Politische Bildung

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1. Begriff und Ziel

Unter p.r B. soll hier verstanden werden alles theoretisch begründete und methodisch geleitete Bemühen in Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung, Politik verstehbar zu machen und so Menschen zu begründetem politischem Urteilen und Handeln zu befähigen. Als intentionales Handeln ist p. B. zu unterscheiden von politischer Sozialisation durch Instanzen wie Familie, soziales Umfeld, Medien. P. B. setzt politische Sozialisation voraus, kann auf sie aufbauen, sie aber auch korrigieren. Als Leitziel p.r B. gilt die Vorstellung vom mündigen, rational urteilenden und verantwortlich handelnden Bürger. Sie lässt sich aus der Tradition der Aufklärung, bes. aus Immanuel Kants Konzept vom moralisch autonomen Subjekt begründen, darf aber nicht idealistisch überhöht und individualistisch verengt werden. Personsein entfaltet sich in sozialen Beziehungen. In ihnen ist Selbstbestimmung in aller Regel nur in Formen von Mitbestimmung realisierbar. P. B. braucht deshalb nicht nur eine Vorstellung von Bildung, sondern auch einen konsistenten Begriff von Politik. Diese soll hier verstanden werden als ein spezifisches Handeln, das auf die verbindliche Regelung gesamtgesellschaftlicher Fragen zielt und dazu eine Ordnung von Institutionen und Regeln entwickelt und nutzt.

2. Politische Bildung im demokratischen Verfassungsstaat

Demokratie und p. B. bedingen einander. Einerseits ist p. B. nur unter freiheitlichen Bedingungen möglich; andererseits braucht der freiheitliche Verfassungsstaat urteilsfähige Bürger.

Im vordemokratischen Obrigkeitsstaat gab es „vaterländische Erziehung“. Der Nationalsozialismus versuchte, die gesamte Erziehung ideologisch zu durchdringen. Die „Staatsbürgerkunde“ der DDR hatte die „sozialistische Persönlichkeit“ zum Ziel. Diese Versuche wirkten nicht selten auch kontraproduktiv, können aber grundsätzlich nicht als p. B. bezeichnet werden.

Der demokratische Verfassungsstaat ist ein komplexes Kulturgebilde. Seine Prinzipien und Institutionen setzen ein hohes Maß an politischer Kultur seiner Bürger, an politischer Urteilsfähigkeit und Beteiligungsbereitschaft sowie einen ständigen Lernprozess zwischen den Generationen voraus. In einer funktionierenden Demokratie geschieht das v. a. in und durch politische Praxis; es kann und soll aber unterstützt werden durch intentionales Lehren und Lernen.

P. B. steht also nicht in einem indifferenten Verhältnis zum freiheitlichen Verfassungsstaat. Sie soll dessen Wertgrundlagen und den Sinn seiner Institutionen verstehbar machen und leistet so einen Beitrag zur politischen Kultur der Gesellschaft. Das ist aber eine sekundäre Wirkung p.r B., nicht ihr eigentliches Ziel.

Lehrende wie Lernende sind freie Menschen und Bürger und können nur als solche zu guter demokratisch-politischer Kultur beitragen. Deshalb muss p. B. auf freie politische Urteilsbildung und auf freibleibende Bereitschaft zur politischen Partizipation zielen. Damit verbietet sich jede Art von Indoktrination und jede Dominanz des Gesinnungshaften. Dennoch dürfen in den Lehr- und Lernprozessen die Wertgrundlagen der freiheitlichen Verfassung nicht fehlen. Wie freie Urteilsbildung und Wertorientierung in p.r B. zusammenkommen können, ist eine zentrale Frage ihrer Gestaltung. Dazu muss Verständnis für die politische Realität mit Akzeptanz ihrer Wertorientierungen verbunden werden. P. B. muss die Idealisierung der demokratischen Ordnung ebenso vermeiden wie „wertfreien“ Realismus. Das Bemühen um diesen Zielen angemessene Konzepte durchzieht die Geschichte p.r B. in der BRD.

