Religion und Gesellschaft
I. Sozialwissenschaftlich
Abschnitt druckenR. und G. gehören zu den ebenso unentbehrlichen wie vielschichtigen Großbegriffen, wenn es darum geht, sich über Gestalt und Bedingungen des menschlichen Miteinanders Rechenschaft zu geben. Beide Begriffe sind in ihrer heutigen Verwendung Resultate der Modernisierung. Insb. der G.s-Begriff hat erst seit dem ausgehenden 18. Jh. seine quasi-kosmisierende, weil nun alles menschliche Dasein überwölbende Bedeutung erlangt. Er wird meist für (national-)staatlich verfasste Großkollektive gedacht, findet zunehmend aber auch für die Menschheit auf der Welt allg. Verwendung. Historisch im europäischen Kontext betrachtet, hat „die G.“ im Zuge der Modernisierung somit „den Himmel“ des Christentums als Höchstbegriff beerbt und weithin abgelöst.
In westlichen G.en wird R. daher i. d. R. zunächst als Sammelbegriff für die wachsende Vielfalt verschiedener Kirchen und R.s-Gemeinschaften verwendet. R. in dieser organisierten Form ist ein Phänomen der Mesoebene des Sozialen. Sodann umfasst der Begriff auch die individuelle Ebene jener Identitäten, Praktiken, Einstellungen und Überzeugungen Einzelner, die i. d. R. als Religiosität bezeichnet wird. Und schließlich bezeichnet der Begriff R. in hochdifferenzierten G.en auf der Makroebene jenes gesellschaftliche Subsystem, in dem Fragen von Immanenz und Transzendenz, Kontingenz und Sinnstiftung primär dargestellt und zunehmend auch verhandelt werden. Dabei drohen die Grenzen des Phänomens bzw. des Subsystems in dem Maße unscharf zu werden, wie sich Sinnstiftung und Glaubensvorstellungen von gesellschaftlichen, kirchlich- bzw. religiös-institutionell vermittelten Konventionen (wieder) lösen und individualisieren (Neue Religiöse Bewegungen, New Age, Okkultismus, Spiritualität [ Esoterik ], „Fußball ist meine R.“ u. ä.). Wissenschaftlich zunehmend umstritten ist, ob der R.s-Begriff in nicht-westlichen G.en anwendbar ist. Speziell im Kontext der v. a. kultur- und religionswissenschaftlichen Debatten um Orientalismus und Postkolonialismus gilt er als Ausdruck eines überholten westlichen Kultur- und Wissenschaftsimperialismus, insb. gegenüber islamischen Regionen. Das international breit abgestützte Menschenrecht der Gedanken-, Gewissens- (Gewissen, Gewissensfreiheit), Weltanschauungs- und Religionsfreiheit geht dagegen freilich von der Universalität des Begriffs R. und damit von ihrer (auch rechtlichen) Definier- und Abgrenzbarkeit aus. Es zeigt sich, dass solche wissenschaftlichen Kontroversen schwerwiegende menschenrechtliche Implikationen und Konsequenzen haben (können). Insgesamt scheint es also geboten, den R.s-Begriff beizubehalten und für einen wissenschaftlich reflektierten und differenzierten Umgang mit ihm einzutreten.
In der Öffentlichkeit wird entspr. der heute v. a. medial vermittelten Realitätsvorstellungen von R. mit dem Begriffspaar „R. und G.“ aktuell meist ein Spannungsverhältnis assoziiert. R. und „der Islam“ (Islam) im Besonderen werden als Problem des gesellschaftlichen Zusammenlebens im nationalen wie internationalen Maßstab aufgefasst (Samuel P. Huntington). Allerdings ist in jüngerer Zeit auch das Verständnis dafür gewachsen, dass R. in hochkomplexen modernen G.en ein bleibender, zentraler Bestandteil der Sozialstruktur und Kultur ist, der grundsätzlich einen eigenständigen Beitrag zur Gestaltung und zum Zusammenhalt pluraler offener G.en zu leisten vermag (José Casanova; Jürgen Habermas).
