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Aktuelle Version vom 5. Juli 2023, 09:44 Uhr
I. Rechtswissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Rechtlicher Begriff
Für den Begriff der V. fehlt es an einer allgemeinen Legaldefinition. Gleichwohl können V. als nicht-staatliche, auf einem freiwilligen Zusammenschluss natürlicher oder juristischer Personen beruhende, mitgliedschaftliche Vereinigungen beschrieben werden, die auf der Grundlage eines konsolidierten Statuts eine interne Organisationsstruktur aufweisen und mit einer gewissen Dauerhaftigkeit auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene gemeinsame, egoistische oder altruistische Ziele oder Interessen im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder politischen Bereich verfolgen. Der Rechtsform nach handelt es sich um privat-rechtliche Gebilde, zumeist in Form rechtsfähiger oder nicht rechtsfähiger Vereine. Die Abgrenzung zu Gruppen, die sich mehr oder weniger spontan aus bestimmten Gründen bilden, wie Bürgerinitiativen, Hilfsaktionen, soziale Bewegungen und ähnliche, ist fließend. Öffentlich-rechtliche Körperschaften, einschließlich der berufsständischen Kammern (Berufskammern) oder der Kommunal-V., ebenso wie von diesen getragene (privatrechtliche) Dachorganisationen, wie z. B. der Deutsche Industrie- und Handelskammertag oder der Deutsche Städtetag, gehören nicht hierher. Derartige Körperschaften beruhen stets auf der gesetzlichen Zuweisung eines in Selbstverwaltung wahrzunehmenden Kreises öffentlicher Aufgaben, auch wenn dies die Interessenvertretung ihrer Mitglieder mit umfasst. Wegen ihrer eigengearteten Rechtsstellung können auch die Kirchen und Religionsgesellschaften nicht der Kategorie der V. zugerechnet werden.
2. Stellung im Recht
Das GG gewährt den V.n keinen hervorgehobenen Status. Insb. wird ihnen anders als den politischen Parteien ein Anteil an der politischen Willensbildung des Volkes nicht ausdrücklich zugewiesen. Das entspricht ihrem Begriff und Wesen, keine allgemeinpolitischen, sondern stets partikulare Interessen zu bündeln, zu fördern und zu vertreten. Indessen genießt die Gründung und – nach der (umstrittenen) Lehre vom Doppelgrundrecht – auch das Wirken der V. den grundrechtlichen Schutz der Vereinigungsfreiheit. Dies gilt zwar gleichermaßen für jedes andere Gebilde gesellschaftlicher Selbstorganisation. Doch liegt darin zugleich eine Anerkennung der V. als prinzipiell legitime Akteure einer gruppenpluralistischen Ordnung, kehrseitig eine Absage an das Misstrauen gegen die „intermediären“ Mächte im politischen Raum zwischen Individuum und Staat. Die spezielle Gewährleistung der Koalitionsfreiheit untermauert dies noch. Unter ihrem Schutz wird die Ordnung des Arbeitslebens der Aushandlung durch organisierte Arbeitnehmerschaft und Arbeitgeberschaft (Gewerkschaften, Arbeitgeber-Verbände) überlassen. Im Übrigen aber kommt der verbandlichen „Repräsentation organisierter Interessen“ (Kaiser 1978) weder eine bes. schutzwürdige Stellung im öffentlichen Wettbewerb der Interessen und Meinungen zu noch sind ihr irgendwelche Vorrechte auf Teilhabe an staatlicher Begünstigung, Amtsgewalt, Zuständigkeit oder Entscheidung eingeräumt.