3. Die Anfänge (1945–65)

In der Weimarer Republik war p. B., obwohl als „Staatsbürgerliche Erziehung“ in der Verfassung verankert, über programmatische Ansätze nicht hinausgekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die Besatzungsmächte, Umerziehungsprogramme durchzusetzen. Am einflussreichsten war die amerikanische Vorstellung von reeducation. Sie war anfänglich stark psychotherapeutisch gedacht, als Änderung des deutschen Volkscharakters. Aber schon 1946 wirkten stärker das Muster der amerikanischen social studies und das Konzept eines „demokratischen Schullebens“. Von deutscher Seite begegneten diese Versuche zunächst erheblicher Skepsis, blieben aber mit zunehmender Verständigung und mit der Gründung der BRD 1949 nicht ohne Einfluss auf deutsche Vorstellungen. So flossen Elemente der reeducation in die ersten „Grundsätze der politischen Bildung“ der KMK vom 15. 6. 1950 ein. Sie proklamierten p. B. als Unterrichtsprinzip in allen Fächern, daneben einen spezifischen Fachunterricht sowie Schülermitverwaltung und politische Begegnungen. Bes. wirksam für die weitere Fundierung p.r B. wurde der Beschluss, sozial- und politikwissenschaftliche Lehrstühle und Dozenturen an Universitäten und Hochschulen einzurichten.

Eine Reihe namhafter Wissenschaftler, teils aus der Emigration zurückkehrend, entwickelten neue wissenschaftliche Konzepte zum Verständnis von Gesellschaft und Politik. Theoretisch unterschiedlich akzentuiert, sahen sie sich doch alle der Aufgabe verpflichtet, die neue demokratische Verfassung im Verständnis bes. der künftigen Lehrer zu fundieren.

Das in den 50er Jahren in fast allen Bundesländern eingeführte Schulfach, unterschiedlich benannt (Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Gegenwartskunde), erfuhr so von den Wissenschaften her Grundlegung, Kritik und Korrektur. Diese richtete sich bes. gegen die anfänglich unpolitisch-pädagogische Zielsetzung, die eher auf partnerschaftliches Miteinander als auf politisches Denken und Urteilen gerichtet war. Eine stärker politische Ausrichtung erfuhr der Unterricht auch aus der wenn auch zögerlich beginnenden Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, parallel dazu mit dem Kommunismus, sowie aus dem Bemühen, Verständnis für die „wertgebundene und abwehrbereite“ Demokratie zu vermitteln. In diesem Sinn war p. B. getragen von einem antitotalitären Konsens.

Das Interesse der Politik an p.r B. führte 1952 zur Gründung der bpb (zunächst unter anderem Namen) und in den Bundesländern zu vergleichbaren Landeszentralen. Sie fördern bis heute p. B. durch Tagungen für Multiplikatoren, durch die Unterstützung freier Träger und durch Publikationen. Die bpb wurde v. a. durch ihre zahlreichen fachwissenschaftlichen und politisch-pädagogischen Publikationen, in den frühen Jahren bes. zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, zur bedeutendsten Fördereinrichtung p.r B. in Deutschland. Daneben gewann die Akademie für politische Bildung in Tutzing überregionale Bedeutung durch die wissenschaftliche Fundierung p.r B. in Publikationen wie durch systematische Seminararbeit.

4. Konzepte politischer Bildung zwischen Konflikt und Konsens

Die Spezialisierung der Politik- und Sozialwissenschaften, zunehmende Kritik am herrschenden Konsens und die als dringlich empfundene Reform der Lehrpläne machten eine eigenständige Wissenschaft von p.r B. (Didaktik) notwendig und führten zur Entwicklung konkurrierender didaktischer Konzepte. Sie wurde seit Ende der 60er Jahre überlagert von einem tiefgehenden Richtungsstreit. Unter dem Einfluss der „68er Bewegung“ zerbröselte der von seinen Kritikern als restaurativ bis reaktionär interpretierte Verfassungskonsens. Die Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre (1973) sollten mehrere Fächer unter einer marxistisch grundierten Konflikttheorie (Marxismus) integrieren. Die Nordrhein-Westfälischen Richtlinien für den Politikunterricht verfolgten ein an der Kritischen Theorie orientiertes emanzipatorisches Konzept, das die Institutionen des Verfassungsstaates vernachlässigte. Beide Ansätze führten zum Streit in Wissenschaft und Politik.

Veranlasst von den Kultusministern von Bayern (Hans Maier) und Rheinland-Pfalz (Bernhard Vogel) legten vier Autoren 1976 den Grundriss eines Gegenentwurfs vor. Im gleichen Jahr lud die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Didaktiker unterschiedlicher Orientierung zum Gespräch. Auf dessen Grundlage wurde der bis heute als hilfreich erachtete „Beutelsbacher Konsens“ formuliert. Politikunterricht sollte drei Leitlinien beachten: Das Überwältigungsverbot, politische Kontroversen, Schülerinteressen.