1. Theorien und Befunde der Entwicklung von Religion in modernen Gesellschaften
Ob es im Zuge der Ausdifferenzierung moderner G.en eine allg.e Entwicklungsrichtung von R. gibt und welche Prozesse ursächlich sind, ist die klassische Frage der sozialwissenschaftlichen R.s-Forschung. Aktuell werden v. a. drei Modelle vertreten: die Säkularisierungstheorie, die Markttheorie von R. und die Individualisierung von R. Nach ihrem Aufstieg um 1950 erlangte die Säkularisierungstheorie (Säkularisierung) in verschiedenen Spielarten lange Zeit eine erdrückende Dominanz. Ab 1990 folgte eine Welle massiver Kritik an der Grundaussage eines allg.en, nachhaltigen und unumkehrbaren Bedeutungsverlusts von R. in modernen G.en. Nicht wenige haben die Säkularisierungstheorie für gescheitert erklärt. Dieser Schluss dürfte aber mit Blick auf die empirischen Realitäten der weit fortgeschrittenen Entkirchlichung in weiten Teilen Europas voreilig sein. Auch die als Gegenbeweis oft bemühte hohe Religiosität in den USA hat mittlerweile erhebliche Risse bekommen: Der Anteil derjenigen, die keiner R. angehören, ist stark angestiegen. Zwar belebt in den USA in Übereinstimmung mit der Markttheorie der R. die Konkurrenz auf einem staatlicherseits kaum regulierten Markt der R.en grundsätzlich die religiöse Partizipation. Aber außerhalb der USA besteht der kausale Zusammenhang von freiem Markt und hoher Religiosität eher selten. In Europa hatten und haben – unbeschadet jüngster Missstände und Skandale in der kirchlichen Hierarchie – Gebiete mit einer starken Mehrheitsposition der katholischen Kirche wie Italien, Irland oder Polen, d. h. Gebiete ohne echte Wettbewerbssituation, die höchsten Kirchlichkeitsraten. Vielmehr scheint es im europäischen wie weltweiten Maßstab eher einen Kausalzusammenhang zwischen einem geringen Modernisierungsgrad und der damit einhergehenden Verletzlichkeit der Existenz des Einzelnen einerseits und der unter solchen Bedingungen höheren religiösen Vitalität einer G. andererseits zu geben. Für hochmoderne G.en ist neben der Rückläufigkeit kirchlicher Praxis eine stärkere Individualisierung von R. ebenfalls Realität. Bislang haben neue Formen religiöser Praxis die Verluste der großen Kirchen aber nicht ansatzweise aufgewogen.
Eine Sonderrolle kommt in diesen Debatten religiösen Minderheiten zu, v. a. dann, wenn sie aus der jüngeren Migration hervorgegangen sind. Wie historisch etwa für die Katholiken in den USA und aktuell für muslimische Zuwanderer in Europa nachweisbar, fördert der Zuzug in eine andere G. häufig zunächst die Rückbindung an die eigene Herkunfts-R. und entspr.e Diasporagemeinden. Dies geschieht, weil sie ein Stück Heimat, aber auch Rückhalt und Hilfe in der neuen Umgebung bieten. Erst in einem längeren Prozess über i. d. R. drei Generationen entsteht eine Orientierung an der Aufnahme-G.
Schließlich lässt sich mit Blick auf die Wirkungen von Demokratisierung und wachsender Individualisierung mit einem gewissen Recht auch von einer Transformation von R. sprechen. R. hat sich vielfach aus dem Bereich institutioneller bzw. politischer Machtausübung in die Sphäre der Zivil-G. und die persönlichen Beziehungsnetzwerke verlagert. Im Fall der katholischen Kirche kann man das Zweite Vatikanische Konzil als eine solche epochale Transformation bezeichnen. Der Transformationsbegriff selbst bleibt aber zu vage, um als neue analytische oder handlungsleitende Kategorie für den Zusammenhang von R. und G. dienen zu können.
2. Gesellschaftlicher Konflikt und Konsens
Aktuell drängend ist die Frage, wie sich R. zu Konflikt (Sozialer Konflikt) und Konsens in ausdifferenzierten, pluralen G.en verhält. Die zeitweise prognostizierte „Rückkehr der R.en“ ist zumindest in westlichen G.en v. a. eine Rückkehr in die Politik. Die graduelle Anpassung der verfassungsrechtlichen Ordnung des Verhältnisses von Staat und R. verläuft meist friedlich und in je unterschiedlichen geschichtlichen Bahnen (Kirche und Staat). Die Bedeutung nationaler Pfadabhängigkeiten des R.s-Verfassungsrechts spiegelt sich auch in der Grundordnung der EU (Art. 17 AEUV) und in der Religionszugehörigkeit wider.