Doch das Bild wandelt sich, blickt man auf die Rechtslage unterhalb der Verfassung. Die politisch-soziale Relevanz der V. sieht sich heute in vielfacher Weise durch Regelungen des Gesetzgebers gesichert und gefördert. Die gesetzliche Umhegung zielt dabei im Wesentlichen darauf, erstens die für die Verwirklichung der grundrechtlichen V.-Freiheit notwendigen und angemessenen Regeln bereitzustellen, zweitens die spezifischen Beiträge und Leistungspotentiale der V. im Dienste des Governance-Konzepts (Governance) für das Allgemeinwohl (Gemeinwohl) zu aktivieren, und drittens die tatsächliche Einflussmacht der V. in kontrollierte und transparente Bahnen zu lenken. Von Bedeutung sind hier v. a. die Varianten der steuerlichen Begünstigung des verbandlichen Wirkens, insb. bei der Erfüllung gemeinnütziger Zwecke (Gemeinnützigkeit), sowie die den V.n vielerorts speziell zugestandenen Informations-, Beteiligungs-, Hinwirkungs- und Klagerechte.
Solche Rechte steigern beträchtlich das Gehör und das Gewicht der V.-Interessen in den Vorgängen der staatlichen Rechtssetzung und -durchsetzung. Im Bereich der (Bundes-) Gesetzgebung sind hier allemal die Anhörungs- und Mitwirkungsformate in den Geschäftsordnungen der beteiligten Organe (Bundestag, -regierung, -rat, -ministerien) zu nennen. Große Bedeutung haben sodann die Ansprüche auf Zugang zu amtlichen Dokumenten, die vielfach privilegierte Partizipation an exekutivischer Rechtssetzung (Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften) und behördlichen Einzelentscheidungen, weiterhin die Mitgliedschaft in pluralistisch besetzten Verwaltungsgremien (Räte, Ausschüsse, Beiräte etc., etwa im Rundfunk-, Medien- und Jugendschutzrecht) sowie nicht zuletzt die Ermächtigungen, auf die Einhaltung gesetzlicher Verhaltensregeln hinzuwirken, wie namentlich durch sogenannte Abmahn-V. Auch die Judikative kennt eine Anzahl institutionalisierter V.-Beteiligungen. Ein markantes Beispiel liefert die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, in der die einschlägigen V. berechtigt sind, Beisitzer zu entsenden und an der Auswahl von Richtern mitzuwirken. Ein zunehmender V.-Einfluss auf die Rechtsprechung rührt aus der Ausdehnung der (altruistischen) V.-Klagerechte, d. h. der Befugnisse von V.n, ohne Betroffenheit in eigenen subjektiven Rechten zur Durchsetzung von allein objektiv geschützten Belangen Klage zu erheben. Solche Klagemöglichkeiten sind den V.n zumal im Sozialrecht, im Wettbewerbs-, Verbraucher- und Datenschutzrecht sowie im Umwelt-, Natur- und Tierschutzrecht eingeräumt und verstärken die ihnen hier ohnehin gewährten Rechte zur Interessenverfolgung.
Die Mobilisierung der V. im nationalen Recht ist dabei vielfach Folge maßgebender Rechtsakte der EU (Richtlinien, Verordnungen, EuGH-Rechtsprechung [ EuGH ]). Diese verstehen sich auch als Konkretisierung der vertraglichen Grundentscheidung (in Art. 11 EUV), den „repräsentativen V.n“ in der Unionspolitik effektive Partizipation zu ermöglichen. Institutionell sind die V. zudem im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss vertreten und über dessen Anhörungsrechte an der Willensbildung der EU-Organe beteiligt. Auch beim Wirtschafts- und Sozialrat der UNO kann den V.n (NGOs) ein Konsultativstatus zuerkannt werden (Art. 71 UN-Charta). Im Europarat genießen die in der Konferenz der internationalen NGOs zusammengeführten V. einen noch darüber hinausgehenden Teilnehmerstatus an den zwischenstaatlichen Entscheidungsprozessen.