Vor dem Hintergrund dieser Selbstverständlichkeiten suchten in den 70er/80er Jahren eine Reihe didaktischer Konzepte zentrale Fragen p.r B. zu beantworten: Nach welchen Prinzipien lassen sich Ziele bestimmen, Inhalte auswählen, deren Komplexität reduzieren, Themen strukturieren? Diskutiert und unterschiedlich gewichtet wurden und werden bis heute didaktische Prinzipien wie Problemorientierung, Aktualität, Zukunftsbedeutsamkeit, Adressatenorientierung, Wissenschaftsorientierung, Handlungsorientierung. Zur Strukturierung in Lehr- und Lernschritte wurden unterschiedliche Modelle vorgeschlagen: Der Dreischritt von Sehen, Urteilen, Handeln für Fall- und Problemanalysen; das Modell des Regelkreises für das politische System; die Unterscheidung von polity, policy und politics für das eher wissenschaftsorientierte Erklären von Politik.

Diese Konzepte setzen voraus, dass Politik der spezifische Gegenstand p.r B. ist, genauer: ihr Formalobjekt. Materialiter kann es p. B. mit sehr heterogenen Inhalten zu tun haben, weil Politik gleichsam quer steht zu den anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Deshalb ist bis heute die Frage nicht konsensfähig beantwortet, welche Rolle die verschiedenen Sozialwissenschaften (neben Politikwissenschaft Soziologie, Ökonomie, Recht) in p.r B. spielen sollen. Manche Autoren favorisieren einen sozialwissenschaftlichen Fächerverbund mit wechselnden Formalobjekten. Konsequenter im Sinn p.r B. ist es, die einzelnen Disziplinen unter den Aspekt des Politischen zu rücken; unter die Frage, was sie zum Verständnis von Politik beitragen.

Vernachlässigt wird in neueren Konzepten die Zeitgeschichte. Das ist bedenklich, weil Geschichtlichkeit eine Grundkategorie des Politischen ist. Es gibt kein aktuell politisches Problem von einigem Gewicht, keine politische Institution, keine politische Ordnung, die ohne ihre geschichtliche Herkunft hinlänglich verstehbar wäre. P. B. muss sich deshalb der Geschichtlichkeit des Politischen vergewissern.

5. Kategoriale politische Bildung

Als hilfreich für die Sicherung des politischen Charakters p.r B. erwies sich die Orientierung didaktischer Konzepte an der Theorie kategorialer Bildung. In ihr werden Kategorien verstanden als dem jeweiligen Gegenstand angemessene Fragen des erkennenden Subjekts. Sie bilden eine Brücke zwischen Subjekt und Objekt und überwinden so den Streit zwischen materialer und formaler Bildung.

Seit Ende der 60er Jahre rückte die Kategorie des Konflikts ins Zentrum, nicht selten marxistisch grundiert. Die weitere Diskussion hat das korrigiert und zu der Einsicht geführt, dass sich p. B. analytischer und normativer Kategorien bedienen muss: Konflikt und Kompromiss, Macht und Recht, Partizipation und Repräsentation, Prinzipien und Institutionen, Interessen und Gemeinwohl. Politische Urteilsfähigkeit erweist sich v. a. im Denken im Für und Wider nicht nur in Interessen-, sondern auch in normativ bedingten Zielkonflikten.

Die Frage nach den Kategorien des Politischen lebt fort im Streit um „Kompetenzmodelle“. Kompetenzen können die Ziele kategorialer Bildung konkretisieren, Erkenntnis- und Handlungsziele sollten aber nicht gegeneinander ausgespielt werden. P. B. soll partizipatorische Fertigkeiten vermitteln, aber diese in politischer Urteilskraft fundieren.