Indes ist das Thema R. in Politik und Öffentlichkeit heute ebenso virulent wie kontrovers. Anhaltend wird gestritten, ob und wie R. den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert oder gefährdet. In Europa wird dies v. a. im Diskurs rund um „den Islam“ verhandelt. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive fällt auf, dass in diesen Diskursen religiöse Identitäten eine neue Wichtigkeit erhalten. R. dient in Prozessen des „Otherings“, d. h. der kollektiven Ausgrenzung und Diskriminierung minoritärer Gruppen, als Marker. Mehr noch als der islamistische Terror selbst haben solche populistischen Reaktionen (Populismus) das Potential, der offenen G. und ihrer Demokratie dauerhaft zu schaden. Für sich genommen vermag der islamistische Terror (Islamismus) demokratische G.en in der Substanz nicht zu schwächen. Erst wenn die jeweilige G. selbst ihre freiheitlichen Ideale und das alltägliche Miteinander in Verschiedenheit in Frage stellt, beginnt die Gefährdung der politischen Gemeinschaft, etwa, wenn mit dem Bild vom „christlichen Abendland“ (Abendland) gesellschaftliche Polarisierungen erzeugt werden, die große Teile der G. spalten und Minderheiten marginalisieren.
3. Religions- und Identitätspolitik
In diesen Auseinandersetzungen wird mittelbar auch die gesellschaftliche Position des Christentums verändert. Bis in die 2000er Jahre bestand v. a. in Deutschland ein breiter Konsens, dass Kirchen und R.s-Gemeinschaften einen wichtigen (zivil-)gesellschaftlichen Beitrag leisten, der auch (religions-)politisch als solcher anerkannt worden ist. Aktuell ist eine doppelte Bewegung zu erkennen. Einerseits mehren sich die Stimmen, die R. per se als gesellschaftlich schädlich betrachten. Klassisch-säkularistisch wird gefordert, R.en zu entmachten, zu privatisieren und so zu marginalisieren. Andererseits und gleichzeitig werden religiöse Identitäten politisch gezielt genutzt, um Polarisierungen zu schaffen. Neue populistische Bewegungen und Parteien setzen verbliebene kulturelle Traditionsbestände des Christentums als soziale Marker für exklusive, nationalistische Identitäten ein. Hierbei dürfte ihnen nicht zuletzt die zunehmende Digitalisierung der G. behilflich sein, die die Debatten- und Diskussionskultur verändert. Etablierten Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und Interessengruppen, aber auch den traditionellen Kirchen und R.s-Gemeinschaften scheint die Fähigkeit abhanden zu kommen, ihr Selbstbild und ihre Ziele gesellschaftlich nachhaltig zu vermitteln. Für Kirchen und Gläubige ist diese verstärkte mediale (und auch wissenschaftliche) Diskursivität von R. nicht nur eine eminent politische Frage. Sie ist auch eine Herausforderung für die Verkündigung der frohen Botschaft in einem veränderten, teils aseptisch-säkularen, teils pseudo-christlichen Umfeld.
Literatur
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Internetquelle:
Swiss Metadatabase of Religious Affiliation in Europe, URL: https://smre-data.ch/ (abger.: 23.4.2020).
Empfohlene Zitierweise
A. Liedhegener: Religion und Gesellschaft, I. Sozialwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Religion_und_Gesellschaft (abgerufen: 22.11.2024)
II. Theologisch
Abschnitt drucken1. Allgemein
Da jede Religionsgemeinschaft Teil einer Gesamt-G. ist, muss sie ihr Verhältnis zu dieser im Rahmen ihrer Glaubensüberzeugungen auf der Basis ihrer Offenbarungstexte (wie Bibel, Koran) definieren. Diese enthalten beim Christentum und beim Islam einen Missionsanspruch (Mission), der den eigenen Glauben auf die gesamte G., in der Gegenwart letztlich weltweit ausdehnen will. Hingegen verzichten andere (Juden [ Judentum ], Drusen, Jesiden) ganz auf Missionsbestrebungen; Teile des Hinduismus begannen sie erst als Gegenreaktion zu solchen von anderen R.en. Das theologische Selbstverständnis in Bezug auf die G. unterliegt dem historischen und gesellschaftlichen Wandel, etwa ob es sich um eine moderne oder vormoderne G. handelt, wie heterogen R.s-Gemeinschaften in sich selbst sind, wie ihr Anteil und ihr Status in verschiedenen G.en aussieht und durch welche Merkmale die G.en geprägt sind, in denen R.s-Gemeinschaften bzw. Kirchen jeweils wirken. So entwickelten die beiden Kirchen in Deutschland bis zur Wiedervereinigung in den getrennten Landesteilen unterschiedliche Konzeptionen ihres Verhältnisses zur jeweiligen G. Bei international verbreiteten R.s-Gemeinschaften kann es daher erhebliche Ungleichzeitigkeiten geben, indem unterschiedliche theologische Strömungen ortsabhängig vorherrschen.
