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Version vom 14. November 2022, 05:56 Uhr
I., die Eindeutschung des englischen Ausdrucks für Wechselwirkung, ist ein Grundbegriff der Soziologie und meint eine zwischenmenschliche Begegnung oder durch Handeln (Handeln, Handlung) vermittelte, soziale Beziehung zwischen Individuen. Unterschieden wird zwischen face-to-face- und symbolisch (nicht notwendigerweise technisch) medialisierten I.en. Face-to-face-I.en bilden die Grundlage für authentische Gemeinschaftserlebnisse, medialisierte I.en für anonyme Erfahrungen von Gesellschaft etwa in Gestalt von institutionalisierten Rollen (soziale Rolle). Der sog.e symbolische Interaktionismus im Anschluss an den zu den amerikanischen Pragmatisten zählenden Sozialphilosophen George Herbert Mead hat großen Einfluss genommen auf Theorien und Methoden der qualitativen und sinnverstehenden Soziologie.
Der symbolische Interaktionismus thematisiert die performative Erzeugung von Sozialität durch wechselseitige Rollenübernahme. Neben die empirischen Regelmäßigkeiten treten die Kultur und Gesellschaft konstituierenden Regeln. Regeln erklären nicht wie stochastische Gesetze (wahrscheinliche) Faktizität, sondern (zwingende) Sinngeltung der Phänomene und eröffnen einen autonomen Wirklichkeitsbereich. Der Begriff der Wechselwirkung erlaubt eine Erklärung strukturaler oder systemischer Selbstreferenz und Selbststeuerung und damit die Übersetzung subjektiver Reflexionsleistungen eines singulären Bewusstseins in objektive Systemeigenschaften von Funktionssystemen. Der subjektiv gemeinte Sinn scheint übersetzbar in Ludwig Wittgensteins sprachphilosophisches Konzept „einer Regel folgen“ (Wittgenstein 2001: § 199).
I., also „Einverständnishandeln“ im Sinne Max Webers (Weber 1988: 456), findet nach G. H. Mead, später bei Bruno Latour, auch zwischen Menschen und Dingen, aber stets in Bezug auf eine Sache (griechisch „pragma“, daher Pragmatismus), d. h. Problemlösung statt. Die aus Selbsterhalt eingegangene Umweltbeziehung steht damit unter dem Primat der Selbstthematisierung. Talcott Parsons knüpft hier an, wenn er im Unterschied zu M. Weber den Handelnden sich nicht nur am Verhalten anderer, sondern an dessen Erwartungen orientieren lässt. Voraussetzung für ein solches Hineinversetzen in den anderen ist ihm die symbolisch-zeichenhafte Vermittlung von Werten, die letztlich die Beziehung regeln. Damit ist die Orientierung am anderen zugl. eine Integration in die Gesellschaft und die Reaktion auf den anderen eine positive oder negative Sanktionierung seines Handelns. Die Begriffe Handlung, I., Kommunikation markieren wissenschaftliche Ansätze mit je unterschiedlichen Vorstellungen von Gesellschaft. In der Handlungstheorie M. Webers wird „Gesellschaft“ im Sinne Kants als „Kollektivbegriff“, d. h. als substantielle Realität abgelehnt und nur unterschiedliche Typen der „Vergemeinschaftung“ oder „Vergesellschaftung“ (Weber 1920: 6 f.) als Wirkungen von in Formen sozialer Beziehungen auf Dauer gestellter, an solitärem Sinn orientierter Handlungen anerkannt. Im Interaktionismus ist Gesellschaft ein ewiger Kampf um soziale Anerkennung vergegenständlicht in Rollen und Normen. In der Systemtheorie wird Gesellschaft schlicht selbstreferentielle Kommunikation in einer multiperspektivischen Welt von Beobachtern.
Handeln ist geleitet durch das Motiv einer Akteurmonade und bleibt selbst als soziales Handeln an das Verstehen des subjektiv gemeinten Sinns des jeweils anderen geknüpft. I. ist dagegen durch eine wechselseitige Orientierung an Erwartungserwartungen und sozialen Regeln bestimmt. Pragmatismus und phänomenologisch aufgeklärte Wissenssoziologie sehen in der individuellen oder kollektiv-konsensuellen Problemlösung als Aufhebung handlungsblockierender Krisen den Motor des sozialen Prozesses, die Systemtheorie dagegen gerade in der Unwahrscheinlichkeit gelingender Verständigung.