Neben solche rechtsförmlichen Beteiligungsformate treten die vielfältigen informellen Einwirkungen der V. auf die Willensbildung öffentlicher Stellen. Im Mittelpunkt steht das V.-Lobbying (Lobby) zur Beeinflussung der Gesetzgebungsorgane. Dessen Regulierung erschöpft sich allerdings im Wesentlichen in der Anlegung eines Registers, in das sich diese Lobby-V. eintragen lassen können, so in die beim Bundestag geführte „Öffentliche Liste“ oder – auf EU-Ebene – in das „Transparenzregister“ von Europäischer Kommission und Europäischem Parlament. Solche Registrierung ist Voraussetzung für eine Anhörung und die Ausstellung von Hausausweisen; in der EU geht sie zudem mit der Anerkennung eines Verhaltenskodex einher. Weitergehende Regularien über den Nachweis eines konkreten V.-Einflusses auf bestimmte Gesetzesinhalte (sogenannter legislativer Fußabdruck) gibt es indessen bislang kaum.
3. Verfassungsstaatliche Funktionen und Ambivalenzen
Das pluralistische V.-Wesen (Pluralismus) trägt zur Bewirkung der verfassungsstaatlichen Ordnung ganz wesentlich bei. In grundrechtlicher Hinsicht erweitert es den Freiheitsraum des Einzelnen hin zu einer auch kooperativen und korporativen Entfaltungsfreiheit. Zugleich wirken die Solidaritäten und Loyalitäten, die die V. erzeugen, einer gesellschaftlichen Entfremdung und Marginalisierung des Individuums entgegen. Der Rechtsstaat wird gestärkt dadurch, dass die V. mit ihren Kommunikationsleistungen die Akzeptanz und aufgrund ihrer förmlichen Beteiligungsrechte die Rationalität und Durchsetzung staatlicher Entscheidungen befördern. Im Hinblick auf das sozialstaatliche Ansinnen sind es neben den Arbeitskoalitionen zumal die Sozial- und Wohlfahrts-V., deren Beiträge und Impulse für die Gestaltung und Verbesserung der sozialen Verhältnisse unverzichtbar sind. Schließlich leistet die Teilhabe der V. an der öffentlichen Meinungsbildung unentbehrliche demokratiestabilisierende Dienste. Indem sie gleichartige Interessen aggregieren und artikulieren, strukturieren und effektuieren sie die Vorformung des politischen Willens und steigern die Responsivität zwischen staatlichem Politikbetrieb und Zivilgesellschaft.
Doch die mit dem Wirken der V. einhergehende Macht der V. birgt auch Gefahren für das verfassungsstaatliche Ordnungsprogramm. Der Freiheitsgewinn sieht sich vielfach durch neue individuelle und soziale Abhängigkeiten geschmälert. Eine asymmetrische Mächtigkeit der verbandlichen Interessenverfolgung verzerrt den freien pluralistischen Willensbildungsprozess und erschwert die Durchsetzung des allgemeinen Interesses. Intransparenter Einfluss ebenso wie eine privilegierte Stellung der V. in staatlichen Entscheidungsverfahren erschüttert den Glauben an die Unabhängigkeit und Allgemeinwohlbindung der Staatsgewalt und unterläuft das demokratische Legitimationsgebot, dass alle Staatsgewalt im Willen des Gesamtvolks zu gründen habe. Die Macht der V. ist daher ein ebenso stabilisierender wie prekärer Faktor des freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaats.
Literatur
W. Spieth/N. Hellermann: Umweltverbände. Mit Macht kommt Verantwortung, in: NVwZ 38/11 (2019), 745–751 • H.-D. Horn: Verbände, in: HStR, Bd. III, 32005, § 11 • H. G. Dederer: Korporative Staatsgewalt, 2004 • D. Grimm: Verbände, in: HdBVerfR, Bd. 2, 21995, § 15 • J. Becker: Gewaltenteilung im Gruppenstaat, 1986 • R. Steinberg (Hg.): Staat und Verbände, 1985 • J. H. Kaiser: Die Repräsentation organisierter Interessen, 21978 • H.-H. von Arnim: Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977 • E.-W. Böckenförde: Die politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände und Interessenträger in der sozialstaatlichen Demokratie, in: Der Staat 15/4 (1976), 457–483.