2. Theologische Grundmuster des Verhältnisses von Christentum und Gesellschaft
Distanzierung von der herrschenden G. als Mittel zur Glaubensverbreitung war die Konzeption in den ersten Jahrhunderten der Christentumsgeschichte. Man hielt sich vom heidnischen Götterkult (Kaiseropfer, Götzenfleisch) ebenso fern wie von abgelehnten Praktiken (Kindstötungen, Gladiatorenkämpfen) und als unethisch angesehenen Berufen (Soldaten, Schauspieler). Distanzierung praktizieren bis in die Gegenwart auch einzelne Personen (Einsiedler), kleinere Gruppen (kontemplative Klöster), die dies mit ihrer spezifischen Spiritualität rechtfertigen, sowie kleinere religiöse Gemeinschaften (Sekten). Dies gilt etwa bis in die Gegenwart in den USA (Amische u. a.). Solche „Kontrast-G.en“ (integrierte Gemeinden), die sich auch als Inseln in modernen G.en finden, wollen anziehend sein und für den eigenen Lebensstil werben.
Durchdringung aller Lebensbereiche: Nachdem das Christentum im römischen Reich zur Mehrheits-R. geworden war, wurden alle Lebensphasen, -bereiche und -äußerungen christlich gedeutet (z. B. Heilige für alle Berufe). Das Lehramt erhob zunehmend den Anspruch, die G. umfassend regulieren zu wollen. Die gestärkte Stellung der Kirche führte zur Änderung in kirchlichen Lehren, wenn etwa für den christlichen Staat antike Lehren vom „gerechten Krieg“ (Cicero) durch Augustinus und Thomas von Aquin rezipiert wurden. Eine Verfolgung „Abtrünniger“ wird von Augustinus erstmals im Donatistenkonflikt legitimiert, später auch eine gewaltsame Ausbreitung des Glaubens, um die Einheit von Glaube und Reich herzustellen. Die Ostkirche ordnete sich der staatlichen Gewalt unter und erhob nicht den Anspruch, auch die Politik bestimmen zu wollen. Es wurden Eigenlogiken des ökonomischen Systems (Zins) abgelehnt und in der Westkirche im politischen Raum eine Überordnung der geistlichen über die politische Macht (z. B. 1302 Bonifaz VIII., „Unam Sanctam“) theologisch eingefordert. Konzeptionell blieb dieser Anspruch auf kirchliche Regulierung aller Lebensbereiche in Ländern mit fast rein katholischer Bevölkerung bis in die zweite Hälfte des 20. Jh. (Spanien, Irland) bestehen, indem z. B. die staatliche Gesetzgebung (Verbot von Ehescheidung, Abtreibung) mit der kirchlichen Morallehre übereinstimmte. Das Bestreben nach der religiösen Durchdringung aller Lebensbereiche galt nach der Reformation auch für Reformierte und Lutheraner (vgl. etwa Johannes Calvin in Genf), war im Luthertum aber zumeist gegen den Staat als Schutzmacht der Reformation nicht mehr durchzusetzen.
Abschottung: Dort, wo sich mit der Reformation, Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten mächtige antikatholische Kräfte in einer G. entwickelt hatten, erfolgte katholischerseits eine Abgrenzung von nichtkatholischen Teilen der G. Verbindungen aller Art zu anderen Personengruppen wurden sanktioniert (Verbot von Mischehen, Mitgliedschaft in sozialistischen Parteien oder Gewerkschaften, theologische Rezeption aufklärerischer Philosophien, Kontakte zu anderen christlichen Gemeinschaften). Diese katholische Parallelwelt hielt sich von den als kirchenfeindlich wahrgenommenen Strömungen und einer zutiefst unchristlich gedeuteten „Welt“ fern. Zentrale kirchliche Dokumente dieser Konzeption sind etwa „Mirari Vos“ von Gregor XVI. (1832) und „Quanta Cura“/„Syllabus errorum“ von Pius IX. (1862). Das neuscholastische Naturrecht lieferte dazu die theologische Grundlage der näheren Bestimmung der kirchlichen Eigenwelt, ohne den Anspruch auf Durchdringung aller Lebensbereiche aufzugeben, indem die Inhalte des Naturrechts als vernunftmäßig einsehbar und damit auch als für andere Konfessionen, R.en und Weltanschauungen akzeptabel ausgegeben wurden.
Pluralität und Dialog: V. a. unter dem Einfluss der Aufklärung wurden im Luthertum Eigengesetzlichkeiten von Kultursachbereichen wie Politik und Wirtschaft zunehmend respektiert. Dies geschah nicht ohne theologische Kontroversen, weil die Unterscheidung verschiedener Lebensbereiche und ihrer ethischen Anforderungen – konkret von Familie und personalen Beziehungen einerseits sowie von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft andererseits – als „Doppelmoral“ kritisiert wurde.
