematisiert werden. Und geopolitische globale Machtstrukturen (Geopolitik) und Verschiebungen bewirken, dass neue Märkte im T. den westlich dominanten Blick auf das touristische System zunehmend herausfordern und neue Verflechtungszusammenhänge zwischen verschiedenen Mobilitätsformen gegeben sind.
Im Zuge dieser Herausforderungen erscheint es umso wichtiger, ethische Richtlinien für den globalen T. zu propagieren. So hat die UNWTO einen Ethikkodex für Reisen entwickelt (UNWTO 1999), dessen zehn zentrale Richtlinien jedoch rein empfehlenden Charakter besitzen. Die T.-Soziologie sollte ihre Rolle primär darin sehen, eine differenziertere und ganzheitliche Analyse des T. (abseits ökonomischer Verwertungslogiken) zu propagieren und mit Fallstudien zu kulturverträglichem und ethisch verantwortungsbewusstem Reisen beitragen.
Literatur
UNWTO: Tourism Highlights 2017, 2017 • R. Bachleitner/W. Aschauer: Unterwegs in der Freizeit. Zur Soziologie des Reisens, in: R. Freericks/D. Brinkmann (Hg.): Hdb. Freizeitsoziologie, 2015, 325–352 • R. Bachleitner: Zum Forschungsprogramm der Tourismussoziologie, in: ders./W. Kiefl (Hg.): Lexikon zur Tourismussoziologie, 2009, 7–24 • R. Hachtmann: Tourismus-Geschichte, 2007 • UNWTO: Global Code of Ethics for Tourism (1999), URL: https://www.unwto.org/global-code-of-ethics-for-tourism (abger.: 14.1.2021) • G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 31992.
Empfohlene Zitierweise
W. Aschauer, R. Bachleitner: Tourismus, I. Soziologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Tourismus (abgerufen: 21.11.2024)
II. Wirtschaftswissenschaftlich
Abschnitt druckenT. ist ein kulturelles und gesellschaftliches Phänomen genauso wie ein Wirtschaftsbereich. Er „umfasst die Aktivitäten von Personen, die an Orte außerhalb ihrer gewohnten Umgebung reisen und sich dort zu Freizeit-, Geschäfts- oder bestimmten anderen Zwecken nicht länger als ein Jahr ohne Unterbrechung aufhalten“ (UNWTO 1993). Die Reise ist das zentrale Element des T., wobei die Begriffe Reisen und T. häufig synonym verwendet werden, auch wenn die Reise jede Form der Entfernung von einem bestimmten Ort meint. Das Reisen beinhaltet demnach den Ortswechsel und hängt mit der Art und Weise des Ortswechsels, also dem Transport und Fragen der Mobilität, eng zusammen. Der Aufenthalt ist das zweite zentrale Element. Er umfasst i. d. R. am Ort oder Raum eine Reihe von Dienstleistungen und Erlebnissen aus der Sicht des Reisenden oder Besuchers, welche der Auslöser für die Reise bzw. den Ortswechsel sind. Raum und Zeit spiegeln sich dabei in Fragen der Reisedauer (von der Tagesreise ohne Übernachtung bis zu Reisen bis zu einem Jahr) sowie der Entfernung (z. B. Inland v Ausland, Reisen außerhalb des eigenen Lebensraumes des Reisenden) wider. Die Motive des Ortswechsels sind vielfältig und unterscheiden sich grob in erholungsspezifische und geschäftsspezifische Motive bzw. Freizeit- und Geschäftsreisen. Ortswechsel bedeutet die Bewegung jenseits des angestammten Arbeits- und Wohnumfeldes. Dies ist Voraussetzung für die Definition des touristischen Phänomens in Abgrenzung zu Freizeitaktivitäten (Freizeit) im gewohnten Umfeld. Neben dem Beruf als Reisemotiv ergeben sich im Kontext von Erholung bzw. Urlaub folgende zusätzliche zentrale Motive: Gesundheit, Natur, Kultur oder Religion – in unterschiedlicher Priorität der Bedürfnisse. Die Reisemotivation ist insb. in post-industriellen Gesellschaften weniger auf starke Anreize oder spezifische Motivationen ausgelegt, weil beim modernen Reisen die „Zweckfreiheit“ eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: z. B. Aufwertung des eigenen Selbst, veränderte Zeiterfahrungen, Berührungen mittels Resonanz, oder Reflexion des eigenen Lebensraumes durch Erfahrung im Destinationsraum. Pluralistische Konzepte der Reisemotivationsforschung betonen unterschiedliche Gründe des Reisens, wobei die Motive doch am Ende wenige zentrale sind, oder psychologische Ansätze, welche auf Grundqualitäten der Befriedigung von Grundbedürfnissen fokussieren, wie bspw. das Entdecken einer „Gegenwelt“ als zentrales Motiv.
T. kann aus wirtschaftlicher Sicht mittels eines angebots- und nachfrageorientierten Zugangs definiert werden. All jene Unternehmen und Organisationen, welche Dienstleistungen und Erlebnisse in Raum und Ort zur Verfügung stellen, bilden das Spektrum des Angebots i. S. einer Industrie ab, auch wenn insb. der Begriff der Industrie aufgrund der Dienstleistungsspezifität des T. irreführend sein kann.