Empfohlene Zitierweise
H. Horn: Verbände, I. Rechtswissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Verb%C3%A4nde (abgerufen: 25.11.2024)
II. Politikwissenschaftlich
Abschnitt drucken1. Begriff und Bezüge
V. sind formal und dauerhaft organisierte Interessengruppen, deren entscheidende Aufgabe die Vertretung ihrer Klientel im politischen Entscheidungsprozess ist. Sie unterscheiden sich damit einerseits von sozialen Bewegungen und kurzlebigen Bürgerinitiativen, die zwar auch politisch motiviert sind, aber über keine feste Organisation verfügen. Ihr politischer Handlungszweck grenzt sie andererseits von nichtpolitisch motivierten Vereinen ab, die primär der Selbstorganisation sozialer, kultureller oder freizeitlicher Aktivitäten ihrer Mitglieder dienen. Diese begriffliche Abgrenzung ist keineswegs trennscharf, denn aus sozialen Bewegungen können auch fest organisierte V. erwachsen, wie etwa die Umweltbewegung zeigt. Und genuin unpolitische Vereine können punktuell auch politisch agieren, wenn ihr eigenes Wirkungsfeld tangiert ist, wie etwa Trachtenvereine in der Brauchtumspolitik.
Umfang und Entwicklung moderner V.-Systeme sind maßgeblich von drei Faktoren beeinflusst: Erstens spiegeln sie wesentliche Modernisierungstrends (Modernisierung) der jeweiligen Gesellschaft, zweitens die organisatorischen Herausforderungen effektiver Interessenvertretung und nicht zuletzt das Verhältnis zum jeweiligen Staat. An diesem komplexen Bezügefeld wird auch die Brückenfunktion ablesbar, die V. bei der Verschränkung von Gesellschaft und Staat erfüllen.
2. Verbände und Gesellschaft
Moderne Gesellschaften differenzieren und pluralisieren sich stetig. Diesen Trend spiegeln V. in organisatorischer Hinsicht: Generell ist ihre Zahl und Vielfalt in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen: Waren z. B. in der ersten Lobbyliste des Deutschen Bundestages von 1974 nur 635 V. registriert, so sind es 2018 bereits 2 347. In den USA wuchs deren Zahl auf nationaler Ebene zwischen 1955 und 1995 von knapp 9 000 auf rund 24 000 Organisationen. Das sind exemplarische, aber durchaus typische Befunde.
Getragen wird diese Expansion von verschiedenen Modernisierungstrends: Gesellschaftliche Wandlungsprozesse sind am Boom sozialer V. ablesbar, die insb. der Bewältigung sozialer Herausforderungen bzw. Risiken dienen: Ethnische Minderheiten organisieren sich inzwischen ebenso effektiv wie Frauen, Senioren oder die Jugend. Auch Bürgerrechtsgruppierungen, Menschen mit Behinderung, Patienten und Pflegebedürftige sind mittlerweile gut organisiert. In kultureller Hinsicht wird dieser Entwicklungsschub an einer Fülle neuer Kultur-, Schul-, Medien- und Wissenschaftsorganisationen ablesbar, die den Trend zur modernen Wissensgesellschaft ebenso spiegeln wie moderne Sport-V. denjenigen hin zur organisierten Freizeitgesellschaft.
Politische Modernisierungsprozesse, verstanden als Trend zur partizipativen Bürgergesellschaft (Zivilgesellschaft), werden im simultan laufenden Entwicklungsschub staatsbürgerlicher V. und ökologischer Organisationen greifbar: Die Gefährdung des Weltfriedens, Unterentwicklung und Menschenrechtsverletzungen haben global zu einem Boom von Friedens-, Entwicklungshilfe- und Menschenrechtsorganisationen geführt, der sich auch in nationalen V.-Systemen niederschlägt. Zusätzlich mobilisierend wirkt die gewachsene Sensibilität der Bürgerschaft gegenüber politischen Missständen, insb. ablesbar an Antikorruptions- und Watch-Organisationen. Sinngemäß gilt das für den ökologischen Bereich, wo in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von Umwelt-, Natur- und Tierschutz-V.n neu entstanden ist.