In der katholischen Kirche erfolgte auf gesamtkirchlicher Ebene erst im Zweiten Vatikanischen Konzil eine Neubestimmung des Verhältnisses zur G., indem andere christliche Gemeinschaften und Kirchen anerkannt, andere R.s-Gemeinschaften gewürdigt und die Bereitschaft zum Dialog mit Personen anderer Weltanschauungen bekundet wurde (Interreligiöser Dialog). Die Dokumente DH zur R.s-Freiheit, NA zu anderen R.s-Gemeinschaften sowie die Pastoralkonstitution GS sind hier wesentlich. Indem die Menschenwürde und die theologische Gottebenbildlichkeit aller Menschen mit konkreten institutionellen Folgen für jede G.s-Ordnung (Menschenrechte, pluralistische Demokratie) anerkannt wurden, konnte die Kirche ihre Bereitschaft, von der G. zu lernen, die Achtung der Autonomie anderer Kultursachbereiche etc. artikulieren. Die Pluralität der G. wird nicht nur nach außen, sondern auch hinsichtlich unterschiedlicher politischer Optionen von Katholiken als legitim angesehen. Dabei werden der eigene Wahrheitsanspruch und der Versuch, grundlegende christliche Wertvorstellungen im Bewusstsein der Menschen wie in den Strukturen der G. zu verankern, nicht aufgegeben. Es wird aber darauf verzichtet, diesen mit Hilfe des Staates bzw. durch gesellschaftliche Macht der Kirche (z. B. kirchliche Kontrolle aller Bildungseinrichtungen, Kirche als bedeutsamer ökonomischer Akteur) durchzusetzen, sondern die Kirche versteht sich in der Gegenwart stärker als Akteur der Zivil-G., die in modernen G.en auch mit einer wachsenden Zahl von nichtreligiösen Menschen konfrontiert ist.
3. Aktuelle Herausforderungen im Verhältnis von Kirche und Gesellschaft
Die Gewinnung möglichst vieler Menschen für das Christentum und die Prägung gesellschaftlicher Wertvorstellungen und Institutionen durch eine christliche Ethik ist die bleibende Aufgabe der katholischen Kirche in den verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten der Gegenwart. Innerkirchlich ist dabei aber umstritten, ob gegenwärtig in bestimmten G.en stärker das Grundmuster der „Distanz“ betont werden muss, um nicht durch die Gefahr der „Verweltlichung“, d. h. eine zu starke Anpassung an gegebene gesellschaftliche Institutionen, Wertvorstellungen bzw. Ideologien (z. B. Marxismus, Kapitalismus, Liberalismus, Technokratie) das christliche Zeugnis bzw. das Profil einer christlichen Ethik zu relativieren. Distanzierung kann freilich Unterschiedliches bedeuten. Im Kontext des marxistisch beeinflussten Flügels der Theologie der Befreiung aus Lateinamerika standen eine Umdeutung zentraler Glaubensinhalte, kirchlicher Strukturen und christlicher Wertvorstellungen (Gewaltfreiheit) zur Diskussion. Aber auch eine „Entweltlichung“ und Distanz zu gesellschaftlich vorherrschenden Wertvorstellungen und Institutionen könnte so den biblischen Auftrag der Evangelisierung fördern.
Andere Akzente werden gesetzt, wenn im Kontext von Pluralität und Dialog der drängende Einsatz gegen aktuelle und konkrete Nöte und gesellschaftliche Defizite, von denen sich die Kirche nicht fernhalten kann, in den Vordergrund gestellt wird. Beim Einsatz für Arme und Benachteiligte sowie beim Kampf gegen soziale Übel kann man nicht nur die Reinheit der Lehre vertreten, sondern sie können eine „‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist“ (EG 49) zur Folge haben. Die Frage nach einer Beteiligung oder eines kirchlichen Ausstiegs aus der Schwangerenkonfliktberatung (Schwangerschaftsabbruch) in Deutschland steht exemplarisch für diese Kontroverse.
Literatur
J. Erbacher (Hg.): Entweltlichung der Kirche, 2012 • F. X. Kaufmann: Gesellschaft-Kirche, in: P. Eicher (Hg.): Neues Hdb. theologischer Grundbegriffe, Bd. 2, 1984, 65–80 • J. B. Metz: Zur Theologie der Welt, 1968.
Empfohlene Zitierweise
J. Wiemeyer: Religion und Gesellschaft, II. Theologisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Religion_und_Gesellschaft (abgerufen: 22.11.2024)