Das von M. Weber überkommene Verständnis von Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft hängt am Begriff des Handelns. Kommunikation – häufig nicht von I. unterschieden – wird dagegen als Grundbegriff eines Sozialkonstruktivismus betrachtet. Die phänomenologische Analyse löst diesen Gegensatz auf. Handlung ist Entwurf, Vollzug sowie deren Erleben, kurz Sinnsetzung, die sich in den Dimensionen der Externalisierung, Objektivierung, Habitualisierung und Institutionalisierung zuträgt. Der Begriff der Handlung erklärt Sinnkonstitution im formellen protosozialen Sinne, Kommunikation die historisch konkrete Bedeutungskonstitution (etwa im Sinne eines „Diskurses“ oder „historischen Apriori“), I. die Objektivierung des Sinnes als soziale Konstruktion. Sinn bezieht sich auf ein innerpsychisches, subjektives Erleben, Bedeutung auf ein äußeres, intersubjektiv-gültiges und insofern objektives Deutungssystem. Solche Semantiken sind an Verstehensprozesse gebunden und fundiert im Sinnerleben.
Mit Thomas Luckmann lassen sich drei Formen des Handelns unterscheiden: Arbeit, I., Kommunikation. Arbeit ist erstens „formell“ Handeln schlechthin, d. h. sowohl ein Akt des Denkens als auch des Wirkens, zweitens „materiell“ ein inhaltlich konkret bestimmtes, nämlich vorentworfenes, in die Umwelt eingreifendes, Wirklichkeit erzeugendes und veränderndes, somit den Handelnden selbstverwirklichendes Handeln sowie drittens „sozialgeschichtlich“ ein ökonomischer, nicht durch die Bedürfnisbefriedung unmittelbar, sondern durch die gesellschaftliche Organisation der Arbeitsteilung und den Markt vermittelter Sinn (Luckmann 2002: 92 f.). In der face-to-face-I. erleben die Akteure nicht nur unmittelbar ein sprachliches Ereignis, sondern auch das Verhalten des jeweils anderen in der Situation. In dieser geteilten Erfahrung ist der Sinn objektiv gegeben. Die Sprache „hebt“ (Luckmann 2002: 187) die Reziprozität der Perspektiven, die in der gemeinsamen Handlung durch das Sich-Versetzen in die Rolle des anderen angelegt ist, ins Bewusstsein und macht sie reflexiv verfügbar. Face-to-face-I.en vermitteln authentisch erlebten Sinn, ja authentifizieren anonymen, durch Traditionen und Institutionen weitergebenen, in Erfahrungen signifikanter oder generalisierter anderer fundierten, sozialen Sinn. Kommunikative Akte sind soziale Handlungen, also Sinnsetzungen und Sinndeutungen, die in quasi-idealen Zeichensystemen historische, über die konkrete Intersubjektivität zwischenmenschlicher Beziehungen hinausreichende Gestalt, damit allg.en Sinn für den Akteur gewinnen.
Oft wird I. mit Kommunikation generell oder bei Niklas Luhmann mit Kommunikation unter Anwesenden gleichgesetzt. Medienvermittelte I.en und Kommunikationen erhalten in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften immer größere Bedeutung, können aber den subjektiv gemeinten und in face-to-face-I.en gemeinsam erlebten und ggf. kommunizierten Sinn nicht ersetzen. Nur in face-to-face-I.en kann Intersubjektivität als geteilte Wirklichkeit erlebt werden.
Literatur
T. Luckmann: Wissen und Gesellschaft, 2002 • L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 2001 • B. Latour: Nous n’avons jamais été modernes, 1991 • M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1988 • N. Luhmann: Soziale Systeme, 1984 • T. Parsons: The Social System, 1951 • G. H. Mead: Mind, Self, and Society, 1934 • M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 1920.
Empfohlene Zitierweise
D. Tänzler: Interaktion, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 online, URL: https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Interaktion (abgerufen: 21.11.2024)