In ökonomischer Hinsicht schließlich hat die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft Folgen, denn die Mehrzahl neu gegründeter Wirtschafts-V. vertritt Interessen des tertiären Sektors, wogegen die Zahl klassischer Agrar- und Industrie-V. zumeist stagniert oder sogar schwindet, wie etwa in der krisengeschüttelten Textilindustrie. Das Anwachsen der verbandlichen Gesamtzahlen geht also hier, wie anderswo auch, mit einer Gewichtsverschiebung zwischen den einzelnen V.s-Sektoren einher.
3. Verbände und Organisation
Diese Vielzahl moderner V. weist markante organisatorische Unterschiede auf. Juristische Personen (Unternehmen, Gebietskörperschaften, andere V. etc.) können ebenso V.s-Mitglied sein wie natürliche. Die variable territoriale Ausdehnung (Bundes-, Landes-, Kommunal-V. etc.) ist ebenfalls in Rechnung zu stellen. Und schließlich variiert auch die Art der Interessenrepräsentanz: V.s-Mitglieder vertreten oft nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern tun dies z. B. beim Tierschutz auch stellvertretend (advokatorisch) für andere.
Hinsichtlich der Mitgliedschaft dominiert dabei der aus natürlichen Personen zusammengesetzte V.: Die Masse beruflicher Standesorganisationen, Gewerkschaften, aber auch von Selbsthilfeorganisationen folgt diesem Muster. Demgegenüber spielen in Arbeitgebervereinigungen (Arbeitgeber-V.) die juristischen Personen in Form der Mitgliedsunternehmen eine maßgebliche Rolle, was je nach Unternehmensgröße auch zu großen Einflussunterschieden führt. Sinngemäß gilt dies auch für V. kommunaler Gebietskörperschaften (Gemeinden, Städte, Landkreise [ Kreis ] etc.). Jenseits dieser klassischen Mitgliedschaften kommen V. heute, US-amerikanischem Vorbild folgend, häufig auch ohne formelle Mitgliedschaft aus: Als sogenannte politische Unternehmen bestehen sie dann lediglich aus einer kleinen Stabsorganisation hauptamtlicher Funktionäre, die von einer Masse an Fördermitgliedern getragen wird, welche über keine vereinsrechtlich verankerten Mitgliedsrechte verfügen, sondern nach dem Beispiel von Greenpeace durch Spenden bzw. punktuelle Aktionen die Arbeit der Organisation unterstützen.
In struktureller Hinsicht ist von Belang, ob es sich dabei um einen klassischen Mitglieds-V. handelt, der die Interessen seiner Klientel unmittelbar vertritt, oder um einen Dach-V., der nach dem Muster des Bundesverbandes der Deutschen Industrie verschiedene Branchen-V. in sich vereint und sie damit gemeinschaftlich repräsentiert. Diese gerade unter deutschen Wirtschafts-V.n weit verbreitete Mehrebenenarchitektur hat durch die Herausbildung europäischer und auch globaler Dach-V. noch an Vielschichtigkeit gewonnen und spiegelt damit die Herausforderung innerverbandlicher Willensbildungsprozesse: Landes-V. müssen ihre Position im eigenen Bundes-V. durchsetzen, Branchen-V. in ihrem Dach-V., nationale Spitzenorganisationen in der europäischen bzw. globalen Dachorganisation. Regelmäßig führt das zu einem reduzierten Wirkungsgrad der Dach-V., denn sie können nur das vertreten, was unter ihren Mitgliedern konsensfähig ist. Klassische Mitglieds-V., die etwa in Form einer bestimmten Berufsgruppe wesentlich homogener zusammengesetzt sind, haben demgegenüber innerverbandliche Strukturvorteile.