Einige Autoren plädieren dafür, p. B. als Demokratielernen zu konzipieren; Demokratie als Lebensform, als Gesellschaftsform und als Herrschaftsform zu verstehen und zu leben. Demokratie wird so zum Formalobjekt p.r B. erklärt. Das scheint plausibel, und methodische Konzepte zum Einüben „demokratischer“ Umgangsformen sind hilfreich. Das Konzept krankt aber an theoretischen Defiziten. Den Demokratiebegriff analog auf Kleingruppen und gesellschaftliche Handlungsfelder anzuwenden, wird deren Handlungsbedingungen nur schwer gerecht. Als Herrschaftsform verstanden bringt er das komplexe Gefüge des freiheitlichen Verfassungsstaates nur unzulänglich zum Ausdruck. Demokratie lebt von der Partizipation der Bürger, braucht aber zugleich eine rechtsstaatliche Verfassung; und Politik ist kategorial mit dem Demokratiebegriff nicht hinlänglich erfasst.

Auch die didaktischen Prinzipien der Handlungsorientierung und der Werterziehung müssen genauer bedacht werden. Kategorial geleitete Urteilsbildung ist, da sie Politik als Handlungsproblem und als Handlungsmodus im Blick hat, immer ein „inneres Handeln“. Sie geschieht in kommunikativen Formen der Urteilsbildung wie Gespräch, Diskussion, Debatte, Rollenspiel, Simulation. Sie ist gemeinsames Handeln, das von Reflexionsprozessen begleitet ist und so bildungswirksam wird. In solchen Prozessen kommen auch die Wertorientierungen der Handelnden sowie die Wertgrundlagen der Verfassung ins Spiel. Werterziehung als Bildungsprozess besteht nicht in der „Weitergabe“ von Werten, sondern in der Befähigung von Lernenden, Wertfragen zu erkennen und ein eigenes Urteil zu finden. Bildung ist gerade in diesem Feld immer nur ein Ermöglichen.

Die Ziele p.r B. dürfen nicht zu idealistisch gesetzt werden. Die didaktische Diskussion unterscheidet mit einer gewissen Bescheidenheit unterschiedliche „Bürgerleitbilder“, etwa den reflektierten Zuschauer, den politisch interessierten Bürger, den interventionsfähigen Bürger, den partizipierenden Aktivbürger. Wenn p. B. in der Schule die erste und zweite dieser Stufen erreicht, ist das schon ein Erfolg.

6. Politische Bildung freier Träger

Es gibt eine Vielzahl von Angeboten politscher Jugend- und Erwachsenenbildung durch freie Träger. Sie sind, anders als die Schulen, frei in der Wahl ihrer Inhalte, Formen und Adressaten. Träger sind Volkshochschulen, kirchliche und gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen sowie die parteinahen Stiftungen (Politische Stiftungen). Übergeordnete Zusammenschlüsse, so der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, der Bundesausschuss für politische Bildung und die Arbeitsgemeinschaften konfessioneller Bildungswerke, geben ihren Mitgliedern Anregungen und betätigen sich öffentlich als Lobby für p. B.

Die freien Träger leisten einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur der pluralistischen Gesellschaft. Ihre spezifische Orientierung in Themenwahl und Wertungen hindert die freie Urteilsbildung der Teilnehmer nicht, wenn der Regelkonsens politischer Didaktik beachtet wird.

7. Wirksamkeit und neue Aufgaben

Was die Wirksamkeit p.r B. betrifft, ist eine anfängliche Euphorie gesunder Skepsis gewichen. Soziale Milieus, öffentliche Diskussion, Medien beeinflussen politische Meinungen und Urteile stärker. In den Schulen hat p. B. eine gewisse Breitenwirkung, als Fach steht sie aber am Rand. Freie Jugend- und Erwachsenenbildung ist erfolgreicher, weil sie auf ein Interesse ihrer Teilnehmer trifft und intensiver arbeiten kann. Sie erreicht aber nur eine Minderheit. Empirische Wirkungsforschung versucht, genauere Antworten zu geben, ist aber aus Mangel an Ressourcen bisher wenig entfaltet und stößt auch an prinzipielle Grenzen. Man kann zu untersuchende Gruppen nicht aus ihrem sozialen Kontext herauslösen und „Erfolge“ p.r B. deshalb nicht völlig von anderen Einflüssen abgrenzen.

Neue Aufgaben stellen der p.n B. die neuen Medien. Sie bieten neue Möglichkeiten, fordern aber auch heraus durch die Veränderung, auch Deformierung politischer Kommunikation. Ebenso fordert die Integration zahlreicher Migranten aus fremden Kulturkreisen von p.r B. neue Anstrengungen. Sie kann und muss zu gegenseitiger Akzeptanz beitragen durch Pflege der politischen Kultur, die eine notwendige Grundlage des freiheitlichen Verfassungsstaates ist.