Die Angebotsseite des T. umfasst aus dem wirtschaftlichen Blickwinkel demnach alle Betriebe, die zur Erstellung von touristischen Dienstleistungen zur Abdeckung der Bedürfnisse der Besucher beitragen, und damit Leistungen darstellen, die in direktem Zusammenhang mit der Reise stehen. Betriebe und Organisationen des T.-Angebotes sind Beherbergungsunternehmen, wie z. B. Hotels oder Pensionen, Reiseveranstalter und Reisebüros, Verkehrsträger sowie T.-Orte und -Verbände (Destinationen). Dabei gilt es zu differenzieren zwischen jenen Unternehmen, welche ausschließlich dem T.-Bereich zuzurechnen sind (T.-Wirtschaft im engeren Sinne), und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist, weil sie bspw. auch Leistungen für Einheimische erbringen (T.-Wirtschaft im ergänzenden Sinne). Diese Abgrenzung ist allerdings schwierig, weil spezifische Produktionsbedingungen dafür nicht gegeben sind. Ökonomisch betrachtet sind die Einnahmen bzw. die wirtschaftlichen Effekte bei der Abgrenzung hilfreich.
Der nachfrageorientierte Zugang stellt den Touristen in den Mittelpunkt. Vielfach ist von Besuchern und Gästen die Rede. Ausflugsgäste hingegen sind eher den Tagestouristen zuzuordnen. Zentraler Aspekt bleibt die Reise eines Individuums an einen Ort, der nicht „hauptsächlicher und dauernder Wohn- oder Arbeitsort“ ist (Kaspar 1996: 17). Veränderte gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen führen dazu, dass zunehmend der Tourist selbst definiert, was er als Reise versteht. „The tourist remains mystified as to his true motives, his role in the construction of modernity“ (MacCannell 2013: 178). In einer erweiterten Perspektive definiert sich T. durch die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Touristen, dem touristischen Angebot sowie den Lebenswelten der Menschen vor Ort – Einheimische, Bereiste oder Gastgeber. Die Beziehung von Gast und Gastgeber – Ursprung aller Gastfreundschaft – hat im modernen T.-Geschäft ihren Ausgangspunkt in der professionellen Erfüllung der vom Touristen nachgefragten Dienstleitungen, steigert sich durch die Vernetzung, Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Anbietern und nachfragenden Touristen, mündet in eine spezifische Begegnungsqualität durch das Schaffen von Erlebnissen und Begeisterung, und gipfelt schlussendlich in einer Beziehungsqualität als anhaltender und nachhaltiger Ausdruck von Gastfreundschaft. Konsum oder Beziehung – wirtschaftswissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Perspektive: Der gemeinsame Nenner des T. ist der Gast, Besucher und Tourist, dessen Reise ein Ergebnis gesellschaftlicher Ausdrucksfreude ist.
Der Raum als Kulmination dieser Motivation, dargestellt in jenen Erlebnissen und Dienstleistungen, welche die Begegnungen ermöglichen, die dann zu Begeisterung führen können, kann als Destinationsraum bezeichnet werden. Dieser besteht aus all jenen Dienstleistungs- und Erlebnisketten, welche für den Touristen den Anreiz für die Reise darstellen. Anders gesagt: Destinationen sind jene Bewegungsräume, in denen die Gäste jene Erlebnisse finden, die sie für ihren Aufenthalt als relevant erachten. Die Destination ist die Wettbewerbseinheit des T., insofern sie Netzwerk von Anbietern abbildet und imstande ist, jene Dienstleistungen und Erlebnisse anzubieten, die der Nachfrage entsprechen. Die Destination vereinigt in sich die Teilsysteme von Angebot und Nachfrage. Der T.-Ort (Destination) sowie der T.-Verband (Destinations-Management- und Marketing-Organisation) stellen zumeist ein kooperatives Arrangement dar, welches entspr. den Kosten und Nutzen von Kooperation zwischen den Leistungsträgern die effiziente Bereitstellung von Erlebnissen unter Wettbewerbsbedingungen (Wettbewerb) sicherstellen kann, letzthin durch die Digitalisierung ein datengetriebenes Netzwerk-Management.
T. erfordert den Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Umwelt. Umwelt ist dabei das bes. Wesensmerkmal des T.: die natürliche Umwelt i. S. v. Natur und unberührter Landschaft, die Man-Made-Umwelt i. S. d. gestalteten Natur- und Kulturlandschaft, sowie die kulturelle Umwelt i. S. d. T.-Bewusstseins bei der einheimischen Bevölkerung, welches im Wechselspiel mit den Touristen als Gastfreundschaft zum konsumierbaren Erlebnis wird.
Literatur
H. Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2018 • H. Pechlaner/M. Volgger/C. Nordhorn: Hospitality Management ist mehr als Service Management. Skizzen eines umfassenden Qualitätsansatzes, in: H. Pechlaner/M. Volgger (Hg.): Die Gesellschaft auf Reisen. Eine Reise in die Gesellschaft, 2017, 139–162 • D. MacCannell: The Tourist, 2013 • T. Bieger: Tourismuslehre, 32010 • W. Freyer: Tourismus. Einführung in die Fremdenverkehrsökonomie, 92009 • A. Günther: Reisemotivation, in: W. Fuchs/J. W. Mundt/H. D. Zollondz (Hg.): Lexikon Tourismus, 2008, 566–569 • H. Pechlaner: Tourismus-Destinationen im Wettbewerb, 2003 • P. Tschurtschenthaler: Tourismus und Umwelt, in: S. Gewald (Hg.): Hdb. des Touristik- und Hotelmanagement, 2000, 380–386 • C. Kaspar: Die Tourismuslehre im Grundriss, 51996 • UNWTO: Empfehlungen zur Tourismusstatistik, 1993.
Empfohlene Zitierweise
H. Pechlaner: Tourismus, II. Wirtschaftswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Tourismus (abgerufen: 21.11.2024)