4. Verbände und Staat
Diese verbandliche Organisationsvielfalt hat auch maßgebliche Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen V.n und dem Staat, die ebenfalls nicht pauschal qualifiziert werden können. Idealtypisch ist dabei zwischen pluralistischen (Pluralismus) und korporatistischen Beziehungsmustern zu unterscheiden. Die pluralistische Variante ist von einer ausgeprägten Konkurrenz der einzelnen V. untereinander geprägt, die um die Aufmerksamkeit des Staates und um die Berücksichtigung ihrer spezifischen Interessen ringen. Der öffentlichen Hand kommt hier gleichsam die Rolle eines über den Einzelinteressen stehenden Schiedsrichters zu, der nach eigenem Ermessen entscheidet, was zu berücksichtigen ist. Im Korporatismus dagegen steht der Staat in einem engen Austauschverhältnis zu einem überschaubaren Set an Dachorganisationen, welche die Interessenvielfalt bereits vorher gebündelt haben und somit die verbandliche Konkurrenz kanalisieren. Daraus erwächst ihnen dann ein wesentlich größeres Machtpotential gegenüber dem Staat, und deshalb entwickelt sich in diesem Fall auch ein verhandlungsorientiertes Verhältnis zwischen öffentlicher Hand und diesen Dach-V.n.
Beispielhaft für solch korporatistische Arrangements sind die Beziehungen zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeber-V.n und dem Staat in Deutschland: Die wichtigsten Branchengewerkschaften sind hier unter dem Dach des DGB ebenso vereint wie die Masse der Arbeitgeber-V. in ihrer Spitzenorganisation BDA. Seit Jahrzehnten werden deshalb arbeitspolitische Grundsatzentscheidungen zwischen dem Staat und diesen Dach-V.n eng abgestimmt. Phasenweise resultierte das sogar in der Einrichtung formalisierter Verhandlungsgremien wie der sogenannten Konzertierten Aktion der ersten Großen Koalition (1966–69) oder dem Bündnis für Arbeit unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders (1998–2005). Demgegenüber weist z. B. das deutlich jüngere Spektrum der Umwelt-V. nicht nur in Deutschland, sondern auch im internationalen Vergleich regelmäßig ausgeprägt pluralistische Konturen auf. Hier ist es nicht gelungen, sie in starken Dach-V.n zu formieren. Folglich ist umweltpolitische Interessenvertretung von einer starken zwischenverbandlichen Konkurrenz geprägt.
Diese markanten Unterschiede der Beziehungsmuster haben auch Folgen für das politische Funktionsspektrum der V. Denn in korporatistischen Szenarien bindet der Staat die repräsentativen Dach-V. auch deshalb in Verhandlungsarrangements ein, um ihnen zur eigenen Entlastung öffentliche Regulierungsaufgaben zu übertragen. Die deutsche Tarifautonomie ist hier ebenfalls beispielhaft, denn schon im GG ist das Recht von Arbeitgeber-V.n und Gewerkschaften zur eigenverantwortlichen Regulierung der Arbeitsbeziehungen festgeschrieben, was etwa in Frankreich noch unter maßgeblicher Direktive des Staates erfolgt. Daran wird auch erkennbar, warum korporatistische Arrangements beiden Seiten entgegenkommen: Nicht nur der Staat kann hier seine Aufgabenlast per Delegation verringern, sondern die involvierten V. erfahren dadurch einen signifikanten Machtzuwachs, denn zu den klassischen Funktionen der Interessenvertretung tritt dann eben noch die Aufgabe eigenverantwortlicher politischer Regulierung im Auftrag des Staates. In pluralistischen Szenarien ist letzteres naturgemäß kaum möglich, denn hier fehlen eben repräsentative Dachorganisationen, die sich für eine derartige Aufgabenübernahme eignen würden.
5. Herausforderungen
Diese komplexen Architekturen stehen vor mehreren Herausforderungen. Die erste liegt in der Motivation potentieller und aktueller V.s-Mitglieder selbst begründet: Soziale Individualisierung und gesteigerte Vielfalt der V. haben die Bereitschaft zur langfristigen Bindung an einen V. merklich reduziert, einmal mehr exemplarisch ablesbar am schwindenden Organisationsgrad von Gewerkschaften und Arbeitgeber-V.n: Unternehmen werden oft nicht Mitglied, um der Bindung an einen verbandlich ausgehandelten Flächentarifvertrag zu entgehen. Arbeitnehmer treten Gewerkschaften oft nicht bei bzw. aus ihnen aus, da sie als Trittbrettfahrer von den Tarifverhandlungen ohnehin profitieren, ohne selbst dazu einen Beitrag zu leisten. Zusätzlich verstärkt wird dieser Trend, wenn mehrere Konkurrenzorganisationen bestehen, zwischen denen die Klientel lavieren kann, wie etwa bei deutschen Umwelt-V.n. Nicht zuletzt deshalb konstituieren sich V. in ausgeprägt pluralistischen Szenarien verstärkt als politische Unternehmen ohne formelle Mitgliedschaft bzw. bieten weniger verpflichtende Formen und zusätzliche Serviceleistungen an, wie etwa die Mitgliedschaft in deutschen Arbeitsgeber-V.n ohne obligatorische Bindung an den jeweiligen Flächentarifvertrag bei gleichzeitiger Hilfestellung beim Aushandeln eines unternehmensspezifischen Hausvertrags.
Unter Druck geraten die klassischen V. aber auch durch kommerzielle Formen der Interessenvertretung: Unternehmensberatungen, Public Affairs-Agenturen und spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien bieten inzwischen ein breites Portfolio lobbyistischer Leistungen (Lobby) an, die von ihren Klienten auftragsspezifisch gebucht werden können. Oftmals wird dann eine Mitgliedschaft in V.n für unnötig erachtet. Es ist dabei kein Zufall, dass diese Interessenvertretungsoption im Zuge der europäischen Integration (Europäischer Integrationsprozess) stark an Bedeutung gewonnen hat: Denn das politische Mehrebenensystem der EU hat auch Rückwirkungen auf die V., die ihre Strukturen daran anpassen müssen. Die so entstehende Mehrebenenarchitektur aus europäischem Dach-V., nationalen V.n, regionalen und kommunalen Untergliederungen ist kostspielig und zugleich bei der internen Meinungsfindung schwierig zu steuern. Für global agierende Interessenverbünde gilt dies naturgemäß noch mehr. Unter diesen Bedingungen wächst die Neigung zum Austritt bzw. die Aversion gegen eine Mitgliedschaft. Um zukunftsfähig zu bleiben, müssen V. gerade diese Herausforderungen meistern.
Literatur
J. M. Berry/C. Wilcox: The Interest Group Society, 62018 • D. Halpin: The Organization of Political Interest Groups, 2015 • W. Reutter (Hg.): Verbände und Interessengruppen in den Ländern der Europäischen Union, 2012 • T. von Winter/U. Willems (Hg.): Interessenverbände in Deutschland, 2007 • M. Sebaldt/A. Straßner: Verbände in der Bundesrepublik Deutschland, 2004 • A. Zimmer/E. Priller (Hg.): Future of Civil Society. Making Central European Nonprofit-Organizations Work, 2004 • H.-P. Ullmann: Interessenverbände in Deutschland, 1988 • M. Sebaldt: Organisierter Pluralismus, 1997.
Empfohlene Zitierweise
M. Sebaldt: Verbände, II. Politikwissenschaftlich, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Verb%C3%A4nde (abgerufen: 25.11.2024)